Die Bedeutung von Schicksal
Xander
Wenn noch irgendein Funken an Verzweiflung in ihm übrig wäre, dann würde er jetzt vermutlich schon wieder heulen. Aber da ist nichts mehr in ihm übrig, also lässt er es bleiben. Streng genommen weiß er auch nicht ganz sicher, worüber er eigentlich weinen würde. Vielleicht über sich, oder Jesse oder die ganze Situation selbst. Sein Herz rast noch immer, als er um die nächste Straßenecke biegt und sich gegen die Hauswand lehnt. Die kalte Nachtluft brennt in seinen Lungen. Erschöpft legt er den Kopf in den Nacken. Er hat Jesse geküsst. Er hat Jesse wirklich geküsst! Und es hat sich genau richtig angefühlt. In seinem Magen kribbelt es. Das war so gut. Und dieses Hochgefühl ist alleine bei dem Gedanken an den jungen Mann mit den viel zu grünen Augen zurück. Aber Jesse ist verlobt und auch wenn er wirklich glaubt, – wenn er wirklich glauben will – dass Jesse ihn wirklich mag, will er nicht alles kaputt machen, was der Ältere sich aufgebaut hat. Das ist zu diesem Zeitpunkt natürlich ‚ne wirklich glorreiche Feststellung. Weil er das vielleicht schon längst getan hat. Jesse war allerdings ja selbst nicht ganz unbeteiligt. Es ist so surreal, fast erscheint es ihm so, als wäre ihre Begegnung nur ein Traum gewesen. Wenn man ehrlich ist auch wirklich kein Wunder. Was passiert ist und was Jesse für ihn getan hat, geht doch eigentlich gegen jede Vernunft und gegen den Verstand. Dieser Tag im November hat einfach alles verändert. Alles woran Xander geglaubt hat, alles woran er glauben wollte. Wenn er Jesse unter anderen Umständen begegnet wäre, vielleicht hätte es dann eine Chance für sie gegeben? Er muss gerade daran denken und jegliches Hochgefühl ist verschwunden. Jesse zu begegnen war das Beste und Schlimmste was ihm jemals passieren konnte. Zumindest fühlt es sich gerade so an. Wäre er ihm nie begegnet, könnte er jetzt nicht alles was mit dem Älteren zu tun hat vermissen. Gleichzeitig hat ihn noch nie ein Mensch so fasziniert. Wann immer Menschen ihm etwas bedeutet haben, haben sie ihn verlassen. Dies Mal ist es anders. Egal was Jesse zu ihm gesagt hat, er hat ihn gesucht. Er hat ihn nicht einfach allein gelassen. Vielleicht hätte er sogar abermals versucht ihm zu helfen, wenn Xander die Worte gefunden hätte, ihm die Situation zu erklären. Zu spät. Dieses Mal kappt er die Verbindung und dabei er wollte noch nie etwas so sehr, wie in Jesses Nähe sein. Die Chancen darauf gehen jetzt aber gen null. Und selbst wenn. Die Tatsachen bleiben bestehen. Jesse ist verlobt und er nur irgendein Junge von der Straße.
Und außerdem bleibt da ja noch ein weiteres Problem. Ihm bricht der kalte Schweiß aus, als er an Raynolds denkt. Zu Jesse hat er gesagt, dass er sich endlich um den Scheiß kümmern muss. Aber das war gelogen. Er kann sich nicht darum kümmern. Weglaufen kann er allerdings auch nicht mehr. Und dann ist sie doch wieder zurück, diese verdammte nagende Verzweiflung. Und ihm fällt nur eine einzige Möglichkeit ein, diese Verzweiflung zu beenden. Eine Methode alles zu vergessen. Zumindest für den Moment. Er beißt sich auf die Lippen. Er darf eigentlich nicht daran denken, Wirklich nicht. Zu spät. Plötzlich nimmt er das Geld in seiner Hosentasche fast schon erdrückend wahr. 25 Dollar sind vielleicht gerade genug für diesen Zweck. Er kann es einfach tun. Er wird es tun. Ohne weiter darüber nachzudenken macht er sich auf den Weg. Er muss nicht suchen. Er weiß genau, wo er an Stoff kommt. Scheiße, flüstert die Stimme in seinem Kopf die normalerweise dafür sorgt, dass er eine Dummheit nach der anderen begeht. Scheiße, du tust es schon wieder. Sie klingt übertrieben moralisch und Xander drängt sie zurück. Das hier ist gerade überaus bescheuert.
Er kann Clemens nirgendwo entdecken, als er im Viertel ankommt. Fuck off. Egal. Er sieht gar kein bekanntes Gesicht. Vielleicht gab es eine Razzia. Wie auch immer. Dann eben jemand anderes. Das Zeug kann theoretisch immer gestreckt sein. Er überlegt. Kauft er ein Viertelgramm, reicht es für deinen verdammt guten Schuss, kauft er ein halbes, hat er länger was davon. Der Dealer nennt zunächst einen eigentlich viel zu hohen Preis. Für den Dealer muss er wie ein Anfänger aussehen, dem man noch ordentlich Geld aus der Tasche ziehen kann, weil er es nicht besser weiß. Und wie er es besser weiß. Das macht er dem Kerl auch klar. Hier stehen genug Leute rum. Er kriegt sein Zeug auch woanders. Zu einem besseren Preis. Das zieht. Sie einigen sich auf 20 Dollar. Das H ist braun. Klar, white nurse ist nicht in seinem Budget. Aber auch das ist ihm egal. Er will einfach nur vergessen. Dafür reicht es locker und zu reines Zeug ist mindestens so schlimm wie gestrecktes. Kaum hat er es in den Fingern wird er nervös. Seine Hände zittern und das Blut rauscht in seinen Ohren. Adrenalin pumpt durch seinen Körper. Er ist sich nicht sicher, ob er gerade Angst oder Vorfreude empfindet. Aber er braucht noch Besteck. Streng genommen könnte er das braune Pulver auch durch die Nase ziehen, aber mit der Kleinscheiße fängt er gar nicht erst wieder an. Außerdem braucht er einen wirklichen Kick. Jetzt. Damit alles einfach aufhört. In der nächsten Apotheke bekommt er sicher ohne Probleme eine Spritze. Dafür sollte das Kleingeld noch reichen. Er tastet danach. Statt des Geldes zieht er eine leere Bonbondose und den kleinen Zettel aus der Tasche. Den Zettel mit James Nachricht. Er lässt das Papier fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Und obwohl er es nicht sollte, tastet er schon eine Sekunde später am Boden wieder danach. Er starrt die Zeilen an. Er kann herausfinden, was James von ihm will. Er könnte es vielleicht sogar ein für alle Male beenden. Mit einem Mal ist der Achtzehnjährige ganz ruhig. Er kann es ein für alle Mal beenden. Er könnte danach frei sein! Wenn er nur nicht so einen Schiss hätte. Das H in seiner Tasche schreit förmlich seinen Namen. Ruft nach ihm. Xander schüttelt über sich selbst den Kopf und stopft das feuchte und dreckige Stück Papier zurück in seine Hosentasche. Dann läuft er so schnell er kann zur nächsten Apotheke. Besorgt sich die Spritze. Der scheiß Alte hinter dem Tresen hat ihn angestarrt wie einen Aussätzigen, als er ihm die Spritze ausgehändigt hat. Er kann sich wohl denken, wofür Xander die haben wollte. Gut, in Verbindung mit dem Natron auch echt kein Wunder. Wer nur diese zwei Sachen auf seiner Einkaufsliste hat, der kann nur einen Plan verfolgen. Nicht sein Problem. Soll der Typ doch denken was er will. Aber warum fühlt er sich nur so verdammt ertappt? Als er aus dem Geschäft tritt, blickt er direkt auf die Werbereklame irgendeines Handyherstellers. Oder Obsthändlers. Bei dem Logo schwer zu sagen. Es ist auch nicht die Reklame, die seinen Blick gefangen nimmt. Es ist die Anzeige der Digitaluhr in der oberen Ecke des Banners. Es ist fünf Minuten vor Zwölf. Fünf Minuten vor Mitternacht. Er ist nicht besonders weit weg von dem Treffpunkt. Er könnte immer noch … Nein, das wird er nicht tun. Er wird sich schlichtweg eine Stille Ecke suchen und dann wird er vergessen. Einfach vergessen. Er macht sich auf dem Weg. Er hat kein bestimmtes Ziel. Einfach fort von dem – selbst um diese Uhrzeit – noch viel zu belebten Straßen. Manhattan schläft nie. Er weiß, dass er das in der Nacht gedacht hat, in der er hier angekommen ist und er denkt es noch immer. Und er weiß bis heute nicht, ob er diese Tatsache hasst oder liebt. Das Adrenalin ist nicht zurückgekommen. Er ist noch immer ganz ruhig. Vielleicht so ruhig wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er bahnt sich seinen weg. Beständig. Und letztlich muss er sich eingestehen, er hat doch ein Ziel. Die Brücke die er aufgesucht hat, ist kein Zufallsprodukt. Er sollte weglaufen, doch während er in den Schatten der Überführung tritt weiß er es bereits besser. Dafür ist es längst zu spät. Aus der Dunkelheit heraus tritt ihm Raynolds entgegen.
„Da bist du ja endlich, Kleiner“, seine Stimme trieft praktisch vor Überheblichkeit.
Xander geht ganz automatisch wieder einen Schritt zurück.
„Was willst du eigentlich von mir?“, zischt er. Es klingt so aggressiv, wie er gehofft hat. Innerlich würde er aber lieber schreien und weglaufen.
„Na, wieso hast du’s denn so eilig? Wir haben doch die ganze Nacht.“
Xander ballt die Hände zu Fäusten.
„Ich bezweifle stark, dass ich so lange bleiben werde.“
„Oh, keine Sorge. Ich bin mir sicher, dass du so lange bleiben wirst.“
Wieder dieses Grinsen. Xander sollte Angst verspüren, aber er tut es nicht. Es widert ihn nur an. Noch immer ist er überraschend ruhig, selbst als Raynolds einige Schritte auf ihn zumacht. Er bleibt wo er ist und unterdrückt das Bedürfnis sich aus dem Staub zu machen. Doch als Raynolds an seinen Hosenbund greift und Xander den Halfter erkennt, in dem seine Dienstwaffe steckt, da bekommt er es mit der Angst zu tun. Er weicht doch zurück. Kann den Reflex nicht weiter unterdrücken.
„Aber, aber. Nicht doch.“ Schnalzt James und legt die Waffe nieder. Auf den Boden genau zwischen ihnen.
„Weißt du Alexander, wir wollen doch jetzt ein bisschen reden.“
Xander schüttelt den Kopf.
„Natürlich wollen wir das. Sonst wären wir doch nicht hier“
Gott, wieso kann dieser Wichser sich dieses verdammte scheiß Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen. „Und die Waffe?“, fragt Xander. „Ist die etwa Deko?“
„Oh die…“, Raynolds macht eine Pause als wäre sie ihm gerade erst aufgefallen. „Es steht dir natürlich frei sie dir zu nehmen. Du wirst sie ohnehin noch brauchen.“
Xander zeigt diesem Arsch den Vogel.
„Geht’s noch?“, will er wissen.
James kneift die Augen zusammen. Xander kann sehen, dass er sich darum bemühen muss, die Beherrschung nicht zu verlieren.
„Ich erkläre dir jetzt die Spielregeln und du hörst gefälligst zu, du kleiner Bastard“, zischt er – es klingt genau wie vor fünf Jahren. Dann fährt er fort „Wir werden reden. Das heißt: Ich werde reden und du wirst zuhören. Und am Ende kannst du dich entscheiden. Dafür ist die Waffe. Du kannst mich erschießen, mich richten, für all die ach so schrecklichen Dinge, die ich getan habe. Oder du kannst deiner eigenen erbärmlichen Existenz ein Ende bereiten. Meinetwegen auch beides. Oder du lässt es ganz bleiben, weil du dich nicht traust. Verstanden?“
Xander starrt auf die Waffe am Boden.
„Was?“, fragt er irritiert. „Warum sollte ich das tun?“
„Bist du etwa genauso schwer von Begriff, wie dein alter Sack?“
„Ich bin nicht wie mein Vater und ich bin auch nicht schwer von Begriff, verdammt!“, ruft Xander zornig.
„Ach nein? Dann hast du jawohl verstanden, was ich von dir will! Heute Nacht werden wir ein für alle Mal Recht und Schuld klären. Du wirst die Waffe brauchen, glaube mir.“
„Selbst wenn, ich bin doch nicht deine Spielfigur!“
Raynolds lacht. Er lacht aus vollem Halse und hält sich sogar den Bauch. „Du warst doch nie etwas anderes.“
Dann richtet er sich wieder auf.
„Und noch immer das vorlaute Balg von damals. Aber sobald ich dir auch nur einen Schritt zu nahe komme“, er kommt demonstrativ auf Xander zu der abermals zurückweicht „fängst du wieder an zu heulen wie ein kleines Kind.“
Xander beißt die Zähne zusammen. Dieses Arschloch will ihn doch nur provozieren.
„Diesen Scheiß muss ich mir wirklich nicht geben“, spuckt er förmlich aus.
„Stimmt. Das musst du nicht. Aber findest du nicht, dass es Zeit für die Wahrheit wird? Für die ganze Wahrheit?“
„Die ganze Wahrheit?“
„Willst du nicht wissen, wieso die Dinge gelaufen sind, wie sie gelaufen sind? Willst du nicht wissen, warum du nie etwas anderes warst, als ein Teil meiner persönlichen Rache? Ist es nicht Zeit, dass du auch endlich ehrlich zu dir selbst bist? Nun, ich verspreche dir, bei Sonnenaufgang werden all diese Fragen geklärt sein. Heute geht es um unser Schicksal.“
Und Xander weiß das er gehen sollte. Spätestens jetzt. Persönliche Rache? Dieses Monster ist durchgeknallt. Er weiß auch, dass er gar nicht erst hier hätte auftauchen dürfen. Aber er kann sich nicht von James losreißen, der zu erzählen begonnen hat. Er kann es nicht und er will es auch nicht.
Es ist fast wie eine Reise in die Vergangenheit und zunächst kommt Xander nicht umhin sich zu fragen, wo dieses Gespräch sie eigentlich hinführen soll. Aber er begreift schnell, dass James in diese andere Zeit bei seiner Erzählung versinkt und Xander ertappt sich beinahe dabei, es ebenso zu tun. Die erste Person von der er spricht, ist ironischer Weise seine Mutter. Desto länger Xander James zuhört, umso mehr spürt er die Zuneigung, die dieser ihr gegenüber empfunden haben muss. James ist in einem Heim aufgewachsen. Ohne etwas über seine eigene Familie zu wissen. Immer alleine. Es war wohl eine Einrichtung in der die Angestellten ganz offensichtlich mit der Betreuung und Erziehung der Kinder überfordert waren. Xander erschaudert, als er feststellt, dass James Stimme belegt ist. Es war die Hölle. Er sieht es in den grauen Augen, die plötzlich wie versteinert einen Punkt in der Ferne fixieren. Und es macht ihm Angst. Gott, es macht ihm solche Angst. James hat als Kind wahnsinnig gelitten, er kann den Schmerz förmlich in seinen Augen sehen und dennoch ist er dieses Monster das vor ihm steht und Xander kann es nicht fassen. Er war zehn, vielleicht elf, als er seine Mutter kennengelernt hat. Cara war seine erste und einzige Freundin. James ist ein ziemlicher Außenseiter als Teenager gewesen. Fast klingt es ein bisschen so, als wären er und Xander sich in mancherlei Hinsicht ähnlich gewesen, aber Xander weigert sich das zu glauben. Doch dann musste James Cape May verlassen. Es gab da plötzlich einen Verwandten. Einen Onkel der ihn zu sich holte. James spuckt seinen Namen regelrecht aus. Die Abscheu, diesem Mann gegenüber ist in der Luft spürbar. Sein Onkel war als Soldat in Vietnam. Ein harter Hund. Offensichtlich glaubte er, James müsse Disziplin lernen, um im Leben zurecht zu kommen. Und ganz offensichtlich weiß Xander nun, wo James seine Disziplinarverfahren her hat. Es schaudert ihn. Plötzlich aber verändert sich Raynolds Gesichtsausdruck, ebenso sein Tonfall.
„Aber weißt du, eine wertvolle Lektion hat mir dieser Mann beigebracht, erst wenn wir bis aufs Letzte erniedrigt werden, erkennen wir die Nichtigkeit unserer eigenen Existenz und Schmerz, physisch wie psychisch, ist die einzig wirksame Strafe.“
Seine Augen fixieren Xander, sein Blick ist fanatisch. Die Nichtigkeit unserer Existenz. Xander schüttelt den Kopf. Der Kerl ist doch völlig verrückt.
„Und was hat der ganze Scheiß jetzt mit mir zu tun? Tut mir ja leid, dass dien Selbstbild offensichtlich ruiniert ist, aber das ist doch nicht mein Problem!"
James sagt mit bestimmter Stimme: „Das erfährst du schon noch. Deine vorlaute Klappe kannst du dir sparen. Hör einfach zu."
James ist erst nach Cape May zurückgekommen, als er volljährig war und seinen Schulabschluss in der Tasche hatte. Nur für Cara, sagt er.
„Und sie wollte mich auch vom Zug abholen. Denn sie hat mich genauso vermisst, wie ich sie. Sie hat gesagt sie wartet auf mich. Ihre Versprechen hat sie immer gehalten.“ James blickt in den sternenlosen Nachthimmel. Xander fragt sich, was in ihm vorgeht.
„Und an diesem Tag Mitte Mai? Da hat sie mich versetzt. Und wegen wem? Wegen ihrem tollen neuen Freund.“, er knurrt mehr, als das er spricht. „Ach, er hat ihr ja versprochen sie rechtzeitig Zuhause abzusetzen, aber sie waren ja so beschäftigt auf dem Jahrmarkt." Der Jahrmarkt in Cape May. Immer Mitte Mia. Das Frühjahrsfest. Daran erinnert Xander sich. Er wusste aber nicht, dass es den schon gab, als seine Mutter noch ein Teenager war. „Ich habe stundenlang auf sie gewartet", sagt er zornig.
Xander schnaubt. „Ist das dein Problem? Weil meine Mutter dich, vielleicht frisch verliebt, einmal versetzt hat? Was ist bloß falsch bei dir?", will Xander wissen.
„Einmal? Einmal versetzt? Dein scheiß Vater hat sie mir weggenommen. Egal wann Cara und ich uns getroffen haben, immer hat er dazwischen gefunkt. Und behandelt wie den letzten Dreck hat er sie und doch ist sie bei ihm geblieben!"
„Mein Vater …?"
Natürlich, wer sonst. Langsam wird es ihm klar.
„Und der aller größte Hohn? Der Kerl hat auch noch so getan, als wären wir die allerbesten Freunde. Weil wir ja so viel gemeinsam haben. Sogar die gleiche berufliche Laufbahn haben wir eingeschlagen. Das ich nicht lache. Dieser Mistkerl. Wegen Cara bin ich zur Polizei. Um sie vor Alex diesem Monster zu beschützen. Ich wusste vom ersten Tag an, dass er sie ins Verderben stürzen würde. Aber sie war ja dermaßen verblendet. Mit ihrer rosaroten Brille."
Xander kann nicht glauben, was er da gerade hört. Sein Vater hat James immer als Freund betrachtet, mit ziemlicher Sicherheit. Und dieser Arsch hasst seinen Vater bis aufs Blut. Ja, das kann er in seinen Augen sehen. Es fällt auch schwer das zu übersehen. Selbst ein Außenstehender muss das Feuer in Raynolds Augen lodern sehen. Mit einem Mal packt ihn die Wut.
Eifersucht? Ist das wirklich alles. Mag ja sein, dass seine Mutter James wichtig war, aber sie kann lieben, wen sie will und tun und lassen was sie will. Sie war James gegenüber nie zu irgendetwas verpflichtet und wenn dieser Kerl das nicht verstehen kann, dann ist er verdammt früh in seiner Entwicklung stehen geblieben. Natürlich. Sein Vater hat Fehler ohne Ende gemacht. Fehler die auch Xander ihm nicht verzeihen kann. Und doch ist er sich sicher, seine Mutter hat seinen Vater sicher geliebt. Irgendwann Mal. Zumindest am Anfang. Das glaubt er zu wissen.
„Sie hat ihn einfach geliebt, verdammt nochmal und es ist nicht dein scheiß Job darüber zu richten. Kapiert?
Raynolds lacht höhnisch, bevor er wütend erwidert.
„Liebe? Was weißt du denn schon von Liebe? Du hast doch nicht die geringste Ahnung."
„Und du kannst das entscheiden, ja?" Er denkt unweigerlich an Jesse.
„Ich habe geliebt. Ich habe Cara mit Haut und Haaren, mit Herz und Seele geliebt! Und du? Nicht einmal dein eigener Vater war fähig dich zu lieben und du glaubst, du verstehst etwas von Liebe?"
Xander ballt die Hände zu Fäusten. Er kneift die Augen zu, versucht das was James gesagt hat nicht weiter an sich heranzulassen. Es stimmt nicht. Kein Wort.
„Du hast Cara geliebt?", fragt er wutentbrannt. „Aber gekannt hast du sie offensichtlich nicht! Sie hat meinen Vater geliebt, sie hat es oft genug gesagt und es auch so gemeint, sonst hätte sie sich dabei nicht die Augen aus dem Kopf geheult. Sie und mein Vater wollten gemeinsam eine Familie sein. Sie ist nicht gegangen, weil sie uns nicht geliebt hat. Sie ist gegangen, weil sie einfach nicht weiter unter der Situation leiden wollte!"
„Schwachsinn", schreit Raynolds beinahe.
„Sie ist gegangen, weil sie ihre Familie nicht geliebt hat. Du warst doch gar nicht geplant. Sie wollte raus. Sie hat sich neu verliebt. Sie hat es mir doch am Telefon gesagt! Und ich war es, der sie bei Nacht und Nebel abgeholt und da rausgeholt hat. Ich war es, der sie aus ihrem Martyrium befreit hat, nachdem ihre Eltern mit ihr gebrochen hatten und Alex sie fast jeden Tag verprügelt hat!". Die Wut in der Stimme wird zur Verzweiflung. Xander kann sich kaum an seine Großeltern erinnern, als Kind war er vielleicht zwei Mal da. Aber dieser Satz lässt ihn etwas ganz anderes begreifen.
„Und als sie dich angerufen hat, ihren besten Freund, und gesagt hat, dass sie sich neu verliebt hat, da hast du geglaubt sie meine dich. Du hast sie geliebt. Vielleicht sogar mit jedem Tag mehr. Und dann meldet sie sich bei dir, du hilfst ihr, bist für sie da. Doch letztlich warst es nicht du, den sie meinte", stellt er nüchtern fest. Und schon in dem Moment in dem er es sagt, kann er sehen, wie verletzt Raynolds ist und er weiß, dass er Recht hat.
„Sie hat es einfach nicht begriffen.", Raynolds schreit schon wieder. Sein Gesicht ist Wut und Schmerz verzerrt, als leide er Höllenqualen.
„Satt zu verstehen, dass ich sie nie verletzen würde, hat sie sich diesen schmierigen Anwalt angelacht. Einen Witwer. Diesen Armstrong. Sie können ja eine Patchwork Familie sein. Sie hat mich schon wieder verlassen. Aber deinen Vater, mit dem sollte ich reden. Ich bin ja schließlich dein Pate. Also sollte ich auf Alex einreden, damit sie dich mitnehmen kann. Weil es das Beste für alle wäre. Nachdem sie auf meinem Herz herum getrampelt ist, war das alles was sie noch von mir wollte und als ich es nicht getan habe, hat sie alle Verbindungen gekappt."
Xander kann ihn nur noch fassungslos anstarren.
„Ist es das?" fragt er. „Ist das der Grund, warum du mir das Leben zu Hölle gemacht hast? Weil meine Mutter dich nie geliebt hat?"
„Sie hätte mich geliebt", wiederspricht Raynolds ihm grollend „Wenn dein Vater nicht gewesen wäre. Wenn sie nicht mit dir schwanger gewesen wäre! Wenn du nicht gewesen wärst! Du hast alles kaputt gemacht!"
Entrüstet schüttelt Xander den Kopf. „Das ist doch Unsinn! Wenn sie dich geliebt hätte ..."
Raynolds schneidet ihm das Wort ab: „Sie hat mich beinahe geliebt!" Er behauptet es vehement und Xander begreift, dass es egal ist, was er sagt. Raynolds mag einmal ein einsamer Jugendlicher gewesen sein, der es nicht geschafft hat, seine unerfüllte Jugendliebe zu überwinden. Aber jetzt ist er nur noch ein fanatischer mitvierziger, der nie über den Entwicklungsstand eines Teenagers hinaus gekommen ist. Es ist fast schon traurig. Wenn dieser Mann nicht so durch und durch von Hass zerfressen wäre, dann hätte Xander ihn vielleicht verstehen können.
„Du bist verückt.", stellt er ohne jeglichen Spott fest.
Raynolds geht darauf gar nicht ein. Kann sein, dass er es auch nicht gehört hat. Oder es nicht hören wollte.
„Ich war ihr nicht gut genug.“ murmelt er plötzlich. „Ich war einfach nicht gut genug. Sie hat mich zurückgelassen. Mit diesem Alexander. Und mit diesem Jungen. Damit sein Gesicht mich jeden Tag an sie erinnert", flüstert er plötzlich verzweifelt. Xander merkt, dass es nicht das erste Mal in diesem Gespräch ist, dass er mit sich selbst spricht. Unweigerlich hat er das Gefühl James weiß selbst nicht mehr, was er da eigentlich sagt. Er wirkt als würde er mit jeder Sekunde mehr durchdrehen. Xanders Angst nimmt immer weiter ab. Dieser Mann vor ihm hat kaum noch etwas mit dem Dämon seiner Kindheit zu tun. Was nicht heißt, dass er irgendeine Form von Mitgefühl für diesen Kerl empfindet. Es ist mehr eine erschreckende Feststellung, welch gescheiterte Existenz dieser Mann ist, der ihm Jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hat. Gerade bleibt nur eine einzige Erkenntnis: Dieses Gespräch ist völlig sinnlos. Er hätte es sich ebenso gut sparen können und ihm wäre nichts Wichtiges in seinem Leben entgangen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Was genau erwartet Raynolds heute Nacht von ihm? Eine Absolution, gar Vergebung? Oder geht es ihm um etwas ganz anderes?
War Raynolds gerade noch in sich zusammengesunken, richtet er sich nun wieder Kerzengerade auf. Dieser Typ hat zwei Gesichter, stellt Xander fest. Denn nun ist seine Stimme schneidend kalt, als er Xander auffordert:
„Und was ist mit dir? Zeit für die Wahrheit."
„Ich habe keine Ahnung wovon du sprichst. Was bezeichnest du überhaupt als Wahrheit? Deine Anekdoten aus vergangenen Tagen interessieren mich ehrlich gesagt einen Dreck", schnaubt Xander. Was für eine Zeitverschwendung.
Raynolds Augen werden zu Schlitzen. Er grollt:
„Meine Wahrheit, du kleiner Bastard, ist die Erkenntnis für dich, aber natürlich versteht dein schlichter Verstand das nicht, dass alles was geschehen ist einen tieferen Sinn hatte und verdient war."
Xander weiß nicht, ob er lachen oder weinen soll.
„Verdient? Du weißt scheinbar nicht, was dieses Wort bedeutet. Du bist doch völlig verblendet.“
„Nein, nur ehrlich. Und jetzt bist du an der Reihe."
„Vergiss es. Es ist mir egal wovon du redest. Ich habe jetzt genug von der ganzen Scheiße."
Er dreht sich ohne noch mehr Worte zu verlieren um. Mit diesem Psychopathen macht ein Gespräch keinen Sinn. Das hätte er wissen sollen.
„Du weißt, dass du es verdient hast!" ruft Raynolds ihm hinterher. „Strafe und Disziplin muss sein! Schließlich hast du deine Halbschwester auf dem Gewissen."
Xander bleibt abrupt stehen.
„Sie hat so schrecklich genervt, nicht wahr, Alexander? Ständig warst du für sie verantwortlich. Immer musstest du sie überall mit hinnehmen und immer ging es nach ihr. Ging es nicht um deine kranke Stiefmutter, ging es immer um die Kleine, nicht? Dein Vater hat sich doch gar nicht mehr für dich interessiert."
„Das Stimmt nicht ...", flüstert Xander.
„Und dann, an diesem Nachmittag im Juni? Du hast sie ans Riff gelockt. Du wolltest sie ein für alle Mal loswerden. Du hattest nie vor sie an diesem Tag vom Kindergarten abzuholen. Ist es nicht so?"
„Das stimmt nicht", schreit Xander dieses Mal und wendet sich Raynolds wieder zu.
„Lüg' nicht!", schreit Raynolds zornig zurück.
„Du hast ihr befohlen, zum Riff zu kommen und du wusstest genau was passieren würde."
„Nein. Das ist nicht wahr!". Es ist ein Schrei der Verzweiflung. „Ich wollte nie, dass ihr etwas zustößt!"
„Und ob. Du hast es nicht nur billigend in Kauf genommen, du hast es provoziert und gewollt! Um deinem Vater und deiner Stiefmutter eines auszuwischen!"
„Lass deine Schwester morgen nicht schon wieder warten, Alexander. Mein Gott, es kann doch nicht so schwer sein, von der Schule direkt zum Kindergarten zu gehen. Du weißt doch, dass Mary momentan nicht in der Lage dazu ist."
„Ich lass sie doch gar nicht lange warten und außerdem …"
"Widersprich mir nicht andauernd! Ich bitte dich ja nicht um viel. Du bist doch ihr großer Bruder."
Xander beißt sich auf die Lippe. Es ist immer das Gleiche. „Ja, Papa."
Für Alexander Senior ist das Gespräch beendet. Aber Xander liegt eigentlich noch so viel auf der Zunge. Und noch mehr auf dem Herzen. Am Dienstag ist Pfarrer Anthony in der Schule. Er betreut die Musik AG. Und er hat Xander versprochen, ihm das Bass spielen beizubringen, wenn er nur regelmäßig zur AG kommt. Aber durch Marys Krankheit kann er nie dort hin. Dabei hat sein Vater ihm das Anfang des Jahres versprochen. Und nun steht er wieder hinten an. Ein eigener Bass zum Lernen wäre ja auch viel zu teuer. Das Geld brauchen sie schließlich für Marys Behandlung. Aber ein neue Puppe, das tausendste Kuscheltier und eine Burg mit Rutsche für Nikki. Ja, das ist natürlich alles drin. Er kann sich nicht helfen. Er weiß es ist dämlich auf eine knapp fünfjährige Eifersüchtig zu sein. Aber es ist einfach gemein. Er seufzt tief und geht auf sein Zimmer. Längst hat sein Vater sich dem Fernseher zugewandt. Es hat keinen Sinn mit ihm darüber zu reden. Er ist noch keine fünf Minuten oben, da kommt Nikki herein gestürmt.
„Xander, du bist wieder Zuhause!“, schreit sie mit ihrer hohen Kinderstimme und plappert munter drauf los. Normalerweise ist er froh, um diese unbestreitbar nerv tötende Begrüßung, zeigt sie ihm doch, dass zumindest eine Person in diesem Haus ihn um seinet Willen vermisst hat und nicht wegen der sonst zusätzlich anfallenden Arbeiten. Nicht, dass es wirklich so wäre. Allerdings fühlt es sich so. Gerade ist er aber nur genervt. Außerdem muss er noch Hausaufgaben machen. Nikki zieht indes einen Schmollmund, weil Xander sie nicht weiter beachtet und fängt an zu quengeln. Als er sich an den Schreibtisch setzt, um den lästigen Matheaufgaben habhaft zu werden, geht Nikki prompt dazwischen und versucht auf seinen Schoß zu klettern.
„Mann, hör auf Nik!", ruft er aus und schiebt das kleine Mädchen zur Seite.
„Aber ich will dir doch etwas erzählen!", sagt sie und schiebt die Unterlippe bedenklich vor. Die großen braunen Augen flehen.
„Nicht jetzt", schnaubt er, während er seine Schwester gegen ihren Willen zur Tür bugsiert und ihr eben diese vor der Nase zuschlägt. Kaum sitzt er auf seinem Schreibtischstuhl kann er sie weinen hören. Er seufzt. Versucht das zu ignorieren. Er kann jetzt nicht mit ihr reden. Dazu kocht es zu sehr in ihm. Die erste Gleichung hat er gerade gelöst, als er einen wütenden Ruf hören kann. Sein Vater. Kurz spielt er mit dem Gedanken nicht runter zu gehen, aber wenn er das tun würde, dann käme sein Vater hoch und der Ärger würde nicht weniger werden.
Es war nicht nötig runter zu gehen. Er wurde schon auf der Treppe zur Schnecke gemacht, weil er Nikki zum Weinen gebracht hatte. Nun musste Mary ihre Kleine trösten und dafür hatte sie ja kaum genug Kraft. Natürlich auch seine Schuld. Das sagt sein Vater zwar nicht, aber es fühlt sich so an. Er war ganz offensichtlich ein Unmensch, weil er seine kleine Schwester des Zimmers verwiesen hatte und so ein Benehmen kann ja nicht angehen. Abermals zurück an seinem Schreibtisch schäumt der Junge mittlerweile vor Wut. Er heult, ohne dass er etwas dagegen unternehmen kann. Das ist doch alles Wahnsinn. Egal was er tut, es ist ohnehin falsch. Und dann öffnet sich die Tür zu seinem Zimmer erneut. Natürlich ohne ein Anklopfen. Schon wieder steht Nikki im Raum. Heute ist sie echt hartnäckig.
„Xander", sagt sie ganz sanft. Es ist ein schmeichelnder Ton. Es ist Nikkis Art sich zu entschuldigen. Normalerweise verzeiht er ihr nun längst. Dies Mal erfährt es keinerlei Beachtung.
„Du weinst ja", stellt sie überrascht fest. Für Xander kommt diese Aussage gerade einer Demütigung gleich. Schnell wischt er sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Will nicht, dass sie es noch weiter sieht.
„Verzieh dich!", faucht er.
„Aber …"
„Nichts aber." Noch nie hat er Nikki so angefahren. Dem Zwölfjährigen fehlt in diesem Augenblick jegliche Selbstbeherrschung seiner fünfjährigen Schwester gegenüber.
„Wenn du nicht gleich verschwindest, kannst du zu sehen, wie du morgen nach Hause kommst. Ich hole dich dann jedenfalls nicht ab."
„Machst du nicht!", ruft Nikki sofort. „Das ist nämlich gemein."
„Kleiner Hinweis, so ist die Welt eben uns es ist mir ganz egal. Und stell dir vor was ich noch mache, ich gehe alleine zur Bucht am Riff. Ohne dich macht das nämlich Spaß. Ich habe keine Lust, ständig auf dich aufzupassen."
„Nein! Das machst du nicht. Das darfst du nicht", lässt sie in kindlicher Naivität verlauten und ist wieder den Tränen nahe.
„Und ob", beharrt Xander.
„Dann komme ich da eben alleine hin", erwidert sie trotzig und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Traust du dich doch sowieso nicht, du Baby", sagt Xander ohne jeden Zweifel.
Er weiß heute, dass er das niemals hätte sagen dürfen. Er weiß heute, dass sie es sich offensichtlich doch getraut hat. Und niemals hat ihn etwas im Leben so verfolgt, wie diese Tatsache. Immer hat er gehofft, geglaubt, es habe nichts damit zu tun. Aber instinktiv hat er es doch immer geahnt. Gott, wenn er nur nicht geschwiegen hätte. Wenn er seinem Vater etwas von dem Verdacht gesagt hätte, als er erfuhr, dass alle Nikki suchen. Doch er war zu feige. Er hatte Angst, was Nikki zu ihrem Vater sagen würde, wenn man sie fand. Er wollte doch nie, dass so etwas passierte. Am Ende hat man sie gar nicht gefunden. Und er ist schuld, dass seine Schwester nicht wieder Heim gekommen ist. Das sie nie wieder Heim kommen wird. Er will nicht, er will nicht, das es so ist. Er erträgt den Gedanken kaum. Obwohl er unlängst weiß, dass es rein gar nichts bringt, hält er sich verzweifelt die Ohren zu. Kneift die Augen zu. Will nichts hören und nichts sehen von der Realität. Nicht in diesem Augenblick.
„Na, habe ich ins Schwarze getroffen", höhnt Raynolds selbstgefällig. Xander will das alles nicht hören. James soll aufhören zu reden.
„Ich habe sie getroffen, damals. Als sie auf dem Weg zum Riff war. Ich war gerade allein auf Streife und da sah ich sie. Ganz alleine, nur mit ihrem lächerlichen, kleinen pinken Rucksack. Und diesem hässlichen Plüschtier, diesem Lila Sack im Arm. Und weißt du, was sie mir erzählt hat? Sie geht zu dir, weil du heute nicht zu ihr kommen wirst. Deshalb muss sie zum Riff. Dort wartest du nämlich ganz bestimmt." Er lacht, als wäre diese Geschichte äußerst amüsant. Xander will am liebsten nur schreien.
„Ich hätte sie nach Hause bringen können", stellt er fest und macht eine kurze Pause, als müsste er überlegen, wie er den nächsten Satz am besten formuliert „aber wieso etwas unternehmen, wenn du mir schon dabei hilfst deinem Vater ein für alle Mal eins auszuwischen. Ich hab's darauf ankommen lassen. Na und? Sollte er doch erfahren, wie es ist, wenn einem weggenommen wird, was einem lieb und teuer ist.
„Scheiße, sie war ein kleines Kind", schreit Xander verzweifelt.
„Du hast sie doch dorthin gelotst. Nicht ich. Oder plagt uns etwa ein schlechtes Gewissen, Kleiner?"
Da ist Wut, Hass und pure Verzweiflung in ihm. Sein Körper vibriert förmlich. Er rauft sich die Haare und umschlingt dann seinen Oberkörper, als könnte ihm das in irgendeiner Art und Weise Halt geben. Es nützt nichts. Plötzlich fühlt es sich an, als wäre alle Kraft aus ihm gewichen. Er geht in die Knie, wie ein verwundeter Soldat. Er muss nicht einmal aufblicken, Raynolds selbstgerechtem, zufriedenen Blick, nicht begegnen, um zu wissen, wie er ihn ansieht. Vielleicht hat er Recht. Vielleiht hat er Nikkis Verschwinden billigend in Kauf genommen. Vielleicht ist er kein Stück besser als Raynolds. Den er immer und immer wieder so gerne als Monster bezeichnet. Vielleicht ist er selbst eines. Er schreckt auf, als er etwas über den Boden schlittern hört. Etwas stößt unsanft gegen sein Knie. Als er aufsieht, liegt Raynolds Dienstwaffe genau vor seinen Füßen. Er blickt auf. In das Gesicht des Mannes, den er seit Jahren verachtet.
„Und, was wirst du nun tun? Du hast die Wahl.“
Xander fokussiert die Waffe mit seinem Blick. Start den Lauf an und fragt sich, wie es wäre sie abzufeuern.
„Wie hast du so schön gesagt? Ich bin völlig verblendet? Nun, eines kann ich dir garantieren, blöd bin ich nicht. Soll ich dir noch eine Kleinigkeit verraten? Egal was ich getan habe, mich wird niemand mehr zur Rechenschaft ziehen.“
Xander schüttelt den Kopf. Was macht diesen Kerl da so sicher.
„Ach ja?“, fragt Xander zögerlich. „Bist du dir so sicher, dass ich nie zur Polizei gehen werde?“ James grinst zur Antwort. „Nun, selbst wenn du es tätest, stände Aussage gegen Aussage. Und selbst wenn es zum Prozess käme, lass es meinetwegen zur Anklage kommen. Lass sie mich sogar verurteilen. Ich bin krank, Alexander. Die Ärzte geben mir noch ein paar Monate. Mich kann keine Instanz dieser Welt mehr bestraften.“
Xander starrt in die grauen Augen. Versucht sie zu lesen. Sie sind kalt wie immer. Oder …? Sagt er die Wahrheit? Er ist sich nicht ganz sicher.
„Die Justiz wird mich nicht zur Rechenschaft ziehen. Für nichts, was ich getan habe.“.
Er grinst und taktiert Xander wie eine Schlange.
„Wirst du es tun?“
In Xanders Ohren rauscht das Blut. Dieser Kerl hat ihm jahrelang das Leben zur Hölle gemacht. Er hat ihn gedemütigt, gequält und ihn bis heute verfolgt. Und er wird mit alle dem durchkommen. Diese Erkenntnis liegt ihm wie ein Stein im Magen. Langsam kommt der Achtzehnjährige auf die Beine. Die Waffe liegt noch immer vor seinen Füßen. Er zittert.
Raynolds erhebt wieder die Stimme: „Ich frage noch einmal: Wirst du mich richten?“
Dann sieht er auf die Waffe und ergänzt: „Oder wiegt deine eigene Schuld zu schwer?“
„Ich …“, Xander kann die Waffe nicht aus den Augen lassen. Seine eigene Schuld. Ja, die Frage nach der Schuld bleibt.
„Nikki.“
„Wie bitte?“
„Bist du ihr gefolgt?“, will Xander wissen. Er muss die Wahrheit in Erfahrung bringen.
„Was willst du hören, Alexander? Nein, ich habe sie ziehen lassen. Und dann war sie weg. Ist es nicht so?“
„Hast du etwas damit zu tun?“, faucht Xander jetzt regelrecht. Und Raynolds? Der zuckt nur mit den Schultern.
„Wer weiß.“, flüstert er fast. „Das wäre jetzt so schön einfach, nicht wahr? Nach allem was ich getan habe. James Raynolds, der Psychopath.“
Xanders gesamte Haltung verkrampft. Was ist das für eine Antwort? Raynolds bleibt sie ihm nicht schuldig.
„Nenn mich ein gewalttätiges Arschloch“, er macht eine kurze Pause „oder einen Kinderschänder.“
Xander zuckt zusammen, verweigert sich der Erinnerung.
„Aber ich bin kein Mörder. Das wäre zu leicht.“
Xander berührt die Waffe mit seinem Fuß. Dann geht er in die Hocke. Er muss sie nur nehmen. Abzudrücken wäre einfach. Er wäre diesen Mistkerl ein für alle Male los. Raynolds unterbricht seinen Gedankengang.
„Hilft das deiner Entscheidung nun auf die Sprünge?“
„Ja“, antwortet er langsam. „Das tut es.“
Er blickt Raynolds ein letztes Mal in die grauen Augen.
„Du hast vorhin gesagt, unsere Begegnung wäre Schicksal.“
Raynolds sieht zu ihm, dann zur Waffe. Er grinst. Xander schüttelt den Kopf.“
„Aber ich kenne das Schicksal mittlerweile“, Xander denkt an Jesse „und deshalb weiß ich, dass unser Treffen keines ist. Es ist nichts weiter, als ein weiterer Teil deines kleinen Spiels …“
Er erhebt sich. Tritt die Waffe mit einem kräftigen Stoß so weit weg, wie irgend möglich.
„Und ich bin nicht länger Teil deines Spiels. Soll dich wer anders Richten, meinetwegen auch niemand. Ich werde es jedenfalls nicht tun.“ Er muss diese Waffe auf niemanden richten, weder auf James, noch auf sich. Das macht die Vergangenheit auch nicht ungeschehen. Raynolds flucht, als Xander sich umdreht. Er brüllt, doch der Junge hört ihm nicht mehr zu. Das hat er viel zu lange getan. Er will nur noch weg, als er hören kann, wie sich James schwerer Körper in Bewegung setzt. Er läuft und Xander wirbelt panisch herum. Raynolds läuft nicht in seine Richtung. Trotzdem, oder gerade deshalb, kann Xander sich einfach nicht bewegen. Er fixiert Raynolds, der die Waffe vom Boden aufhebt. Dann sieht er direkt zu Xander. Sein Blick lässt Xander das Blut in den Adern gefrieren. Das Gesicht ist völlig Ausdruckslos, als er den Arm hebt. Dann ein Grinsen. Er betätigt den Abzug. Der Schuss zerfetzt die Stille. Xander reißt die Augen weit auf. Blut färbt den grauen Asphalt rot. Graue Augen starren in den Nachthimmel. Gerade eben waren sie noch kalt, nun sind sie nur noch leer. Er will seinen Blick abwenden, aber er kann nicht. Ihn packt das blanke Entsetzen. Einen Moment lang steht er noch da. Wie betäubt. Dann hört er einen Kirchturm in der Ferne läuten. Xander nimmt die Beine in die Hand und rennt. Weg. So schnell er kann.
Er hetzt durch leere Gassen und sucht die Schwärze der dunkelsten Schatten. Er will unsichtbar sein. Seine Lunge sticht und mit jedem Meter werden seine Beine schwerer, Aber er will so viel Abstand zwischen sich und Raynolds leblosen Körper bringen, wie er nur kann. So viel Abstand, das er vergessen kann, dort gewesen zu sein. Er hört den Schuss immer wieder in seinen Ohren hallen. Er hat sich erschossen. James Raynolds hat sich erschossen. Vor seinen Augen. Xander versteht die Welt nicht mehr. Irgendwann kann er das Tempo nicht mehr halten. Die Straßen werden belebter. Er verfällt in einen Trab. Bald kommt er zum alten Bahnhof. J.J kommt ihm entgegen, ruft seinen Namen. Xander hastet grußlos an ihm vorbei ins Innere des Gebäudes. Er beachtet niemanden, folgt einem dunklen Gang, bis er zu den ehemaligen Toiletten kommt. Dort verbarrikadiert er sich in einer Kabine. Er versucht die letzten Minuten Revue passieren zu lassen. Aber seine Gedanken drehen sich nur im Kreis. Raynolds Augen. Sein Grinsen. Der Schuss. Das Blut. Fieberhaft versucht er zu verstehen, was da gerade passiert ist. Raynolds hat von Schuld gesprochen. Von Wahrheit. Von Bestrafung. Recht und Unrecht. Und nun hat er sich einfach erschossen. Sich selbst gerichtet. Weil Xander es nicht getan hat? Ist es das gewesen, was er gewollt hat. Fast hat Xander den Eindruck. Warum? Um ihn etwas anzuhängen. Gott, die Waffe! Hat er sie angefasst? Ist das wieder ein Teil von James perfiden Spielchen. Hat er ihn abermals in die Enge getrieben? Gibt es Fingerabdrücke? Gefälschte Beweise. Seine Gedanken rasen. Er will sich beruhigen aber er kann nicht. Irgendwas muss er tun, sonst dreht er durch. Xander schreit. Laut. Um alles rauszulassen. Die Gedanken los zu werden. Es funktioniert nicht. Plötzlich denkt er an den Stoff in seiner Tasche. Die Spritze scheint wie Feuer zu glühen. Er greift danach. Zieht das kleine Tütchen mit dem braunen Pulver ebenfalls aus der Tasche. Er denkt nicht darüber nach. Unmöglich. Er kann jetzt nicht mehr denken. Nur noch handeln. Im hintersten Winkel seines Verstandes schieben sich grüne Augen und ein charismatisches Lächeln kurz in sein Bewusstsein. Er ist im Begriff die Chance, die Jesse ihm ermöglicht hat und für die er so gekämpft hat wegzuwerfen. Irgendwie weiß er das und doch spielt es gerade keine Rolle mehr. Alles um ihn herum spielt keine Rolle mehr. Nur der Stoff. Nur vergessen.
In dem engen Raum ist es stockdunkel. Eigentlich viel zu dunkel. Xander kauert sich in der Ecke der Toilettenkabine zusammen. Den Rücken drückt er gegen die Wand. Die Kälte der Fliesen jagt ihm einen Schauer über den Rücken. Die Gänsehaut an seinen Armen nimmt er kaum wahr. Er ist damit beschäftigt das Heroin in der leeren Bonbondose aus der anderen Hosentasche abzukochen. Es dauert. Ewig. Scheiß, kleines Feuerzeug. Und er kann immer noch kaum etwas sehen. Er schiebt sich näher an das Fenster. Der Himmel ist Mondhell. Es reicht gerade so. Gleichzeitig ist er auch damit beschäftig sich mit einem seiner Schnürsenkel den Arm +abzubinden. Er tastet nach einer Vene. Die alten Einstiche sind immer noch spürbar. Kleine Narben. Gemacht für die Ewigkeit. Vielleicht? Sie sind ein Anhaltspunkt. Helfen ihm. Beruhigen ihn. Er setzt die Nadel. Zieht probehalber die Spritze hoch. Kein Blut. Scheiße. Ein zweiter Versuch. Dieses Mal ein Erfolg. Er zieht die Spritze wieder heraus. Füllt sie vorsichtig mit dem fast gelblich braunen Gebräu. Er zittert immer noch. Atmet tief durch. 50 mg sind viel. Vor allem, weil er seit fast zwei Monaten nichts mehr hatte. Es ist viel. Vielleicht zu viel. Der Gedanke zu sterben hängt im Raum wie ein Damoklesschwert. Die Hoffnung auf Leben schwirrt in der Kabine wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln. Kurz vor dem Absturz, aber er hält sich mit letzter Kraft hartnäckig in der Luft. Egal was es ist, es ist auf jeden Fall genug um zu vergessen. Die Spritze steckt schon im Arm. Die Zweifel sind zu langsam für seine Reaktion. Er drückt die Spritze durch. Der Schmerz explodiert augenblicklich. Sein Kopf kippt nach hinten und schlägt hart gegen die Toilettenwand. Es klingt fast wie ein Klopfen, als ihm schwarz vor Augen wird.