Seit Hans denken konnte, träumte er davon, eigene Hühner und, natürlich, einen prächtigen Hahn sein eigen zu nennen. Hühner, die zufrieden am Boden scharrten, Körner pickten, Eier legten und gackerten. In seinen Träumen krähte der Hahn früh am Morgen, beschützte tagsüber seine Hühner und war im Übrigen so schön wie stolz und eitel.
Niemand wusste, warum Hans – bereits als Hänschen – immer von seinen Hühnern sprach, aber man liess ihn gewähren. Hühner und Hähne, das wusste man aber in der Fabrikstadt, in der er aufwuchs, spazierten nicht einfach so daher in den dunklen, engen Gassen. Man fand sie gegebenenfalls auf dem Land, bei den Bauern, aber das war weit weg. In der Fabrikstadt hatte man aber keine Zeit, aufs Land zu fahren und Hühner, Hähne und andere Tiere zu bestaunen. Das Leben bestand aus langen, nicht enden wollenden Arbeitstagen, kurzen Nächten und kargen Mahlzeiten. Die Menschen waren bleichgesichtig, ihr Gang gebückt; sie lebten das freudlose Leben der Fliessbandarbeiter, gewöhnt an Kunstlicht, Lärm der Maschinen, unangenehme Gerüche. Träume kannten sie nicht.
Hänschen wuchs heran, umgeben von dunklen Häusern, stets müden Menschen, die trotz all ihrer harten Arbeit ständig in Sorge um ihr tägliches Brot waren. Wenn ihm all diese Schatten zu schwer wurden, zog er sich zurück, legte sich auf sein Bett und träumte…
Er träumte von seinem Hahn, der stolz auf dem Miststock krähte und von seinen Hühnern, die Körner pickten, Eier legten und gackerten. Manchmal fand er einen Fetzen Papier und einen Schreibstift – dann zeichnete er voller Hingabe ein, zwei Hühner und einen Hahn und hängte sein Werk über seinem Bett auf. Da Papier aber Mangelware war, begann er, auch an die Wände und auf die Fensterscheiben seines Zimmers zu malen – nicht gerade zur Begeisterung seiner Mutter. Heftigen Streit löste auch sein Versuch aus, ein Ei, ein so kostbares Ei, unter seinem Kopfkissen auszubrüten…
Aus Hänschen wurde Hans. Auch er verschwand nun tagsüber in den dunklen Schluchten der Fabriken, schlief kurz, ernährte sich karg. Aber tief in ihm drin blieb der Traum nach seinem eigenen Hühnervolk lebendig, obwohl er keine Ahnung hatte, wie er ihn je verwirklichen könnte.
Es kam der Tag, an dem sich Hans ohne Arbeit auf den Strassen der Fabrikstadt wiederfand. Mit ihm ereilte unzählige andere Arbeiter dasselbe Schicksal. Die Zeiten waren schlecht geworden, viele Fabriken schlossen ihre Pforten.
Maulend, besorgt, von Existenzängsten geplagt, standen die Männer beisammen. Doch alles Diskutieren und Lamentieren brachte nichts. Sie mussten sich irgendwie eine neue Existenz aufbauen. Schweren Schrittes ging auch Hans durch die Fabrikstadt mit ihren engen Gassen. Sein Herz brannte. Wie weiter? Was wollte er eigentlich in seinem Leben? Sinnend stieg er in seine Kammer hinauf und legte sich auf sein Bett, doch der Schlaf wollte nicht kommen.
Irgendeinmal musste er doch eingenickt sein, denn auf einmal befand er sich vor einem hübschen Häuschen auf dem Land, betrachtete die Weite des Himmels und spürte die Wärme der Sonne. Er setzte sich auf eine kleine Bank unter dem Apfelbaum im Garten neben dem Häuschen, zog an seiner Pfeife – und genau in diesem Augenblick krähte ein Hahn. „Nid na la g‘winnt!“ schien er ihm zuzurufen.
Hans schoss aus seinem Traum auf, war sogleich hellwach. Leise lachte er vor sich hin. Jetzt wusste er, was tun. Rasch packte er seine Habseligkeiten in ein Bündel, trank einen zwar dünnen, aber heissen Kaffee, dann verliess er die Fabrikstadt.
Der Weg aufs Land war wirklich weit, aber doch nicht so weit, wie er gedacht hatte. Und da er ja jetzt Zeit hatte, bewunderte er unterwegs die Dörfer mit ihren bunten Blumen vor den Fenstern, den sprudelnden Brunnen und den spielenden Kindern. Und was ihn natürlich besonders freute: Überall liefen Hühner frei herum, hörte er Hähne krähen. Hans wähnte sich im Paradies.
Er fand eine Anstellung als Knecht bei einem Bauern. Die Arbeit war hart und doch spürte Hans, dass es damit seine Richtigkeit hatte. Langsam lernte er, welche Rolle die Jahreszeiten beim Anbau von Getreide und Gemüse spielen, wie Kühe, Schafe und Ziegen zu pflegen sind, und, sein Herzensthema, wie Hühner und Hähne am besten gedeihen. Die Bäuerin gewöhnte sich daran, dass ihr Knecht aus der Fabrikstadt die merkwürdige Angewohnheit hatte, Hühner und Hähne an die Wände und auf Fensterscheiben zu malen.
Die Erinnerungen an die Fabrikstadt mit ihren dunklen Gassen, an die Arbeit an den lauten Maschinen, an das Leben, das eigentlich gar keines gewesen war, rückten langsam in die Ferne.
Immer noch aber träumte Hans seinen Traum von seinem eigenen Hühnervolk. Den Traum, der ihn seit seiner Kindheit begleitete und den er damals, bevor er die Fabrikstadt verlassen hatte, so deutlich geträumt hatte.
Während einem seiner sonntäglichen Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung entdeckte Hans eines Tages ein kleines Haus. Ein Apfelbaum stand im etwas verwilderten Garten, eine kleine Bank neben der Haustüre schien zum Verweilen einzuladen. Hans traute seinen Augen kaum: Es war das Häuschen, das er im Traum gesehen hatte!
Hans begann zu sparen. Regelmässig legte er Geld zur Seite, denn dieses Häuschen, das wusste er tief innen, war sein Häuschen.
Die Jahre gingen ins Land. Hans sparte fleissig und hielt an seinem Traum fest. Und tatsächlich: Als die Besitzerin des Häuschens starb, hatte er genug Geld beisammen, um es zu kaufen.
Schwer zu beschreiben, wie er sich fühlte, als er dort einzog. Zumal er vorher auf dem Markt gewesen war und sich dort – wen wundert’s – drei Hühner und einen Hahn erstanden hatte. Er setzte sich auf die kleine Bank unter dem Apfelbaum, zog an seiner Pfeife, schaute seinen Hühnern zu, wie sie Körner pickten, bewunderte seinen Hahn, der ebenso schön wie stolz und eitel war, genoss die wärmenden Sonnenstrahlen, die Weite des Himmels - wenn ein Beobachter genau hingeschaut hätte, wären ihm die kleinen Freudentränen aufgefallen, die sich den Weg durch Hans‘ zerfurchtes Gesicht suchten.
Es folgten glückliche Jahre. Hans bestellte seinen Garten, schaute gut zu seinem Hühnervolk, welches prächtig gedieh, sass auf der kleinen Bank unter dem Apfelbaum. Immer noch malte er an Wände und auf Fensterscheiben, zu den Hühnern und Hähnen gesellten sich aber jetzt auch Worte, manchmal Sätze.
Es ist ein Sonntagmorgen, an dem die Dorfbewohner ihn in seinem kleinen Haus finden, friedlich eingeschlafen. Sie schauen sich um, betrachten all die Bilder von Hühnern und Hähnen, die Worte und Sätze an den Wänden und auf den Scheiben. Sie stehen da und staunen. Auf einmal fällt ihr Blick auf das Fenster, auf dem zu lesen steht: „NID NA LA G‘WINNT!“
Sie sehen die Hühner, die im Garten draussen zufrieden scharren und picken, hören den Hahn krähen und verstehen:
Hans‘ Traum hatte sich erfüllt.