Es dauerte eine Woche, bis Garrett die Decke auf den Kopf zu fallen begann. Er hatte in Dunmoor so ziemlich alles fotografiert, was sehenswert gewesen wäre, gewöhnliche und ungewöhnliche Dinge, und ansonsten seine Zeit mit Henry am Strand verbracht. Der Reiz des Fremden war jedoch irgendwann verbraucht und nun lag der junge Mann schwer seufzend auf dem Bett, ließ die Beine baumeln und starrte an die Decke.
»Was tun wir?«, fragte er zum zehnten Mal.
»Sag’ du es mir. Ich richte mich ganz nach dir.«
»Hmmmm«, grübelte Garrett laut und setzte sich schließlich auf. »Lass’ uns in einen Garten fahren. Du sagtest doch, viele Anwesen hier hätten welche, die der Öffentlichkeit zugänglich wären. Oder wir fahren nach Dublin, shoppen. Mir gehen langsam die Speichermedien aus. Ich hätte Lust auf einen Einkaufsbummel und ein schönes Essen irgendwo. Was sagst du?«
Henry, der nur in Shorts in einem Sessel saß und sich durch das Vormittagsfernsehprogramm zappte, warf schließlich die Fernbedienung zur Seite und nickte.
»Ja. Das ist eine gute Idee. Lass uns in die Stadt fahren. So weit ist es nicht. Ich war häufiger dort als hier. Und ein Garten wäre auch eine Idee. Für die Tage dann. Ich hab langsam genug von diesem ewigen Schafgeblöke.«
Der Vampir, dessen Ohren vielfach stärker waren als Garretts, beschwerte sich schon seit Tagen über die Tiere, die besonders nachts auf den Weiden Lärm machten. Dabei hatte der junge Mann gedacht, die würden in der Nacht schlafen, wie alle anderen auch.
Schon zwei Mal war der Unsterbliche im Schutz der Dunkelheit draußen gewesen und hatte sich an einem der Schafe gütlich getan. Doch das hatte ihren Krach nicht vermindert.
»Na dann ziehen Sie sich mal etwas an, schöner Mann. So halb nackt nehme ich dich nirgendwo mit hin. Sonst schaut dir noch einer was weg«, Garrett grinste und musste schlucken, als Henry nickend aufstand, sich im Gehen seiner Hose entledigte und sie ihm zuwarf, bevor er im Badezimmer verschwand und kurz darauf die Dusche zu hören war.
»Du kleiner Scheißer«, knurrte der junge Mann zittrig und legte die Shorts beiseite. Dann musste er lachen. Solange er jedes Mal noch rot wurde und Hitze in sich spürte, wann immer der Vampir so etwas tat, brauchte er sich keine Sorgen machen, dass ihre Beziehung irgendwann langweilig werden würde.
Henry konnte ihn immer noch, selbst mit kleinen Gesten und anzüglichen Bemerkungen, zum Kochen bringen. Und andersherum funktionierte das auch immer noch bestens.
Anders als bei vielen von Garretts alten Freunden aus London, die ebenso lange Beziehungen mit ihren Partnern führten, war das Liebesleben von ihm und Henry noch genauso aktiv wie zu Beginn. Das konnte daran liegen, dass der Sexualtrieb eines Vampirs ausgeprägter war oder auch, weil sie einander so intensiv liebten, dass es manchmal beinahe wehtat und das die einzige Möglichkeit war, diesen Schmerz zu betäuben.
Garrett lächelte vor sich hin, als der Unsterbliche wieder aus dem Bad kam, nur mit einem Handtuch um die Hüften, und zügig in frische Klamotten stieg.
»Was grinst du denn so?«
»Ich hab Lust auf Sex.«
Henry blieb einen Moment der Mund offenstehen, bevor er zu lächeln begann. »Später. Ich glaube, du hattest genug die letzten Tage. Wir sind zum Urlaub machen hier. Schweinkram können wir auch zuhause machen.«
Der junge Mann murrte einen Moment, nickte aber und lachte dann. »Ja, ich weiß. Ich bin schlimm.«
Der Unsterbliche hatte ein feines Grinsen im Gesicht, eines das mehrdeutig war und ihn wie einen Raubvogel aussehen ließ. »Nein. Das ist wunderbar. So«, er drehte sich einmal vor Garrett, »nimmst du mich so mit?«
»Das ist immer noch verdammt sexy. Die Leute werden dir nachsehen.«
»Dann lächle sie an, denn ich bin mit dir unterwegs.« Henry grinste und schlüpfte in seine Chucks. »Komm jetzt. Bis Dublin ist es ein Stück.«
Mit Süßigkeiten für die Fahrt und ein paar Getränken waren sie zehn Minuten später auf der Straße in Richtung Großstadt.
»Willst du Sightseeing machen oder shoppen?« Der Unsterbliche hatte den Wagen in einer Seitenstraße im Leerlauf stehen und sah seinen Freund an, der in einem Stadtplan herumsuchte.
»Irgendwie ist mir nicht nach Städtetrip. Also bummeln ... da, schau, hier ein paar Straßen weiter ist ein Einkaufszentrum. Ich muss dringend in ein Elektronikgeschäft.«
Der Vampir sah auf die Stelle, die Garrett mit seinem Finger angetippt hatte und nickte. Henry legte den Gang ein und setzte das Auto wieder in Bewegung, während der junge Mann neugierig aus dem Fenster blickte. Er war noch nie zuvor in Irlands Hauptstadt gewesen, aber sie waren ja auch noch drei Wochen hier. Sie konnten immer noch die Sehenswürdigkeiten besuchen.
Heute wollte Garrett nur mit Henry durch eine Mall bummeln, ein Eis essen und am Abend vielleicht in ein Restaurant gehen.
Der Vampir trippelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, als sie das Shoppingcenter erreichten und in ein enges Parkhaus fuhren.
Sein Freund wollte wieder einmal Unmengen an Geld für Speicherkarten ausgeben. Das sollte Henry nur recht sein. Wenn der junge Mann in einem Fotografie-Fachgeschäft war, konnte ihn so schnell nichts loseisen, doch von all diesen Dingen verstand der Vampir nur wenig. Allerdings spielte es ihm in die Hände, weil er sich so vielleicht eine halbe Stunde absetzen konnte, um etwas zu besorgen, was er schon in England hatte tun wollen und nie dazu gekommen war. Etwas, bei dem Garrett nicht dabei sein sollte, weil er ihn überraschen wollte.
Es wurmte Henry, dass er so nervös war. Er war immerhin beinahe siebenhundertfünfzig Jahre alt, er hatte Schlimmeres getan als das. Und gleichzeitig noch nie etwas so Furchterregendes. Er atmete tief aus, als sie den Wagen abschlossen.
»Was ist? Du klingst, als würdest du für irgendetwas Anlauf nehmen müssen?«
Der Vampir murrte leise. Garrett hatte eine dünne Haut und bemerkte sofort, wenn Henry etwas beschäftigte. Selbst dann, wenn ihn kein schweres Seufzen verriet.
»Hm? Oh nein, die Luft hier drin ist nur so mies. Lass’ uns rauffahren.«
Es dauerte nicht lange und der Unsterbliche hätte am liebsten all die Menschen, die sich durch die Flure drängelten, in die Luft gejagt. Er war extrem gereizt, als er zum dritten Mal gegen einen achtlos durch den Gang geschobenen Kinderwagen rempelte und die Besitzerin ihn anranzte, ob er keine Augen im Kopf hätte. Er bemühte sich um ein freundliches Lächeln, als er der Dame zu verstehen gab, dass er extra für sie Platz gemacht hatte und sie ihn angefahren hatte. Garrett konnte die kleine Ader an seiner Stirn bereits deutlich sehen. Der Vampir hasste es, wenn man ihm grundlos für etwas die Schuld in die Schuhe schieben wollte.
Die Frau schüttelte nur den Kopf und passierte Henry mit einem abfälligen Blick.
»Eine Mall ist der beste Ort, um mich daran zu erinnern, warum ich Menschen hasse«, fauchte der Unsterbliche leise. »Jeder sieht nur sich selbst und achtet kein Stück auf seine Umgebung. Und wenn man jemanden über den Haufen fährt, ist es natürlich die Schuld des anderen ... ich bringe gleich jemanden um.«
Mit einem Schmunzeln hakte sich Garrett bei ihm unter. »Ganz ruhig. Kein Blutbad in der Öffentlichkeit, bitte.« Er wusste, dass so eine Floskel, wenn sie von Henry kam, nicht unbedingt nur so daher gesagt war.
»Hast du immer noch Bock auf Sex? Ich muss mich abreagieren.«
Der junge Mann lachte und drückte dem Vampir einen Kuss auf die Wange. »In diesem wütigen Zustand soll ich mich dir ausliefern?«
So schnell er hochgefahren war, so schnell kam Henry auch wieder herunter und lächelte schließlich.
»Schau mal. Wolltest du nicht in so einen Laden?«
Garrett wandte den Kopf und machte ein entzücktes Geräusch, während er die Kameras bewunderte und mit der Zunge schnalzte. »Ja. Kommst du mit hinein?«
»Nein. Ich denke, ich werde mich hier hinsetzen und stillschweigend über die Menschen richten, die hier entlang rennen. Mir vorstellen, was ich noch vor einhundertfünfzig Jahren mit jedem einzelnen von ihnen getan hätte. Mich ein bisschen amüsieren ... du weißt schon.« Der Vampir grinste und der junge Mann nickte.
»Ich weiß genau, was du meinst. Fang’ bloß nicht zu sabbern an.«
Er verschwand in dem Laden und Henry suchte mit seinen scharfen Augen die Einkaufsmeile ab. Das Geschäft, das er suchte, hatte er schnell gefunden und bewegte sich geschmeidig wie eine Katze durch die Menschen. Es lag sicher nicht an ihm, dass sie ihn immer wieder touchierten. Die Leute konnten einfach die Augen nicht aufmachen.
Gereizt putzte er sich die Jacke ab, als er an der gläsernen Tür des angestrebten Ladens ankam und die Auslage betrachtete. Der feine goldene und silberne Schimmer spiegelte sich förmlich auf dem Gesicht des Vampirs und mit einem letzten Ruck zog er die Türe auf und ging hinein.
»Wo warst du denn?« Garrett hockte auf einer Bank und blätterte in einem Büchlein, das er aus einer seiner erbeuteten Verpackungen genommen hatte. Er hatte sich immer wieder umgesehen, seit er aus dem Fotogeschäft gekommen war und bemerkt hatte, dass Henry nicht dort war.
Dieser kam gerade vor ihm zum Stehen. Sein verkniffenes Gesicht ließ ihn gefährlich – und sexy – aussehen.
»Sorry. Ich hab mir ein paar Schaufenster angeguckt. Hier sitzen ist als hätte man eine Zielscheibe aufgemalt. Die Leute sind doch alle echt bescheuert.«
Garrett ließ den Blick schweifen. Die Mall war wirklich gut gefüllt und viele glotzten so demonstrativ auf ihre Smartphones, dass Zusammenstöße fast minütlich geschahen.
»Hast du etwas bestimmtes gesucht?«
»Ich hatte Lust, mir vielleicht nen neuen Ring zu kaufen. Aber irgendwie ... der Schmuck heute macht doch nichts mehr her. Viel zu klar und zu modern. So einen richtigen wuchtigen Siegelring, wie ich ihn irgendwann Mitte des neunzehnten Jahrhunderts besessen habe, wird doch heute gar nicht mehr hergestellt. Die Leute wollen so etwas nicht.«
»Wo hast du den?«
»Verloren. Irgendwo in den USA.«
»Das ist schade.«
Henry lachte. »Ich habe immer noch den Verdacht, dass Jack ihn beim Pokern verloren hat.«
Garrett musste grinsen. Jack Dalton, der vermutlich beste und einzige richtige Freund, den der Unsterbliche hatte, war selbst ein Vampir, ein texanischer Rinderzüchter und hatte einen Hang zu riskanten Unterfangen. Wozu das Verwetten eines Schmuckstückes des berüchtigten Dionysos damals sicher gezählt hatte.
Der junge Mann hatte Jack elf Jahre zuvor kennengelernt, als Henry ihn und zwei weitere Kameraden zu Hilfe gerufen hatte, um seine Heimatstadt Gatwick vor der Übernahme durch eine feindlich gesinnte Vampirsippe zu bewahren.
Garrett mochte den chaotischen und sehr charismatischen Amerikaner und freute sich immer, wenn der sich mal spontan zu einem Besuch ankündigte.
»Das sähe ihm irgendwie ähnlich«, schmunzelte der junge Mann und Henry nickte.
»Einmal hat sich der Trottel von zwei Bardamen mit gut gepolsterten Blusen unsere Pferde und sämtliches Geld stehlen lassen. Ich hätte ihn fast umgebracht.«
Garrett lachte. Das konnte er sich bildlich vorstellen. Noch heute kabbelten sich Jack und Henry bis aufs Messer, wenn sie einander trafen.
»Also bist du nicht fündig geworden?«
Der Vampir räusperte sich. »Nein. Aber du offenbar.«
Grinsend schaute der junge Mann auf die kleinen Päckchen und nickte. »Ja. Also kann die Fototour weitergehen.«
»Du hast genug Bilder, um die nächsten zwei Jahre von dieser Reise berichten zu können.«
»Hmm ... vielleicht kann ich eine Strecke daraus machen und sie als Kunstdruck verkaufen. Stockphoto-Portale suchen so etwas auch immer. Wenn man gut genug ist, ist da auch ein bisschen Geld zu verdienen.«
Henry zuckte leicht mit den Schultern. Er hatte schon lange nichts mehr ausgeübt, das an eine normale Arbeit herankommen würde. Seine einstige Tätigkeit als Vampir- und Hexenjäger zählte kaum als etwas, das gewöhnliche Sterbliche tun würden. Sein dadurch erzieltes Vermögen arbeitete für ihn, wodurch es nicht nötig war, seinem Lebenspartner auf der Tasche zu liegen.
Doch für Garrett war es etwas ungemein Wichtiges, mit seinem geliebten Hobby eigenes Geld zu verdienen. Als hätte er selbst jetzt, elf Jahre nach dem Tod seiner Mutter, die sein Talent als Fotograf immer verkannt hatte, noch das Bedürfnis, ihr zu beweisen, dass es keine brotlose Kunst war, sondern ein richtiger Beruf. Und Garrett war gut in dem, was er tat.
»Wir haben noch ein paar Wände, die auch ein paar hübsche neue Bilder gebrauchen könnten«, schmunzelte der Unsterbliche, was den jungen Mann lächelnd nicken ließ.
»Ja. Und jetzt hab ich Hunger. Suchen wir uns ein Lokal?«