Langsam lenkte der Vampir den Geländewagen die Straße in das Dorf hinunter und Garrett konnte an seinem Gesicht ablesen, dass hunderte Erinnerungen auf ihn einzuströmen schienen. Henrys dunkle Augen beeilten sich, alles zu erfassen und hin und wieder machte er ein aufmerkendes Geräusch, so als würde er etwas wiedererkennen.
Dunmoor verlieh Garrett das Gefühl, eine Reise in der Zeit zurück gemacht zu haben. Die kleinen, gemütlich aneinander gedrängten Häuser waren aus groben Steinen gefertigt worden. Manche hatten sogar Dächer aus Stroh oder Hauswände über und über mit Efeu bewachsen und ungezähmte Vorgartenrabatten an der ordentlich geteerten Straße gaben dem Ganzen etwas Ursprüngliches. Ganz anders als die fein geordneten und symmetrischen Gärten in englischen Dörfern. Die winzigen Fenster der Gebäude sahen aus wie Augen unter kräftigen Brauen, die die Besucher argwöhnisch zu verfolgen schienen.
Hätten am Straßenrand keine Laternen gestanden, an den Häusern keine Satellitenschüsseln gehangen und hätte es keine Strommasten gegeben, würde man tatsächlich denken können, man wäre im Mittelalter gelandet. Doch das Licht hinter den schnuckeligen kleinen Fenstern, das die Bewohner hier und dort bereits eingeschaltet hatten, bewies dem jungen Mann zusätzlich, dass sie noch immer dort waren, wo sie sein sollten.
»Das ist irre«, murmelte Garrett beim Blick nach draußen.
»Es ist dichter bebaut als früher. Doch die Häuser sehen fast genauso aus wie damals.«
»Meinst du, manche sind noch aus deiner Zeit?«
Henry schürzte die Lippen, als er von der Hauptstraße in eine schmale Seitengasse mit Kopfsteinpflaster abbog. Das Navigationsgerät quatschte ihm den Weg vor.
»Es würde mich wundern. Siebenhundert Jahre ... Vielleicht hat man die ursprünglichen Gebäude ausgebaut, deren Fundamente verwendet. Aber ich erinnere mich daran, dass es damals viel weniger Häuser gab. Wir waren ein winziger Flecken, nur ein paar Steinhütten, die einen Garten hintendran hatten für das Nötigste, eine Kirche, einen Schmied, ein einfaches Gasthaus ...«
»Also erinnerst du dich an nichts mehr?«
Der Vampir lächelte. »Doch. Die Hauptstraße gab es damals schon. Sie war breit und nicht gepflastert, sondern nur aus Lehm. Im Hochsommer, wenn es trocken und heiß war, staubte es unglaublich. An der ...«, Henry grübelte, »an der linken Seite der Straße standen die Häuser in einer Reihe und hinter ihnen erstreckten sich die kleinen Gemüsegärten. Weiter dahinter waren kleine Weiden, wo die Menschen, die das Glück hatten, ein paar Schafe zu haben oder Ziegen, ihr Vieh laufen lassen konnten. Meist standen da auch kleine Ställe. So wie man es manchmal heute noch hat. Auf der rechten Straßenseite gab es neben einigen kleinen Wohnhäusern mit Garten die Kirche. Sie stand frei, mitten auf einem Platz und drumherum stand das, was man heute wohl als Geschäfte bezeichnen würde. Ich erinnere mich an die Schmiede und einen einfachen Krämer, der auch Apotheker war. Ein Gasthaus gab es, mit einer Taverne. Mein Vater war dort häufig ...«
»Das klingt idyllisch«, lächelte Garrett und lehnte sich gemütlich in dem Sitz zurück.
»Nicht, wenn du damals gelebt hast. Die Menschen hier waren arm. Es klingt hübsch, aber die Gärten waren klein. Wenn jemand Vieh besaß, waren es meist Schafe oder Ziegen, die wegen Wolle und Milch gehalten und nicht gegessen wurden und ansonsten eher Federvieh. In den warmen Monaten war das Leben in Ordnung. Doch im Winter reichte selbst das milde Klima hier für Gemüseanbau nicht. Oftmals gab es den ganzen Winter lang Hafergrütze, Rüben oder getrockneten Fisch. Für Brot brauchte es Mehl und wenn man nicht selbst Getreide anbaute, musste man es kaufen. Und das war teuer. Schweine zum Schlachten hatten wir keine und unsere Hühner waren Eierlieferanten und wurden nur geschlachtet, wenn es neue Küken gab. Außerdem hatte ich damals, bevor ich meine Familie verließ, zehn Geschwister. Nahrung war immer knapp, denn die Vorräte mussten meist bis April reichen, bevor man neues Gemüse anbauen konnte.«
»Und Kartoffeln?«
Henry lächelte ihn von der Seite an. »Kartoffeln gab es nicht. Die haben erst die spanischen Eroberer aus Amerika mitgebracht ...«
»Oh ... richtig. Sorry.«
Der Vampir lachte auf. »Es wurde besser, nachdem man die in Europa eingeführt hatte. Davor gab es halt nur Pastinaken und so. Aber ich sage dir ... egal wie lange man das kocht, es ist scheußlich.«
»Na umso besser, dass du es überlebt hast«, grinste Garrett.
»Zumindest meine Ernährungssituation besserte sich etwas, als ich ins Kloster kam. Ich hatte wenig, aber bekam immerhin jeden Tag zweimal etwas, sogar Fleisch, wenn nicht gerade ein Fastentag war. Das war zuhause oft anders. Die Leute heute würden gar nicht mehr glauben, zu was man bereit gewesen wäre für ein Stück Brot.«
»Ich glaub’ es gern. Im Geschichtsunterricht haben wir nur gelernt, was die Menschen damals alles gegessen haben. Es klang immer so leicht, von wegen, das und das war verfügbar und jeder Mensch damals hatte zu diesem und jenem Zugang. Es klingt nach Vielfalt in der Ernährung, von Salz und Gewürzen ist die Rede gewesen. Doch nicht davon, dass das alles zu bezahlen gewesen ist und dass die meisten einfachen Menschen einen Großteil dessen, was sie anbauten und erwirtschafteten, abzugeben hatten.«
»Richtig. Meine Familie hatte das ... nennen wir es Glück, dass sie kein nennenswertes eigenes Land hatte. Das heißt, wir betrieben keinen Ackerbau. Mein Vater war Fischer. Und Fisch war damals, weil es nicht ... hm ... prestigeträchtig genug war, von Abgaben ausgenommen. Das hieß, alles, was mein Vater fing, landete in unseren Mägen oder - frisch oder geräuchert - auf dem nächsten Markt. Wir konnten kaum Naturalien abgeben, vielleicht hier und da mal ein Huhn, also fielen unsere Steuern in Geld aus. Und das musste eingenommen werden.«
»Also musste dein Vater recht viel verkaufen?«
»Ja ... meine Geschwister und ich waren eigentlich unser ganzes Leben lang ziemlich unterernährt.«
»Sind viele verhungert? Ich hab dich das nie gefragt ...«
»Nicht direkt. Aber es hat sicher einiges begünstigt. Es ist erstaunlich, dass nicht mehr von ihnen im Kleinkindalter gestorben sind. Eigentlich nur eine ... ich ... ich glaube, ich hab ihren Namen vergessen ...« Das schien den Vampir betroffen zu machen und er seufzte leise, als das Navigationsgerät laut verkündete, dass sie ihr Ziel erreicht hätten.
Beide Männer wandten den Kopf zu ihrer Linken und fanden sich vor einem hübschen mehrstöckigen Fachwerkhaus wieder, dessen Fenster heimelig erleuchtet waren und von blühenden Blumenkästen geziert wurden.
»Goodfellow Inn«, murmelte Garrett und eine kribbelige Unruhe hatte ihn erfasst. »Los, lass uns aussteigen und einchecken. Ich mag nicht mehr im Auto sitzen.«
Der Vampir lenkte den Wagen auf einen Parkplatz, der zu der Pension gehörte und sie stiegen aus. Während der junge Mann die Reservierung aus seinem Rucksack kramte, nahm Henry ihr Gepäck.
»Das lässt mich so an eine mittelalterliche Schenke denken, ich fühle mich wie auf Zeitreise«, lachte Garrett und hielt seinem Freund die Tür auf.
»Gasthäuser im Mittelalter waren von Mäusen verseuchte Löcher«, murmelte Henry, »in denen es von Bettwanzen wimmelte.«
»Oh, so etwas werden Sie bei uns nicht finden«, lachte ihnen eine junge Frau entgegen , die aus einem Seitengang gelaufen kam und Garrett die Hand gab. »Guten Abend, ich bin Abbie Cairns.«
»Verzeihen Sie, Miss Cairns, das bezog sich nicht auf dieses Haus«, stammelte dieser und folgte der Dame zum Rezeptionstresen.
»Ich habe es nicht so aufgefasst. Also ... Sie hatten reserviert?«
»Ja, auf den Namen Pinkerton für zwei Personen.«
»Richtig, hier. Für vier Wochen.«
»Genau. Wir wollten uns die Gegend mal ganz ausgiebig ansehen.«
»Hm ... da werden Sie weiter in den Norden müssen. Bis auf eine alte Klosterruine haben wir hier in der direkten Nähe nicht sehr viel zu bieten. Aber es ist schön, dass Sie da sind. Hier sind Ihre Schlüssel, für die Haustür ist auch einer dabei, damit Sie nicht zu sehr an Zeiten gebunden sind. Würden Sie bitte hier unterschreiben?« Die junge Frau drehte das Buch zu den beiden Männern herum und legte den Zimmerschlüssel daneben.
Abbie machte ein überraschtes Geräusch, als sie die Namen anschließend las. »St. John? Sind Sie Ire?«, wandte sie sich an Henry, der nickte.
»Ja. Ich komme aus der Gegend. War aber eine schiere Ewigkeit nicht mehr hier ...«
»Na dann, nochmals willkommen. Ihr Zimmer ist die Treppe hinauf, die zweite Tür links. Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?«
Henry schmunzelte. »Nein, das schaff ich schon, danke.«
»Gut, dann wünsche ich einen angenehmen Abend. Sollten Sie noch etwas zu essen wollen, lassen Sie es mich wissen. Die Küche ist bereits geschlossen, aber ich kann Sandwiches und Braten bringen lassen.«
»Danke, das ist wirklich nett«, Garrett nahm dem Vampir seine Tasche ab und machte sich an den Treppenaufstieg. Es war inzwischen beinahe acht Uhr, er war erschöpft, hungrig und wollte sich nur noch lang machen.
»Selbst hier drin bekommt man das Gefühl, eine Zeitreise gemacht zu haben. Das ist so vintage, dass es fast antik ist. Mir gefällt das«, gluckste er, als er die dunklen holzvertäfelten Wände entlang blickte, an denen Bilder mit mittelalterlichen Jagd- oder Landwirtschaftsszenen hingen. Die Lampen, die mattes gelbes Licht gaben, waren in Fassungen gehalten, die beinahe wie Öllampen aussahen.
»Womöglich ist das Dunmoors Trick, um Touristen anzulocken. Die ganze Stadt wirkt so zeitversetzt und unwirklich ...«
Garrett öffnete die Zimmertür und sie betraten einen hübschen Raum, der ein breites, rustikales Bett enthielt. Ein Krug mit Sommerblumen stand auf dem Couchtisch, der von einem Sofa und Sessel eingerahmt wurde, von denen aus man gemütlich fernsehen konnte. Ein großer Schrank bot genug Platz für die mitgebrachten Klamotten und eine Tür führte in ein modernes und sehr sauberes Bad mit einer Wanne.
»Na zumindest ist es kein Holzzuber«, lachte der junge Mann, als er wieder aus dem Nebenzimmer kam, sich auf das Bett setzte und ein paar Mal auf und ab hüpfte. »Und die Matratze ist auch prima.«
Garrett fing an zu grinsen und zog Henry, der noch dabei war, Schuhe und seine leichte Jacke auszuziehen, zu sich in die Kissen.
»Vielleicht sollten wir das Abendessen einfach ausfallen lassen«, schnurrte er und drückte dem Vampir die Lippen auf den Mund.