Die Definition von Glück
Jesse
Er hat die Nacht fast durchgemacht. Zwar weiß er nicht, wie lange er wohl geschlafen hat, aber als er aufwacht, liegt Cassie in seinen Armen. Ihre blauen Augen betrachten ihn.
„Was ist?“, murmelt er verschlafen. „Nichts“, antwortet sie seufzend. Jesse lächelt sanft. Er kennt diesen Blick nur zu gut. „Aber über irgendetwas hast du nachgedacht“, stellt er fest. „Ja“, sie lächelt und irgendwie hat es etwas Melancholisches. „Ich habe gerade einfach nur festgestellt, dass das wohl nicht mehr oft vorkommen wird. Vielleicht gar nicht mehr.“ Jesse reißt sich für einen Augenblick von ihren blauen Augen los. Sieht hoch zur weißen Decke. „Stimmt“, stellt er fest. Er weiß nicht, was er sonst sagen soll. Die Tatsache stimmt ihn allerdings auch viel trauriger, als er es für möglich gehalten hat. Ohne Zweifel, ihre Beziehung muss hier ein Ende finden. Mag sein, dass sie das eigentlich sogar viel früher hätte tun müssen. Und dennoch, sie haben zehn Jahre ihres Lebens miteinander geteilt und das vergisst man nicht so einfach, vor allem, weil sie auch viele sehr gute Zeiten hatten. Cassies warme Finger fahren über die nackte Haut an seinem Unterarm. Er schaut zu ihr. Sie lächelt. Dann erhebt sie sich plötzlich. „Ich gehe uns mal Frühstück machen“, sagt sie leichthin. Im Türrahmen bleibt sie noch einmal stehen. Ganz unvermittelt, als könne sie Gedanken lesen, sagt sie versonnen: „Lass uns die guten Momente in Erinnerung behalten, ja?“ Dann verlässt sie das Schlafzimmer.
Jesse bleibt liegen. Nur für den Moment. Obwohl er traurig ist, ist er gleichzeitig auch wahnsinnig erleichtert. Es wird nicht leicht, alle alten Strukturen aufzubrechen und völlig neu anzufangen und er weiß auch nicht, was die Zukunft bringen wird. Nur eines weiß er sicher: Es wird sich lohnen. Sie haben jetzt beide die Chance noch einmal von vorne zu beginnen, zumindest zum Teil, und er würde es Cassie vom ganzen Herzen gönnen, wenn sie dieses Mal wirklich glücklich werden würde. Nicht, dass sie die ganze Zeit über miteinander unglücklich gewesen wären, aber mittlerweile ist ihm klar, das immer irgendetwas gefehlt hat. Etwas, das man mit Worten nicht beschreiben kann. Allerdings weiß er genau, wie es sich anfühlt. Er schließt die Augen. Sieht braune Augen vor sich, ein zaghaftes, schiefes Lächeln. Eine unbeholfene, fahrige Handbewegung die das schwarze Haar völlig zerzaust zurücklässt. Er hört eine Stimme, die viel tiefer klingt, als man annehmen würde. Und er hat dieses Hochgefühl, das man einfach nicht erklären kann.
„Ich habe dich lange nicht mehr so lächeln sehen“, sagt sie sanft. Jesse dreht den Kopf zu ihr und richtet sich auf. Cassie lächelt. Gleichzeitig wirkt sie unendlich traurig. Er will etwas sagen, obschon er nicht weiß, was man in einer solchen Situation sagen sollte, aber sie kommt ihm zuvor: „Frühstück ist so weit.“ Also sagt er nichts, sondern nickt nur und folgt ihr. Die Situation am Frühstückstisch ist absolut merkwürdig. Eigentlich wissen sie beide, dass es da noch so viel gibt, worüber sie reden sollten. Gleichzeitig fühlt es sich aber an, als wäre jedes Wort eines zu viel. Als könnte es alles kaputt machen, was zwischen ihnen noch besteht. Jesse starrt auf die dampfende Teetasse vor ihm. Es ist sein Lieblingstee. Earl Grey. Trotzdem trinkt er keinen Schluck. Er starrt nur weiter. Irgendwann will Cassie wissen was los ist? Ja, was ist los, abgesehen vom Offensichtlichen?
„Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll“, gesteht Jesse kleinlaut. Cassie nickt. Sie versteht.
„Was glaubst du wie es mir geht? Aber ich glaube für solche Trennungen gibt es keinen Ratgeber. Über sowas hat noch niemand ein Buch geschrieben.“, sie seufzt, während sie den Löffel klirrend in ihrer Kaffeetasse rühren lässt. Jesse fährt sich unbeholfen durchs Haar. „Das ist schade“, erwidert er nur „es würde wohl vieles leichter machen.“ Da lacht Cassie plötzlich. Es klingt Glockenhell. Altvertraut.
„Ja“, kichert sie „ich kann mir vorstellen, dass du dir das wünscht. Situationen die nicht nach deinem Plan laufen, bist du nicht gewöhnt.“
„Warum denken das alle?“, will er empört wissen. „Als ob bei mir immer alles nach Plan laufen würde.“
Sie hört auf zu kichern. Sieht ihn einen Moment lang nur still an. Dann legt sie den Kopf schief. „Vielleicht“, überlegt sie „weil du einfach immer so wirkst, als hättest du alles im Griff. Als könnte dich nichts aus der Ruhe bringen.“
Jesse schüttelt den Kopf. In seinen Ohren klingt das so verrückt. Als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen? Er findet seit Nächten keine Ruhe und keinen Schlaf, weil ihm gerade alles fast ein wenig zu viel ist. Weil ihn alles überfordert. „Wenn ich tatsächlich so wirke“ murmelt er „dann täusche ich alle, einschließlich mir selbst, wirklich wahnsinnig gut.“ Einen Augenblick lang sieht Jesse in Cassandras vor Überraschung geweiteten Augen, dann zucken ihre Mundwinkel leicht und sie sagt: „Am Ende sind wir eben alle nur Menschen, nicht?“ Dann sprechen sie doch. Über vieles, was noch unausgesprochen geblieben ist. In den gesamten letzten zehn Jahren. Und darüber, wie es weitergehen soll, in den nächsten Wochen und Monaten. Vieles bleibt auch noch offen. Manches verändert sich auch nicht so schnell. Sie werden ihren Eltern mitteilen, Jesse weiß, dass Cassie davor am meisten Angst hat, dass es keine Hochzeit mehr geben wird. Sie werden sich trennen. Aber die nächste Zeit wohl doch noch zusammenleben. Mit ihren Aushilfsjobs und der Wohnsituation in Manhattan können sie sich auch gar nichts anderes erlauben. Außerdem hassen sie sich ja nicht, sie lieben sich nur nicht mehr. Unter diesen Umständen kann man ja immer noch zusammenleben. Zumindest auf Zeit. Bis sie beide etwas Neues gefunden haben. In knapp vier Wochen, kurz nach seinem 26. Geburtstag, wird Jesse ohnehin seine Stelle als Assistenzarzt im Krankenhaus beginnen. Dann verdient er zumindest etwas mehr Geld. Cassie? Die Stelle als Lehrerin, die sie antreten wollte, kann sie sich jetzt wohl schenken. Aber Jesse ist zuversichtlich, dafür werden sie schon irgendwie eine Lösung finden. Das Kind? Nun, das ist zugegeben eine andere Hausnummer, aber so merkwürdig es auch klingen mag, jetzt wo Jesse sich sicher ist Cassie nicht zu heiraten, fühlt sich die Tatsache eventuell Vater zu werden ganz anders an. Sie können natürlich erst mit Sicherheit nach der Geburt sagen, wer der Vater von Cassies ungeborenem Kind ist, aber egal was dabei rauskommt, Jesse sieht dem jetzt nur noch positiv entgegen. Wenn er Vater werden sollte, dann wird er eben Vater. Das wird eine Herausforderung, aber das wird es für Cassie auch. Gemeinsam werden sie das Eltern Dasein dann schon irgendwie meistern. Und wenn nicht? Das ist mittlerweile schon eine echt komische Vorstellung. Er ist sich gar nicht so sicher, was das dann für ihn bedeutet. Er wird Cassie aber auch dann, falls sie das möchte und sie jemanden braucht, unter die Arme greifen.
Sie reden aber nicht nur über das, was sie die letzten zehn Jahre zu sagen verpasst haben. Cassie will aus ihm unerfindlichen Gründen mehr über Xander wissen. Obwohl Jesse eigentlich wenig Zeit mit ihm verbracht hat und noch viel weniger über Xander weiß, kann er unglaublich viel über ihn reden. Er könnte stundenlang nur von ihm reden. Und fühlt sich wie ein Teenager, der zum ersten Mal verliebt ist. Ironischerweise, Jesse weiß nicht warum, tut es gut, mit Cassie über ihn zu reden. Bisher konnte er nur Jorell diese Sache anvertrauen. Mit Cassie, und ihren Ansichten zu den von ihm geschilderten Situationen, bekommt er noch einmal eine ganz andere Perspektive auf die Dinge. „Gott“, flüstert sie irgendwann zwischendurch. „Du bist ja wirklich Hals über Kopf verliebt.“ Dabei hat sie ihren Kopf auf ihre Hand gestützt und betrachtet ihn mit einem völlig undeutbaren Blick. Er sieht sie an und rauft sich die Haare. „Ich weiß“, stößt er völlig geschafft hervor. „Aber das ist bescheuert, weil es gar kein uns gibt oder jemals geben wird!“. Er fühlt sich albern, weil er seiner Ex-Verlobten mit nicht-Beziehungsproblemen in den Ohren liegt. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, überlegt und meint dann, so hundertprozentig sei das ja nicht sicher, denn dann hätte Xander ihn ja nicht auch geküsst. Vielleicht braucht er einfach Zeit. Jesse kann das nicht recht glauben, muss Cassie aber innerlich ein großes Lob dafür aussprechen, dass sie die Situation gerade so locker nimmt und sogar noch versucht ihn aufzumuntern. Dann sagt sie plötzlich: „Weiß du, was mich selbst am meisten wundert? Dass du mir total verliebt von einem Typen erzählst und mir das irgendwie gar nicht komisch vorkommt. Das würde es, glaube ich nicht einmal dann, wenn Casper nicht irgendwann mal gesagt hätte, du wärst Bisexuell. Auch, wenn ich mir das bis vor kurzem nie vorstellen konnte.“ Mit einem Mal sind sie ein Stück in der Zeit zurück. Wieder bei ihren Teenagertagen angekommen. Es gibt so viel, worüber es sich zu sprechen lohnt. Irgendwie ist es ein Stückweit auch wie ein Rückblick. Und nach zehn Jahren Beziehung ziehen sie nun ihr Fazit. Ein komischer Gedanke. Außerdem würde Jesse lügen, wenn er behaupten würde, die Sache mit Casper ließe ihn völlig kalt. Casper war sein bester Freund. Casper ist der Grund, warum Jesse Medizin studiert. Natürlich will er wissen, was das zwischen ihm und Cassie genau gewesen ist. Schnell merkt er dabei, dass das eine Frage ist, die sich Cassie vielleicht auch selbst schon einige Mal gestellt hat. Eine Frage die sie nicht ganz sicher beantworten kann. Am Ende ihres Gespräches ist nur eines klar, wenn Casper heute noch leben würde, sähe ihre ganze Geschichte wahrscheinlich ganz anders aus. Eventuell, schießt es Jesse durch den Kopf, wäre Casper der Vater ihres ungeborenen Kindes. Kann sein, denkt er und wenn es so wäre, stellt er fest, wäre es in Ordnung gewesen. Casper war alles andere als ein Arschloch, letztlich war er sogar einer der ehrlichsten und hingebungsvollsten Menschen, die er je gekannt hat. Gott, wenn Cas in dieser Sache ehrlich gewesen wäre, wenn er ihm gesagt hätte, er habe mit seiner Freundin geschlafen, Jesse wäre ihm vermutlich an die Gurgel genagen. Und direkt danach wäre er in Selbstmitleid versunken und hätte sich vermutlich lieber alleine durch die Gegend geschlagen, als sich andere Freunde zu suchen. Mag sein, dass er sich auch nur einreden möchte, dass Casper beste Absichten hatte, als er ihm nichts gesagt hat. Im Nachhinein hat er sogar das Gefühl, es gab vielleicht Momente, in denen Casper es ihm sagen wollte und dann doch wieder zurückgerudert ist. Zumindest gab es da ein sehr merkwürdiges Gespräch, nur ein paar Wochen bevor er dann gestorben ist, in dem Casper Jesse mehr oder weniger gesagt hat, dass er ziemlich auf Cassie steht. Aber er wisse ja, Jesse und sie seien ein Paar und sie passen ja auch echt gut zusammen. Er wolle nur, dass sie glücklich sind, egal wie. Dieser Satz brennt sich gerade in seinen Erinnerungen fest. Er spricht es ohne Zusammenhang, obwohl das Gespräch längst beendet ist, laut aus: „Er will nur, dass wir glücklich sind.“
„Was?“, fragt Cassie völlig irritiert.
„Das hat Casper zu mir gesagt, kurz vor seinem Tod. Er will nur, dass wir glücklich sind, egal wie.“
Er blickt auf und kann sehen, wie Cassie schwer schluckt. Bevor sie mit bebender Stimme antwortet: „Das werden wir. Wir werden glücklich sein.“
Es ist ein ganz und gar merkwürdiger Tag. Er sitzt an seinem Schreibtisch im Schlafzimmer, macht Zeug für die Uni, das er viel zu lange vernachlässigt hat, als Cassie mit einer Zeitung durch die Tür spaziert kommt. „Schau Mal“, sagt sie und hält ihm das Tagesblatt vor die Nase. So nah, dass er überhaupt nichts erkennen kann. „Das ist eine Zeitung, Schatz“, witzelt er. Sie rollt mit den Augen. „Sehr witzig, Jess. Ich meine doch den Artikel, du Idiot“.
Er nimmt die Zeitung in die Hand, um sich besagten Artikel näher anzusehen. „Welcher denn?“, will er wissen, weil er nichts Besonderes erkennen kann. Aber Cassie hatte schon immer einen Hang zur Sensation und für Klatsch und Tratsch. Er fragt sich manchmal, warum sie nicht ein Journalismus Studium, statt des Lehramts gewählt hat. „Den mit dem Polizisten, den finde ich krass.“ Jesse schaut noch einmal und entdeckt besagten Artikel. Die Überschrift wirkt auf jeden Fall eher wie Klatschpresse als nach gutem Journalismus aus. Polizist mit Dienstwaffe erschossen. Suizid? Liest er. Der Artikel ist nicht besonders lang und im Grunde genommen verrät die Überschrift auch schon alles. Ein Polizist wurde heute in den frühen Morgenstunden Tod aufgefunden. Die Dienstwaffe scheint Tatwaffe zu sein und gegenwärtig geht das NYPD von einem Selbstmord aus. Jesse zieht eine Augenbraue hoch und sieht Cassie irritiert an. „Und was daran ist jetzt so krass?“ „Ich weiß nicht“, zuckt sie mit den Schultern. „Ich finde das irgendwie heftig. Ich meine, im Artikel steht doch, dass der Polizist nicht auf Streife war. Was wollte der den mitten in der Nacht draußen? In so einer Gegend? Ich meine, wenn man sich umbringen will, wäre das nicht still und heimlich im dunklen Kämmerlein genauso gut gegangen?“ Da ist was dran, muss er zugeben. Aber es gibt nun mal komische Menschen auf der Welt. „Vielleicht wollte er ja genau das“, scherzt Jesse. „Das sich Leute wie du jetzt den Kopf darüber zerbrechen, weil es in der Zeitung steht. Aufmerksamkeit hat er schon mal über den Tod hinaus.“ „Das ist gar nicht lustig, Jesse“, motzt sie und haut ihm, mit der zusammengerollten Zeitung bewaffnet, gegen den Kopf. „Hör auf, mich mit deinen blöden Sprüchen aufzuziehen.“, murrt sie. Jesse schüttelt den Kopf und lacht. „Dann hör doch auf, mir blöde Zeitungsartikel unter die Nase zu reiben.“ Sie fällt in sein Lachen mit ein und schüttelt ebenfalls den Kopf. Dann verschwindet sie wieder ins Wohnzimmer. Jesse versucht sich nun wieder auf den Kram für die Uni zu konzentrieren, aber es will ihm einfach nicht gelingen. Seine Gedanken schweifen sofort ab. Unweigerlich fragt er sich, was Xander jetzt wohl gerade macht. Ob es ihm gut geht? Was war diese Sache, die er noch klären musste? Mike hat vielleicht irgendetwas herausgefunden. Vielleicht war er heute schon wieder beim Polizeipräsidium und hat seine Spur, was auch immer das genau für eine sei mag, weiter verfolgt. Es ist bescheuert, das ihm das keine Ruhe lässt, obwohl Xander ihm gestern Nacht doch ganz klar gemacht hat, dass er sich gegen ihn entschieden hat. Gut, nicht direkt gegen ihn, aber er wollte unter keinen Umständen in der Wohngruppe bleiben. Wenn Jesse es nicht besser wüsste, hätte er fast gesagt, Xander wollte unter keinen Umständen in New York bleiben. Er hätte mit ihm mitkommen können, aber er ist gegangen. Er hat ihn geküsst – und Jesse hat noch nie in seinem Leben jemanden so geküsst – und trotzdem ist er einfach gegangen. Unruhig trommelt er mit seinen Händen auf dem Schreibtisch herum. Er kann hier einfach nicht sitzen! Er muss etwas tun! Im Hausflur schnappt er sich seine Jacke von der Garderoben und ruft Cassie zu, dass er nicht sicher weiß, wann er Heim kommen wird. Schon rauscht er das Treppenhaus hinunter. Nimmt dabei gleich zwei Stufen auf einmal und verliert beim um die Ecke biegen fast das Gleichgewicht. Gerade so kann er sich noch am Geländer festhalten. Auf der Straße zieht er sein Handy aus der Tasche, wählt Mikes Nummer. Aber niemand geht ran. Verdammt. Was jetzt? Niles Name springt ihn förmlich im Telefonbuch an. Probieren kostet ja nichts. Das Freisignal in der Leitung ertönt. Jesse hat heute wirklich keine Geduld. Unruhig tritt er von einem Bein aufs andere. Es dauert. Jesse befürchtet schon, dass er wider nur die Mailbox erreicht, als sich eine Stimme mit schwerem Akzent meldet.
„McArthur?“, die Stimme klingt müde und es knister und knackt im Hörer. Und jetzt kann Jesse auch den Akzent zuordnen. Nile ist also Schotte.
„Ich bin’s, Jesse“, meldet er sich und kommt sich dabei irgendwie reichlich blöd vor.
„Oh, ich habe dich gar nicht eingespeichert“, lässt der junge Mann am anderen Ende der Leitung verleiten und Jesse kommt nicht umhin zu bemerken, dass er unwahrscheinlich bedrückt klingt. Der Fünfundzwanzigjährige räuspert sich verlegen, bevor erfragt: „Ich wollte eigentlich nur wissen, ob du vielleicht irgendetwas von Mike gehört hast.“
„Warte kurz“, kommt es als Gemurmel aus dem Hörer. Dann hört Jesse es ein paar Mal Rascheln und im Hintergrund sind Stimmen und Schritte zu hören. Irgendwo öffnen sich Türen und dann kann er Nile endlich ganz klar und deutlich verstehen. „Ich darf da drinnen ja eigentlich nicht telefonieren“, sagt er.
„Da drinnen?“, will Jesse wissen. „Wo bist du denn?“
„Wir sind im Krankenhaus. Sie haben im Wohnheim angerufen, weil die Adresse in Xanders Schuhen stand. Und Charlotte hat sich dann bei Mike gemeldet. Wir sind gleich los.“
Jesse schluckt. Eine Sekunde lang glaubt er, sein Herz würde still stehen. Dann rauscht das Blut in seinen Ohren und seine Hand fängt so stark an zu zittern, dass er das Handy kaum noch in der Hand halten kann. Im Krankenhaus. Xander ist im Krankenhaus. Wenn er …
„Jesse? Bist du noch dran?“ Niles Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. Lässt ihn für den Moment wieder runterfahren.
„Ja, ja ich bin noch dran. Was zur Hölle ist passiert?“
Er hat Fragen über Fragen. Noch dazu ärgert er sich maßlos über sich selbst. Wenn er Xander gestern Nacht doch nur nicht gehen lassen hätte. Dann wäre vielleicht gar nichts passiert.
„Ich weiß es nicht“, dringt Niles Stimme wieder zu ihm durch. „Die dürfen und wollen wohl auch nichts zu mir sagen. Die haben mit Mike gesprochen, aber der ist schon ‘ne Weile mit irgendeinem Arzt im Gespräch. „Verstehe“, erwidert Jesse und nickt, obwohl Nile das ja gar nicht sehen kann. „Ich mache mich gleich auf den Weg. In welcher Klinik seit ihr?“
Der junge Schotte versucht nicht, ihm irgendetwas auszureden. Er antwortet nur "St. Vincent's.“, und nennt ihm die Adresse.
Jesse ist selten so schnell in die Parkgarage gesprintet, wie in diesem Augenblick. Es ist eigentlich, betrachtet man es an und für sich, lächerlich, weil keine Gefahr im Verzug ist und Xander bereits versorgt wird, aber für ihn zählt dennoch jede einzelne Sekunde. Umso schneller er da ist, desto besser. Nur das der Verkehr Manhattans da nicht mitspielt. Jeder will schnell von A nach B kommen und die Straßen sind so voll gestopft wie eh und je. Vermutlich wäre er letztlich zu Fuß, oder mit Bus und Bahn, schneller gewesen. Oder mit Fahrrad. Mit dem Fahrrad auf jeden Fall. Auto fahren lohnt sich in dieser Stadt fast nicht. Er hat gerade auch genug Zeit darüber nachzudenken, denn er steht abermals an einer roten Ampel. Den Weg zur Klinik kennt er. Es liegt im Greenwich Village. Er hat dort mal ein Praktikum gemacht, in seinem zweiten Semester an der Medicin School. Das St. Vincent’s hat einen legendären Ruf. Opfer der Titanic wurden dort schon behandelt. Leider spricht man nicht immer positiv über das Krankenhaus. Aber es ist bekannt dafür auch diejenigen zu behandeln, die sich keine Behandlung leisten können. Kann man von der Klinik, in der er zukünftig arbeiten wird, nicht behaupten. Das liegt außerdem genau in der anderen Richtung. Warum er daran jetzt denkt, weiß er nicht genau. Vielleicht weil er bessere Chancen gehabt hätte Auskunft zu bekommen, wenn er in der Klinik irgendwen kennen würde. Aber das würde er im Presbyterian wohl auch nicht. Und eigentlich kennt er auch dort kaum jemanden. Es käme auch immer darauf an, auf welcher Station Xander liegen würde. Und das wiederum hängt davon ab, warum man eingeliefert wurde.
Er ahnt es, aber er will es nicht glauben. Bitte, Gott, denkt er. Lass ihn das nicht getan haben. So eine verdammte Scheiße! Er schlägt den Kopf wütend auf das Lenkrad. Die Ampel ist noch immer rot und er dreht fast durch. Woher hatte Xander eigentlich das Geld für die Drogen? Will er das überhaupt wissen. Dann kommt ihm, dass er Xander selbst Geld gegeben hat. Damals, als er ihn zur Wohngruppe gebracht hat. Mist! Wenn Xander sich davon wirklich …, dann ist er mit Schuld. Und weiß nicht eigentlich jeder Idiot, dass man einem Junky – er kann Xander nicht so nennen, nicht einmal im Gedanken, auch wenn das vielleicht eine korrekte Bezeichnung sein mag -, dass man einem Abhängigen kein Geld in die Hand drückt. Das ist praktisch einer der dümmsten Fehler, den man im Umgang mit Süchtigen machen kann. Das weiß er doch. Aber er hat sich das selbst alles einfach viel zu leicht gemacht. Hat alles auf die leichte Schulter genommen. Was hat er erwartet? Das Xander nach diesem Entzug einfach so clean bleibt? So mir nichts, dir nichts? Er kennt die Rückfallquoten und er weiß auch ganz genau, dass ein kalter Entzug eigentlich nie das Richtige ist. Zudem hat Xander doch gar nicht groß eine andere Wahl gehabt? Natürlich waren seine Chancen ohne richtige Therapie verschwindend gering, auch wenn sie sich beide etwas anderes einreden wollten. Nur gab es praktisch auch keine andere Option. Wer hätte die Kosten für eine Therapie übernehmen sollen? Hinter Jesse fängt ein Hupkonzert an. Es ist grün und er steht noch immer. Okay, durchatmen. Er muss sich jetzt zusammenreißen. Er fährt an und beschwört sich dabei selbst, nicht den Teufel an die Wand zu malen, bis er genaueres weiß.
Gut zwanzig Minuten später biegt er auf den Parkplatz des Klinikums ab. Noch immer ist er in höchster Eile. Eigentlich will er sich selbst beruhigen, er kann ja nicht wie ein Berserker ins Krankenhaus stürzen, aber seine Nerven spielen da nicht mit. Die liegen nämlich jetzt schon blank. Als er sich bei einer der Damen am Schalter erkundigen möchte, ist er völlig außer Atem. Die junge Blondine sieht ihn an, als wäre er ein Alien von einem anderen Stern. Denn er braucht erst eine Minute, um wieder richtig Luft zu bekommen und einen klaren Gedanken zu fassen.
„Kann ich ihnen irgendwie helfen?“, fragt sie etwas verdutzt.
„Ja. Ich suche …“, da wird ihm plötzlich bewusst, dass er nicht einmal Xanders Nachnamen kennt. Er starrt die junge Frau vor sich an und weiß nicht mehr was er sagen soll.
„Ja?“, hakt sie noch einmal und zieht das Wort dabei künstlich in die Länge. Einen Augenblick später verdreht sie die braunen Augen. Jesse muss ihr wie ein Idiot vorkommen. Gerade ist er auch einer. „Schon gut“, sagt er einfach und entfernt sich wieder vom Tresen. Im Augenwinkel kann er sehen, dass die junge Frau ihm Kopfschüttelnd nachsieht. Er kann es verstehen. Ein wenig verzweifelt sieht er sich im Foyer um, als er einen prägnanten Rotschopf mit Irokesen Haarschnitt erspäht. Nile sieht sich ebenfalls suchend um, erblickt Jesse und winkt. Wow, er hat nicht erwartet, dass der Jüngere so umsichtig ist und auf ihn wartet.
Als Jesse ihn fragt, wo sie hinmüssen und Nile ihm entgegnet, dass sie sich ebenso gut erst Mal einen Kaffee besorgen können, weil sie ohnehin nicht alle gleichzeitig zu ihm hin dürfen, wird ihm noch einmal bewusst, wie ernst die Lage ist. "Liegt Xander auf der Intensivstation?“, fragt er besorgt. „Ja“, kommt es gleichfalls bedrückt zurück. Wenn Mike gerade mit dem behandelnden Arzt spricht, wird er danach wohl zu Xander aufs Zimmer dürfen und Nile hat vollkommen Recht, für sie ist dort dann kein Platz. Er nickt also nur und gemeinsam suchen sie die Cafeteria der Klinik auf. Sie ist nicht besonders voll. Ein paar Leute sitzen vereinzelt an wenig einladend aussehenden Tischen. Wohl ein älteres Ehepaar genießt gemeinsam ein Stück Kuchen. Der Kaffee hier ist vermutlich wahnsinnig schlecht, aber Jesse kann das egal sein, er trinkt ohnehin keinen. Er bestellt dennoch zu seinem Tee auch einen Kaffee und bezahlt diesen auch, bevor der Schotte neben ihm irgendwelche Einwände erheben kann. Von dem kommt nur noch ein überraschtes Danke, als Jesse ihm den dampfenden Plastikbecher vorsichtig in die Hand drückt. „Sollen wir uns hinsetzten, oder wollen wir gleich rauf?“
„Ich weiß nicht, aber oben sitzen wir ebenso rum wie hier unten“, gibt Nile zu bedenken, als eine kräftige, aber freundliche Stimme ertönt.
„Ihr werdet ja immer mehr.“ Die Stimme gehört zu einer Frau, etwa in Jesses Alter. Sie hat kurzes orange gefärbtes Haar und als sie lächelt zeigen sich ein paar Grübchen.
„Schwester Lola, Sie sind ja noch da“, hört er Nile neben sich überrascht sagen. „Nein“, gibt sie zurück und lacht. „Schon wieder hier, muss es heißen.“
Jesse sieht irritiert von einer Person zur anderen. Nile versteht seinen Blick sofort und erklärt, dass sie eine der Schwestern war, die heute Nacht auf der Station Dienst hatte, als Xander eingeliefert wurde und das sie es war, die sich die Mühe gemacht hat, Mike zu kontaktieren. Ihr Lächeln verschwindet, als sie das Kinn auf einer Hand abstützt und fragt: „Ihr wartet noch, nicht? Euer Freund hat euch ‘nen riesen Schrecken eingejagt, hmm? Und jetzt könnt ihr nicht mal zu ihm.“
Nile seufzt und Jesse nickt. Das ist wirklich bescheiden, um es gelinde auszudrücken.
„Es war eine Überdosis, oder?“, will Jesse wissen, weil Lola es bestimmt weiß. Sie seufzt zur Antwort. „Ich darf das wirklich nicht sagen.“ Jesse sieht sie flehend an. Er weiß, dass sie das nicht darf. Er weiß allerdings auch, dass sie es eben weiß und er dreht durch, wenn er es nicht endlich hört oder wider des Verstands eines Besseren belehrt wird. Sie blickt ihm aus grau-grünen Augen entgegen und seufzt. „Ich darf dazu wirklich nichts sagen, okay?“, wiederholt sie und dehnt das okay dabei unnötig lange. Zeitgleich nickt sie, wie eine Wackelkopffigur auf der Armatur eines Autos und dann kapiert Jesse es endlich. „Okay“, antwortet er schnell. Sie zwinkert nur zur Antwort. Bevor er sich bedanken kann, kommt eine Person auf Krücken an den Tisch und Lola steht auf. Darauf hat sie wohl gewartet. Nile und Jesse beschließen also sich zu verabschieden. Sie winken kurz und gehen.
„Lola ist nett“, stellt Jesse fest und bedauert kurz, dass er in einem anderen Krankenhaus eine Stelle anfangen wird.
„Hmm“, macht Nile nur und meint dann aus dem Nichts. „Das Mädchen auf das sie gewartet hat sah auch nett aus.“ Jesse hat darauf gar nicht geachtet. Er zieht eine Augenbraue in die Höhe. „Nett? Oder wolltest du was anderes sagen?“ Nile grinst nur.
Im Fahrstuhl hängt Jesse seinen Gedanken nach und als er und Nile auf diesen verdammt unbequemen Plastikstühlen auf dem Flur vor der Intensivstation Platz nehmen, kann er seine Verzweiflung nicht länger für sich behalten.
„Gott, ich habe das Gefühl es ist meine Schuld.“
Er sieht nicht zum Schotten, kann aber am Rascheln hören, dass dieser sich aufgerichtet hat.
„Ich glaube“, sagt er dann zögerlich „es ist entweder niemandes oder jedermanns Schuld.“
„Wie meinst du das?“, er kann Niles Gedankengang nicht ganz folgen.
„Nun, wenn wir ehrlich sind, müssen wir die Schuld zu aller erst bei Xander suchen. Verstehe mich nicht falsch. Ich mag Xander. Sehr sogar. Er ist wie der jüngere Bruder den ich nie hatte. Aber man spritzt sich ja nicht mal ebenso ausversehen Heroin.“
Nile unterbricht sich selbst, als er laut seufzt, dann setzt er wieder an:
„Aber das wäre auch zu einfach. Ich meine, das ist es eben. Man hat doch einen Grund, wenn man sich so eine Scheiße, so ein Gift, in die Venen spritzt. Also ist auch irgendwer anders Schuld. Es gibt einen Auslöser.“
„Kann sein. Aber das kann ich ja auch sein“, versucht er Nile seinen Standpunkt klar zu machen.
„Vielleicht“, erwidert er. „Aber die Kette geht ja noch weiter. Es gibt also eine Reaktion die auf einen Reiz folgt. Wo bleibt da der Rest? Was ist mit all den Leuten drum herum, die den Reiz doch hätten bemerken und die Reaktion vielleicht verhindern können? Müssen Danny und ich uns nicht auch fragen, was wir hätten tun können um Xander zu helfen? Oder Mike? Oder Jade? Haben wir nicht alle etwas falsch gemacht, wenn er lieber das Heroin zur Hilfe nimmt als uns? Also sind wir alle Schuld, verstehst du? Und wenn wir das als zu übertrieben betrachten, dann müssen wir uns fragen, ist es dann überhaupt jemandes Schuld oder ist es eine Verkettung unglücklicher Ereignisse?“
Jesse sieht überrascht zu dem jungen Mann mit dem Irohkesen. Er kann der Betrachtungsweise zwar nicht voll und ganz zustimmen, aber er ist trotzdem beeindruckt. Solche Überlegungen hat er Nile nicht zugetraut. Und wenn er ehrlich ist, dann hätte er mit jemanden wie dem Punk, alleine auf Grund seines Äußeren, vor Xander vermutlich nie geredet. Es ist schon komisch. Jesse muss unweigerlich lächeln. Dann fragt er an Nile gewandt:
„Interessante Theorie, aber Widerspricht die erste Theorie der zweiten nicht schon im Grundsatz und muss eine Verkettung unglücklicher Ereignisse nicht auch aus einem Reiz heraus entstehen?“
Der lacht nur verlegen. „Keine Ahnung. Ich hab‘ nur laut gedacht. Ich studiere Musik mit dem Hauptinstrument Schlagzeug, von Philosophie, Ethik und dergleichen habe ich keine Ahnung.“
Jesse legt den Kopf müde in den Nacken, streckt die Beine lang von sich - diese Stühle sind der reinste Horror – und flüstert: „Ich auch nicht. Absolut nicht.“
Sie warten noch fast eine halbe Stunde stillschweigend, bevor Mike den Gang betritt. Er ist nicht überrascht Jesse anzutreffen, erklärt aber gleich, dass sie alle nach Hause gehen können, weil heute niemand mehr zu Xander darf und er ohnehin nicht ansprechbar ist. Zumindest gibt es eine positive Nachricht, meint Mike, und das ist die, dass Xanders Zustand mittlerweile stabil ist. Vor ein paar Stunden sah das wohl noch ganz anders aus. Jesse dreht diese Auskunft sogleich den Magen um. Nile verkündet sofort, dass er dann jetzt noch bei Daniélle vorbeigehen wird, der von dem ganzen Schlamassel ja noch nichts weiß und Mike stellt mit einem Blick zur Uhr fest, dass er in einer Dreiviertelstunde auf der Arbeit sein muss. Also haben alle etwas zu tun. Außer Jesse. Er könnte im „Ma Maison“ seinen neuen Schichtplan abholen, aber das hat keine Eile. Arbeiten muss er dort erst Mittwoch wieder. Uni ist sonntags nicht und zum Lernen kann er sich nicht aufraffen. Wozu auch? Von lernen kann sowieso nicht mehr die Rede sein. Alle Arbeiten sind abgegeben. Die Vorlesungen sind durch. Es geht nur noch um ausgewertete Umfragen für Dozenten, die keinerlei Relevanz mehr für seinen Abschluss haben. Den hat er ja schon in der Tasche. Er muss in ein paar Wochen nur noch verabschiedet werden. Eigentlich geht es offiziell ja auch erst im Juli los, aber da er einiges Gut gemacht hat, während seines vierjährigen Studiums an der Meds, kann er schon ab April loslegen. Das ist der Wahnsinn, im letzten Oktober, als er sich noch bei allen möglichen Krankenhäusern vorstellen musste, wäre diese Vorstellung noch die Verheißung all seiner Träume gewesen. Eine Stelle als Internist. In New York. Am renomierten Presbyterian Hospital! Alles was er wollte. Seine Gedanken haben praktisch nur aus Cassie und der Uni bestanden. Nichts sonst. Und nun? Seine Träume haben sich definitiv verändert. Genau wie seine Einstellung vielen Dingen gegenüber. Und der Beginn seiner Assistenzarztzeit ist nicht unwesentlich, aber es ist auch keine so einnehmende Vorstellung mehr, wie noch vor ein paar Monaten. Seit er Xander kennt, viel mehr seit er Xanders Geschichte kennt, hat er den Eindruck, dass es so viel Dinge gibt, die viel wichtiger sind, als nur der Traumjob. Ihm ist auf einmal viel bewusster, wie viel Glück er im Leben schon hatte. Aber was ist schon Glück? Glück ist ganz offensichtlich ein sehr fadenscheiniger Begriff.
Er schnaubt, als er wieder unten im Foyer ankommt. Wow, irgendwie war sein Stresspegel als er hergekommen ist so hoch, dass er nicht gemerkt hat, wie fix und fertig er gerade ist. Wenn ihn schon das Treppe runter laufen schafft, sagt das sicher viel über ihn aus. Warum hat er auch nicht den Fahrstuhl genommen? Der Einfall kommt allerdings zu spät. Gerade will er raus, zum Parkplatz, als er aus den Augenwinkeln auffällig rot gefärbte Haare wahrnimmt. Nile ist noch da. Er steht in einer Ecke des Foyers und spricht mit Lola und der unbekannten Blondine. Er geht auf die kleine Gruppe zu. Lola erblickt ihn als erstes und hebt die Hand zum Gruß.
„Du bist ja noch da?“, stellt Jesse an Nile gewandt fest und hat irgendwie ein merkwürdiges Dejavue. Ja, die Situation hatten sie doch gerade erst.
„Ja“, spricht Nile das offensichtliche auf und weist mit dem Daumen auf die beiden Frauen. „Ich habe mich noch kurz unterhalten.“ Jesse kann sich seinen Teil denken. Er hat wohl eher mit dem hübschen Mädchen auf Krücken geflirtet.
„Du bist…?“, fragt sie just in diesem Moment und schaut ihn mit einem wohlwollenden Lächeln an. „Jesse“, antwortet er knapp. Besinnt sich dann aber darauf, dass das nicht unbedingt eine besonders vielversprechende Art der Kommunikation ist. „Und dein Name ist?“, möchte er also mehr aus Höflichkeit als aus ehrlichem Interesse wissen. Sie will gerade antworten, da kommt Lola ihr zuvor. „Meine kleine, tollpatschige Schwester, Nico.“
„Nico?“, hakt er nach. „Ungewöhnlicher Name.“
„Schöner Name“, beeilt Nile sich zu sagen und wirft der blonden Frau ein strahlendes Lächeln zu. Mensch, der geht ja ran. Nico lacht und schüttelt den Kopf. „Nicole. Aber alle nennen mich einfach Nico.“ Jesse nickt. Das macht Sinn. Dabei sieht sie kurz in Niles Richtung und wickelt sich eine ihre Haarsträhnen verträumt um den Finger. Wow, bei anderen kann die Liebe offensichtlich ganz einfach sein. Er schüttelt den Kopf. Nur bei ihm nicht. „Alles in Ordnung?“, fragt Lola ihn skeptisch, die seine Geste wohl bemerkt hat. „Ja, ich glaube ich muss nur einfach den Kopf frei kriegen. Alles gerade etwas viel.“ Die resolute Krankenschwester nickt verständnisvoll. Auch Nile besinnt sich plötzlich wieder darauf, dass er ja eigentlich noch zu Daniélle wollte und merkt an, das er langsam los muss. Sie verabschieden sich also. Ein wenig neidisch sieht Jesse dabei, wie Nicole und Nile sich Blicke zu werfen. Die beiden sehen sich garantiert wieder. Auch außerhalb des Krankenhauses. Lola schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. Er kann nicht anders, als es zu erwidern.
Draußen will der junge Schotte gerade den Weg zur Bushaltestelle einschlagen, als Jesse ihm anbietet, ihn eben bei Danny abzusetzen. Er ist ja sowieso mit Auto da, Da kann er Nile zumindest eine Busfahrt ersparen. Der Punk kratzt sich verlegen an der Nase und scheint einen Moment abzuwägen, ob er das Angebot annehmen kann, bevor er mit einem Blick zur Bushaltestelle bejaht und sich bedankt.
Als sie in den Hinterhof rollen, in dem Danny Haus liegt und in dem Jesse vor hat zu wenden, fällt ihm unweigerlich ein Fahrrad auf, das an der Hauswand lehnt. Es ist ja nicht so, als ob es nicht tausende Fahrräder diese Models in Silber auf den Straßen Manhattans geben würde. Aber er ist sich ziemlich sicher, dass es nur eine Person in ganz New York gibt, die ein Fahrrad dieses Modelltypen fährt und den Rahmen über und über mit Stickern beklebt hat. Darunter mehrere Male, ziemlich prägnante, die Trikolore. Lange Rede, kurzer Sinn. Also entweder er spinnt, oder da lehnt doch tatsächlich Jos Fahrrad an der Hauswand.
„Alles in Ordnung, Jesse?“, will Nile von ihm wissen. Vermutlich weil er schon ausgestiegen ist und Jesse immer noch im Hof steht. „Ehm, ja, alles gut. Mich hat das Fahrrad da nur irritiert.“ Nile folgt seinem Blick und sagt belustigt: „Ja, das sieht ziemlich scheiße aus.“ Genau in diesem Augenblick kommt ein ihm sehr bekanntes Gesicht aus der Eingangstür geschritten und schimpft: „Hey! Ich verbiete mir jegliche Beleidigung meinem guten alten Drahtesel gegenüber.“ Um gleich darauf ein sehr überraschtes „Jesse, bist du’s?“, folgen zu lassen. Er parkt das Auto endgültig und steigt aus.
Kurz darauf kommt Marie ihrem Freund hinterher und auch Danielle kommt in den Hof, weil er durch die vielen Stimmen aufmerksam geworden ist. Da wird Jesse so langsam einiges klar. Er erinnert sich an Jorells Erwähnung eines Bruders. Und zugegeben, wenn er Marie und Danny so ansieht, sieht er zwischen den beiden Geschwistern doch einige, prägnante Gemeinsamkeiten. Angefangen bei ihrer ungewöhnlichen Augenfarben - wie viele Latinos haben grüne Augen?- bis hin zum Schwung ihrer Oberlippe. Ziemlich überrascht ist er dann, als Marie, mit der er während seiner Zeit an der N.Y University kaum etwas zu tun hatte, ihn tatsächlich erkennt. Liegt aber höchstwahrscheinlich mehr daran, dass Jorell wer weiß was erzählt hat. Auch Nile und Daniélle können ihr Erstaunen über dieses merkwürdige Treffen nicht verbergen. „Woher kennt ihr drei euch denn“, möchte Danny von seiner Schwester wissen. Die zieht irritiert beide Brauen hoch und fragt im Gegenzug: „Na, von der Uni. Querido hermano, sag mir lieber, woher ihr euch kennt?“ Schnell wird klar, das alles ist eine längere Geschichte. So finden sie sich kurz darauf im Wohnzimmer der beiden Geschwister wieder und haben sich eine Menge zu erzählen.
Natürlich will Daniélle als aller erstes wissen, wo Nile und Jesse denn gemeinsam herkommen und schon als das Wort Krankenhaus fällt, kann man ihm ansehen, dass er wohl eins und eins zusammenzählen kann. Als dann auch noch Xanders Name fällt, werden Jorells Augen Tellergroß. Er bedenkt Jesse mit einem Blick, der so viel sagen soll wie: Alter, was geht in letzter Zeit eigentlich bei dir? Marie hingegen hört die meiste Zeit nur still zu und man kann ihr ansehen, dass sie sich nicht ganz sicher ist, was sie von den Bekanntschaften ihres Bruders halten soll. Spätestens bei den Worten Überdosis und Heroin straft sie ihren Bruder mit bösen und besorgten Blicken gleichermaßen. Jesse wusste bisher nicht, dass man zwei solch unterschiedliche Gefühlsregungen in einem Blick vereinen kann. Marie Rodriguez kann das aber ganz offensichtlich. Trotz allem bleibt sie aber überraschend ruhig. Sie fragt Jesse auch nicht nach seiner Rolle in der ganzen Geschichte, aber auch hier ist er sich wieder nicht sicher, wie viel sie wohl von Jorell schon weiß. Einmal kommt auch Mamá Rodriguez ins Wohnzimmer, man kann ihr ansehen, dass ihr dieses Treffen im Wohnzimmer nicht ganz geheuer ist, aber Mutter und Tochter tauschen einige vielsagende Blicke, sowie einige Worte auf Spanisch die Jesse nicht versteht und sie verschwindet wieder. Am Ende des Gesprächs wirken jedenfalls alle gleichermaßen müde und abgekämpft. Das war ziemlich viel auf einmal. Stellenweise fast zu viel, um es verdauen zu können. Sie reden ziemlich lang. Und so langsam wird es spät. Aber als Nile und Jesse sich nun mit Jorell im Schlepptau verabschieden wollen, greift Maria Rodriguez ein. Sie lässt die Gäste nun ganz sicher nicht mehr ohne Abendessen gehen. Jesse und Nile wollen etwas sagen, doch Marie, Danny und Jo schütteln so unmissverständlich wie unauffällig den Kopf, dass sie davon lieber Abstand nehmen. Jesse weiß gar nicht, warum er Cassie überhaupt schreibt, dass es später wird, schließlich sind sie kein Paar mehr, aber das ist wohl noch Macht der Gewohnheit. Sie schreibt nur kurz zurück. Sie fragt, ob alles in Ordnung ist und sagt, sie treffe sich mit Liam. Jesse hat einen Verdacht, wer Liam ist, verschwendet aber keinen weiteren Gedanken daran. Das Abendessen führt allerdings dazu, dass es am Ende doch richtig spät wird, als sie sich dann wirklich verabschieden. Jo schwingt sich auf sein Fahrrad, nicht ohne Jesse das Versprechen abzunehmen, dass sie die Tage noch einmal in Ruhe reden müssen und Jesse setzt Nile noch vor seiner WG ab. Der ist mittlerweile auch in heller Aufregung. Seine Katze ist die letzten Tage wohl etwas empfindlich und randaliert nervös – sofern Katzen nervös sein können – in der WG. Nun, das ist aber ausnahmsweise nicht Jesses Problem.
Völlig fertig kommt er wieder in seiner Wohnung an. Sie wirkt merkwürdig verlassen. Cassie ist noch nicht wieder zurück. Nirgends brennt Licht und Jesse fühlt sich auf einmal unheimlich einsam. Irgendwie konnte er heute mit niemandem so wirklich darüber reden, was ihm solchen Kummer bereitet. Obschon sie den ganzen Tag nichts anderes gemacht haben als zu reden. Da Jesse aber weiß, dass Jo noch etwas für die Uni tun muss und der andere vermutlich ohnehin noch nicht Zuhause ist, möchte er ihn jetzt nicht anrufen. Stattdessen tut er etwas, was er schon lange nicht mehr von sich aus getan hat. Es dauert nicht lange, bevor jemand ans Telefon geht. „Jesse, mein Schatz. Alles in Ordnung bei dir? Ist etwas mit Cassie oder dem Baby?“ „Nein, Mum. Alles gut. Kann ich einfach mit dir reden? Ist Dad gerade in der Nähe?“ „Aber natürlich, was ist los? Warte, ich hol ihn. So, wir hören“ „Hmm, vielleicht setzt ihr euch besser erst hin“, und er beginnt zu erzählen.
Als er Cassie am nächsten Morgen am Frühstückstisch sieht, sie sitzt vor einer dampfenden Tasse Kaffee und tippt angestrengt etwas in ihr Handy, verkündet er unumwunden: „Ich habe gestern Abend das absurdeste Gespräch meines Lebens mit meinen Eltern geführt.“
Cassie sieht überrascht hoch und grinst verschmitzt.
„Guten Morgen erstmal.“
Er grinst ebenfalls. Das ist ansteckend. „Morgen!“, sagt er und muss plötzlich herzhaft gähnen.
„Müde?“, will sie wissen.
„Fix und fertig“, erwidert er.
„So, das absurdeste Gespräch deines Lebens also?“
„Absolut?“
„Wegen des Themas oder wegen der Reaktion deiner Eltern?“
„Beides …, denke ich. Ich meine, vielleicht haben sie schon ein bisschen damit gerechnet, zunindest damit, dass wir nicht heiraten werden. Aber alles andere … und was sagt mein Vater. Ja, schwul hättest du deshalb nicht gleich werden müssen, aber das ist auch okay.“
Schallendes Gelächter. Cassie lacht so herzhaft, das auch Jesse unweigerlich lachen muss.
„Das“, sagt sie „hätte ich deinem Vater gar nicht zugetraut.“
Jesse schüttelt den Kopf. „Glaub mir, ich auch nicht.“
Gut, er hat seinen Eltern nicht alles gesagt. Noch nicht. Das Wichtigste wissen sie jetzt allerdings. Das er und Cassie sich getrennt haben. Aber zum Beispiel noch nicht, dass das Kind vielleicht gar nicht von ihm ist. Und natürlich hat er ihnen auch gesagt,- und Gott das ist ihm so schwer gefallen, weil er nicht wusste wo er anfangen soll - dass es sein kann, das er ihnen irgendwann mal einen Mann statt einer Frau an seiner Seite vorstellen wird. Darauf sollten sie sich irgendwie einstellen können. Seine Mutter war nur erleichtert und meinte, wenn es weiter nichts ist und sein Vater hat diesen Spruch gerissen und gemeint, dass sie wohl auch das überleben werden. Er kann das immer noch nicht glauben. Im Nachhinein fragt er sich, wie er irgendwann einmal glauben konnte, sowas könnte für seine Eltern ein Problem sein. Das Schlimme ist, er hat das ja nicht nur als Teenager geglaubt. Wenn ihn jemand gefragt hätte, wie seine Eltern zum Thema Homosexualität stehen, hätte er wohl gesagt, sie können damit nicht umgehen. Und jetzt? So langsam fragt er sich ja ernsthaft, ob er einfach derjenige war, der damit nicht umgehen konnte? Damals zumindest nicht. Jetzt …, ja, was ist jetzt eigentlich? Es ist eben so. Was soll er machen? Er kann nicht leugnen, dass er Gefühle für Xander hat. Starke Gefühle. Und es klingt lächerlich, weil er fast sechsundzwanzig ist und gestehen muss, dass er diese Gefühle nicht ganz sicher einordnen kann. Er weiß nur, er fühlt sich zu Xander hingezogen und der ist nun ml ganz offensichtlich ein Mann. Also kann er folglich nicht hetero sein. Aber er ist sich auch ziemlich sicher, dass er früher für Cassie ganz anders empfunden hat, als heute. Es gab eine Zeit, da hat er sie geliebt. Und was macht das jetzt aus ihm? Ist er damit Bi? Spielt das überhaupt eine Rolle. Eigentlich nicht. Für ihn jedenfalls nicht. Nur eines ist ihm mittlerweile klar. Er hört ab jetzt einfach auf sein Herz, zumindest was die Gefühlsebene anbelangt. Für den Rest darf der Verstand auch weiterhin zuständig bleiben.
Am Nachmittag fährt er abermals ins Krankenhaus. Maik hat ihn angerufen und ihn gefragt, ob sie sich dort treffen können. Jesse wäre ohnehin heute noch einmal dorthin gefahren, er muss schließlich unbedingt mit Xander reden, also hat er der Verabredung natürlich zugestimmt. Am St. Vincents angekommen, bekommt er eine SMS von Mike.
From: Mike 2pm
Treffen uns in der Cafeteria. Sitze am Fenster, vor dem Notausgang.
Er würde jetzt eigentlich viel lieber erst einmal hoch zu Xander. Das Bedürfnis mit dem Jüngeren endlich zu reden, ist so Vordergründig, dass er sich eigentlich kaum auf ein Gespräch mit Mike konzentrieren kann. Er hat dem Sozialarbeiter aber zugesagt und das Gespräch wird wohl kaum ewig dauern. Abgesehen davon, in seinem Zustand läuft Xander ihm ganz sicher nicht weg. Er hat die Cafeteria kaum betreten, da sieht er Mike auch schon. Der Kerl ist auch nicht zu übersehen. Man kann ihn gar nicht übersehen. Mike lächelt ehrlich, als er ihn sieht und auch Jesse muss gestehen, dass er trotz aller anfänglichen Skepsis und der Tatsache, dass sie ja schon wirklich aneinandergeraten sind, froh ist, den Hünen zu sehen.
„Ich habe Tee bestellt, ich hoffe das ist okay für dich?“, fragt Mike als er sich setzt.
„Sicher. Du hast was von Therapie am Telefon gesagt?“
„Ja, in die Gruppe kann er ja nicht zurück. Würde jetzt auch keinen Sinn mehr machen. Er muss jetzt erst mal in den Entzug und dann braucht er auf jeden Fall eine stationäre Therapie. Er hat viel zu verarbeiten. Ich habe da aber eienn Platz in Aussicht, auch wenn es nicht so leicht ist, ihn da unterzubringen. Aber das muss Xander wirklich wollen, verstehst du? Deshalb macht es vielleicht Sinn, wenn du darüber mit ihm sprichst.“
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wir müssen viel klären, ich habe ihn echt enttäuscht und ich weiß nicht, ob ich ihm überhaupt so viel bedeute. Ob ihm das nicht viel zu viel ist.“, wirft Jesse ein.
„Glaube mir, nur weil du ihm so viel bedeutest, konntest du ihn überhaupt so sehr enttäuschen. Ich meine, ich gebe ja zu, das hast du. Aber, wenn es irgendwer wieder gut machen kann, dann du.“ So geht das Gespräch hin und her. Mike nimmt auf jeden Fall keinen Blatt vor den Mund und Jesse kann nicht gerade sagen, dass er besonders in Lob badet. Zuweilen ist ihr Gespräch richtig unangenehm, aber Mike vergreift sich nie im Ton und alles was er sagt ist wahr. Mike weiß, zugegeben auch so viel besser als Jesse, wie es ist mit einem Menschen wie Xander umzugehen. Und er macht ihm auch unmissverständlich klar, dass es, egal in welcher Beziehung er jetzt letztlich zu Xander steht, in den kommenden Monaten nicht leichter werden wird. Aber langsam begreift Jesse, worauf er sich da eigentlich eingelassen hat. Ganz ohne Fakten aus seinem Medizinbuch, sondern weil er endlich in der Realität angekommen ist. So sehr er Xander auch mag und ihm auch helfen will, Liebe und Verständnis allein und ein wenig medizinische Betreuung werden dem Jüngeren nicht das Leben retten. Dazu gehört sehr viel mehr. Aber er ist bereit, wenn Xander das will, diesen Weg mit dem Achtzehnjährigen zu gehen. Es geht in ihrem Gespräch aber nicht nur um eine mögliche Therapie. Mike vertraut Jesse noch etwas ganz anderes an. Zuerst fragt er ihn, ob er gestern die Zeitung gelesen hat. Jesse bejaht. Dann fragt Mike explizit nach dem Artikel, über den Polizisten der Suizid begangen hat. Wieder nickt Jesse. Und dann schiebt Mike ihm einen Zettel zu. Zerknüllt und dreckig. Nicht größer als seine Handfläche. Er fragt, was das ist und Mike erwidert, den habe Xander bei sich getragen, als man ihn gefunden hat. Er faltet ihn auf. Es ist eine Handschriftliche Nachricht. Eine krakelige Schrift. Unruhig. Es steht nicht viel darauf. Ein Ort. Eine Zeit und der Satz „Du hast die Wahl“.
„Kommt dir der Ort bekannt vor?“, will Mike wissen. Jesse überlegt und dann wird ihm klar, wieso ihm der Ort so prägnant vorkam. Der Zeitungsartikel und Cassies Frage, was irgendwer um diese Zeit an solch einem Ort macht, drängen sich in seine Erinnerung. Und dann schaut er sich die Uhrzeit noch einmal an. Sein Hals wird trocken. Er versucht zu schlucke. Aber er kann nicht. Er sieht zu Mike, wie ein Reh, das ins Scheinwerferlicht blickt. „Glaubst du, Xander hat sich mit dem Kerl - ?“
„Ich glaube es nicht, ich bin sicher. Dieser Officer…, ich bin ihm vor einer Woche auf der Polizeistation begegnet, als ich die Jungs abholen musste. Du kannst dir nicht vorstellen, wie verängstigt Xander war, als ich ihn daraus geholt habe. Und dieser Raynolds wollte mich davon abhalten, Xander mitzunehmen. Hat mich abgefangen und mir irgendwas davon erzählt, es sei nicht nötig, dass ich ihn mit in die Wohngruppe nehme, weil er seinen Vater kennen würde und weil Xander nach Hause kommen müsse.“
Jesse versucht sich an alles zu erinnern, was Xander ihm in Wisconsin erzählt hat. „Xanders Vater ist auch Polizist. Sheriff sogar.“, platzt es aus ihm heraus.
„Ich weiß“, bestätigt Mike. „Alexander Knight war Sheriff des Cape May County. Er ist wegen seiner Alkoholsucht aber freiwillig von seinem Amt zurückgetreten. Ich weiß nicht, was er heute macht.“
„Alexander Knight?“, fragt Jesse überrascht.
„Senior, natürlich“, nickt Mike.
Erst zwei Stunden später klopft er endlich an Xanders Zimmertür. Er liegt nicht mehr auf der Intensivstation, aber in einem Beobachtungszimmer, direkt neben dem Schwesternzimmer. Dem Klopfen folgt keine Reaktion, aber Jesse öffnet die Tür dennoch. Als er eintritt, zerreißt ihn der Anblick fast das Herz. Xander schläft. Es wirkt fast friedlich. Aber überall hängen Kabel und Schläuche und ein Tropf stellt sicher, dass sein Körper genug Flüssigkeit bekommt. Ein Monitor überwacht Puls und Herzschlag. Vorsichtig schiebt Jesse sich einen Stuhl näher ans Bett, der in einer Zimmerecke steht. Für einen Moment betrachtet er Xander einfach nur. Unter seinen Augen liegen tiefe Schatten und die Haut ist bläulich und rot verfärbt. Das schwarze Haar liegt wirr auf dem Kissen und bildet einen Kontrast zu der weißen Haut und den weißen Laken. Die spröden Lippen sind leicht geöffnet. In diesem Bett scheint der schmale Körper fast zu verschwinden. Xander wirkt ausgezerrt und müde und Jesse ahnt, dass er dem Tod vielleicht genauso nah ist, wie dem Leben. Und obwohl das alles nicht gerade für Xander spricht, kommt Jesse nicht umhin zu bemerken, dass er wahnsinnig fasziniert von dem Jüngeren ist. Wie von alleine streicht Jesse Xander eine Strähne des viel zu langen Ponys aus dem Gesicht. Eine Reaktion folgt sofort. Xander öffnet flatternd die Augen. Es scheint ihn mühselige Anstrengung zu kosten, den Kopf langsam in Jesses Richtung zu drehen. Jesse zieht seine Hand ebenso langsam zurück. Die braunen Augen nehmen ihn augenblicklich gefangen.
„Hey“, flüstert er leise.
„Hey“, kommt es kratzig von Xander zurück. Jesse kann hören, dass ihm das Sprechen schwer fällt.
Er nimmt das Glas vom Schränkchen neben dem Bett, füllt es mit Wasser und reicht es Xander. Der richtet sich gerade unter großer Anstrengung auf. Jesse tut es fast weh, ihm dabei zuzusehen. Obwohl da auch eine leise Wut, ganz tief in ihm ist, die feststellt, dass Xander ganz alleine an dieser Misere schuld ist. Warum musste er es auch wieder tun? Er hätte sich all diese Qualen doch ersparen können. Doch er kennt die Antwort ja. Weil es eine Sucht ist. Die leise Wut bleibt dennoch. Sie bekommt nur keine Überhand. Das nützt niemandem.
Vorsichtig trinkt Xander einen Schluck. Jesse beobachtet ihn dabei. In ihm schreit es förmlich danach Xander nicht mehr aus den Augen zu lassen, damit dem Achtzehnjährigen nichts mehr passiere kann. „Ich würde ja fragen, wie es dir geht …“, fängt er an. „Aber du kannst es dir ja denken?“, beendet Xander den Satz. „Ja. Hast du starke Schmerzen?“ „Ich nehme sie erst so langsam wahr. Irgendwie schon.“, erwidert er und Jesse kann ihm ansehen wie viel Kraft es ihn schon kostet, aufrecht im Bett zu sitzen. Er nimmt die Fernbedienung an der Seite des Bettes und fährt die Rückenlähne hoch. Augenblicklich lehnt Xander sich zurück. „Danke“, murmelt er. Sein Blick sieht aber an ihm vorbei. Er fokussiert irgendeinen Punkt in der Ferne. Man könnte glauben, er blickt aus dem Fenster hinter ihm, aber Jesse weiß es besser. Jesse folgt dem Blick. Dabei fällt ihm eine zerknüllte Zeitung im Mülleimer auf, aber das ist nebensächlich. Plötzlich seufzt Xander und lässt den Kopf hängen. „Ich verstehe euch einfach nicht.“, flüstert er und Jesse weiß, dass er damit alle meint. Nile, Danny, Mike, ihn. „Warum seid ihr immer noch da?“
„Das machen Freunde so. Muss ich das wirklich erklären?“
Xander schüttelt den Kopf, kneift aber sofort die Augen zusammen. Das war wohl keine gute Idee.
„Warum bist du noch da?“, will er dann zögerlich wissen, sieht ihn dann aber eindringlich an. Diese Augen hypnotisieren ihn regelrecht. Fast beiläufig kontert er:
„Warum sollte ich weg sein?“ Xander lacht freudlos.
„Weil du verlobt bist und ich schon wieder Scheiße gebaut habe?“, schlägt er vor.
„Oh ja, das. Das mit der Scheiße kannst du laut sagen. Ich weiß ehrlich gesagt auch gar nicht, ob ich nicht mindestens so wütend bin, wie ich erleichtert bin, aber das ist eine andere Geschichte.“
„Und was ist mit deiner Verlobten?“, vergisst Xander nicht, das Thema noch einmal aufzugreifen.
„Ach ja. Wir gehen in Zukunft getrennte Wege. Das wollte ich dir Samstagnacht ja schon sagen, aber du hast mir nicht zugehört.“
„Was?“ Xander schluckt. Er sieht Jesse mit riesigen Augen an, als wolle er herausfinden, ob Jesse gerade scherzt.
„Wegen... mir?“, will er dann vorsichtig wissen.
„Auch. Größtenteils, ja. Aber vor allem, weil wir aufhören mussten uns selbst zu belügen. Wir hätten uns beide nur unglücklich gemacht, denke ich.“
„Aber, ...“, stammelt Xande, „das verstehe ich jetzt nicht. Liebst du sie denn nicht?“ Jesse versucht ein vorsichtiges Lächeln. Er kann schon begreifen, warum Xander das nicht so recht verstehen kann. Schließlich hat er ihm damals im Auto doch genau deshalb eine Szene gemacht. Zumindest muss er das denken.
„Nicht mehr.“, stellt er also fest. „Ich denke, …“ und es ist das erste Mal, dass er das so ausspricht „wir hätten nur geheiratet, weil wir glaubten, dass man das von uns erwartet.“ Und dann stöhnt er laut und gibt zu „Okay und vielleicht wollte ich es mir einfach leicht machen und war nicht dazu bereit den Tatsachen in die Augen zu sehen. Ich war ein Idiot.“ Xanders Mund steht offen. Er starrt Jesse an und weiß offensichtlich nicht, was er sagen soll. Und dann stehen ihm plötzlich die Tränen in den Augen und er fängt an zu weinen. Jesses lächeln ist sofort verschwunden.
„Xander.“
„Ich bin ein Idiot“, schluchzt er. „Ein viel größerer als du. Ich stoße alle Leute die mir helfen wollen ständig vor den Kopf, ich laufe lieber weg als nachzudenken. Du hattest damals Recht. Ich renne immer vor meinen Problemen davon. Und dann wundere ich mich, wenn sie mich einholen und mit einer Waffe vor mir stehen.“
Jesse schluckt, er kann nur erahnen, was das heißen soll. Aber er unterbricht Xander nicht. Er lässt ihn reden. Denn das hat er bitter nötig.
„Ich habe so viel scheiße gebaut, Jesse. Dinge die ich wahrscheinlich nie wieder gut machen kann. Und ich will mich nicht erinnern, weil ich Angst habe, der Wahrheit ins Gesicht zu blicken. Aber die Angst und die Erinnerungen fressen mich regelrecht auf. Sie sind wie Dämonen und ich habe ihnen nichts entgegenzusetzten.“
Die Tränen laufen ihm über die Wangen. Die Haut wird vom Salz der Tränen gereizt und rot. Jesse würde den Jüngeren gerne in den Arm nehmen, weiß aber nicht, ob er das darf. Er versucht die richtigen Worte zu finden.
„Selbst wenn du ihnen nichts entgegenzusetzen hast...“, er zögert dann sagt er „das spielt keine Rolle, denn du musst dich ihnen nicht mehr alleine entgegenstellen.“ Xander sieht ihn aus Tränen verhangenen Augen an.
„Du hast keine Ahnung, was ich getan habe“, flüstert er leise. Jesse spürt den Ernst, die Bitterkeit und die Angst in Xanders Stimme regelrecht. „Was hast du getan, Xander?“
„Ich habe gewusst, wo Nikki hinwill. Raynolds hatte Recht. Vielleicht mit allem. Vermutlich habe ich alles, was danach passiert ist auch verdient. Weil ich’s doch geahnt habe, verstehst du? Und ich habe damals niemanden etwas gesagt. Und die Hundestaffel hat ihre Spur am Strand verloren. Und jetzt ist sie fort. Für immer!“ Xander redet sich fast in Rage. Jesse hat das Gefühl eine bleierne Last auf Xanders Schultern sehen zu können. Er weiß nicht, was er erwidern soll. Wenn er es wirklich geahnt hat und nichts gesagt hat was bedeutet das dann? Jesse überlegt und kommt dann zu einem Schluss. „Xander, hör zu. Ich verstehe, dass du dir Vorwürfe machst. Gott, vielleicht hättest du wirklich etwas sagen müssen aber und das darfst du nicht vergessen, du warst noch ein Kind. Dich hat die Situation mindestens genauso überfordert, wie jeden Erwachsenen. Und, das hast du selbst gesagt, du wusstest doch stundenlang nicht einmal, dass sie weg ist. Niemand hat dir etwas gesagt oder hat dich gefragt und du weißt auch nicht, ob es etwas geändert hätte. Das kannst du nicht wissen. Selbst wenn es das nicht alles wieder gut macht, ist das eine Tatsache. Es war nicht deine Schuld. Es war vermutlich niemandes schuld. Manchmal ist dieses Leben einfach nicht fair.“ Er denkt an Onkel Henry, der viel zu früh gehen musste und ohne den er Xander nie begegnet wäre. „Es nimmt uns manche Menschen einfach viel zu früh. Aber dafür kann keiner etwas.“
Xander schluchzt wieder und dieses Mal nimmt Jesse ihn in den Arm. Die Berührung lässt den Jüngeren erst zusammenfahren, Jesse will sich schon von ihm lösen, als er den Kopf langsam gegen seine Brust sinken lässt. Jesse denkt nach und stolpert über etwas anderes, was Xander gesagt hat.
„Was meintest du mit, du hast alles verdient, was danach passiert ist?“ Xander sagt nichst. Vergräbt den Kopf an Jesses Brust. Aber der braucht jetzt endlich Antworten. Vorsichtig greift er Xander an der Schulter. Schiebt ihn ein Stück von sich weg. Sodass er ihm in die Augen sehen muss. „Was meintest du?“, will er wissen. Xander schluckt. „Alles eben. Die Sache mit meinem Dad“, er macht eine ausholende Handbewegung und weicht Jesses Blick aus. „Xander …“. „Mehr gibt es nicht zu erzählen!“, erwidert er plötzlich verschlossen. Nein, dieses Mal gibt er nicht einfach nach. „Mehr gibt es nicht zu erzählen? Samstagnacht hast du dich mit Officer Raynolds getroffen. Du sprichst davon, dass er Recht hatte. Du sprichst von Schuld. Von Dingen, die du verdient hast. Raynolds ist tot. Und da gibt es nichts mehr zu erzählen?“ Xander sieht Jesse entsetzt an. Der wirft einen kurzen Blick zum Mülleimer. „Glaubst du, ich kann nicht eins und eins zusammenzählen?“ Er glaubt es nicht, wirklich nicht, aber er muss Xander jetzt vielleicht einfach provozieren. „Was hast du noch getan? Hast du etwas mit seinem Tod zu tun?“ Xander weicht mit einem Mal vor Jesse zurück. War das zuviel des Guten? Er sieht entsetzt aus. „Nein!“ Nur noch ein wenig. „Ach ja?“
„Gott, ich hätte ihm gerne eine Kugel um die Ohren gehauen“, gesteht Xander mit Nachdruck. „Aber ich habe es nicht getan! Nach allem was er getan hat. Ich habe es nicht getan.“ Xander schüttelt sich. Sein ganzer Körper bebt, als er fortfährt: „Das hat er doch von mir erwartet. Rache ist schließlich das perfekte Motiv. Er wäre sowieso bald gestorben, aber so hätte er mir zumindest noch eins ausgewischt und mein Leben vollends ruiniert.“ Er atmet schwer. Seine Stimme wird wieder leiser. „Ich habe es nicht getan. Ich habe gar nichts getan. Ich weiß nicht, warum er am Ende abgedrückt hat! Wirklich nicht.“ Er blickt auf. Sieht in Jesses Augen und sackt dann fast kraftlos in sich zusammen. Jesse beißt sich auf die Lippen. Er muss sich zusammenreißen. „Bitte, Xander. Stoß mich nicht weg. Mache diesen Fehler nicht.“ Xander rauft sich die Haare. Sein Blick ist verzweifelt, als er krächzt: „Was?“
„Wieso Rache? Was hat dieser Mann getan?“ Xander zögert. Er vergräbt die Hände in der Bettdecke. Krallt sich regelrecht darin fest. Diese Geste kennt Jesse bereist. Wie ein Rettungsanker, schießt es ihm wieder durch den Kopf. „Xander?“
„Er hat mich angefasst“, platzt es aus Xander heraus und dann brechen alle Dämme.
Sie reden bis die Besuchszeit vorbei ist. Sie reden auch die nächsten Tage. Immer wieder. Zwischendurch kommen auch Nile, Danny und Mike zu Besuch. Aber vor allem sind es Jesse und Xander die sich treffen. Und eben reden. Obwohl Xander noch mit den Entzugserscheinungen zu kämpfen hat. Mit jedem Wort wird Jesse klarer, wie viel Xander in den letzten Jahren durchgemacht hat. Dass es Dinge gibt, die man nicht wieder gut machen kann. Dass sie es nicht alleine schaffen werden. Dass Xander wirklich eine Therapie braucht, weil er die Geschehnisse sonst nie verarbeiten wird. Am vierten Tag tasten sie sich an dieses Thema ran. Es wäre gelogen zu behaupten, Xander wäre von der Vorstellung begeistert. Aber er sieht auch ein, das es nicht wie bisher weitergehen kann. Eine weitere Überdosis wäre sein Tod und er will leben. Jetzt langsam wieder immer mehr. Jesse spürt es ganz deutlich. Noch etwas spürt er ganz deutlich. Er will ein Teil davon sein. Aber vielleicht kann das nur die Zeit zeigen. Eines hat er jedoch begriffen. Glück ist ein relativer Begriff. Niemand kann dir sagen, wann und wie viel Glück du im Leben haben wirst. Glück äußert sich auf ganz verschiedene Arten und Weisen. Manchmal ist Glück eine Begegnung des Schicksals. Und manchmal muss man Geduld haben um am Ende glücklich zu werden. Er hat Geduld.