Das Hotel war einfach aber gemütlich und Anna freute sich, als Franz sie dort schon erwartete. Er betrachtete die etwas jüngere Frau aufmerksam und umarmte sie dann zur Begrüßung.
»Du siehst gut aus, Anna. Offenbar ist es nicht ganz so schlimm, dass ich dir ein turbulentes Wochenende aufgehalst habe.«
Sie grinste zur Bestätigung zurück. »Kein Problem, Franz!« Demonstrativ warf sie einen Blick über den verlassenen Vorplatz des Hotels. »So aufregend und quirlig scheint Selb ja nicht zu sein. Nicht gerade die Stadt, die ich für ein Folkkonzert erwartet hätte …«
Nachdenklich folgte Franz ihrem taxierenden Blick. »Warte mal noch ein paar Stunden. Du wirst sehen, gegen Abend bricht hier ein richtiges Getümmel los. Du mit deinem Fotografenblick wirst du von den Gewändern und Gesichtern gar nicht genug bekommen.« Franz nahm Anna den großen Rucksack mit ihren Kamerautensilien ab. »Wir sollten uns dann mal auf den Weg machen. Mike, der Manager, will uns gegen 16 Uhr hinter der Bühne treffen. Scheint ein echter Knauser zu sein, dass er es nicht mal schafft, uns zu einem Kaffee einzuladen.«
Anna lachte. »Komm, du Kaffeejunkie! Ich lade dich nach dem Treffen ein. Irgendeine Koffeintankstelle wird es hier schon geben. Vielleicht hat dieser Mike einfach nicht darüber nachgedacht, dass du kein Teenie mehr bist, der auf der grünen Wiese hockt und Bionade aus Flaschen trinkt.«
Anna kannte die Szene genauso gut wie Franz und beide wussten, dass die Sommerfestivals der Folker eher unge-zwungen vonstatten gingen. Oft reisten ganze Familien in bunten Gewändern an, um zu tanzen, Freunde zu treffen und sich bei Musik und Show einfach zu vergnügen. Klar traf man auch immer wieder an den Abenden auf trinkende Fans, aber große Saufgelage oder Schlägereien waren bei solchen Veranstaltungen kaum an der Tagesordnung.
Das war ein Grund, warum es Anna nichts ausmachte, auch Jenny mitzubringen, wenn sie für Franz fotografierte. Bei den Corvidae war das junge Mädchen ein gern gesehener Gast gewesen und Leander, der fast gleichaltrige Sohn des Drummers hatte sie gern herumgeführt und sich mit ihr die Märkte und Schaustellereien angesehen. Inzwischen fühlte sich auch Jenny in der Szene heimisch, warf sich für die Events in fantasievolle Gewänder, die sie zusammen mit Anna selber geschneidert hatte, und genoss den Rummel um die längst vergangenen Zeiten.
Franz schritt nun zügig aus und Anna folgte ihm seufzend. Das Städtchen war schon irgendwie heimelig. Nachher würde sie das eine oder andere historische Stadthaus gern ablichten. Im Moment stand die Sonne noch zu hoch – kein gutes Licht für Architektur …
Hinter der nächsten Straßenecke erwartete sie der lebendig pulsierende Marktplatz. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verfolgte Anna, wie bereits Arbeiten auf der Bühne verrichtet wurden. Das kam ihr noch von den Corvidae ziemlich bekannt vor. Erste Schaulustige drängten sich um das noch unfertige Podium, um einen Blick auf die Künstler zu erhaschen, die offenbar bereits mit dem Soundcheck begonnen hatten.
Zumindest war bereits ein Tontechniker dabei, die Lautstärke der Bassdrum zu bestimmen. Anna warf einen Blick auf das ihr bekannte Geschehen und folgte Franz hinter die Kulissen. Jetzt würde es ernst werden.
Hatten sie erwartet, freundlich empfangen zu werden, so war das ein grundlegender Irrtum. Im Gegenteil wurden sie nun Zeugen eines heftigen Streitgesprächs.
»Ich habe dir gesagt, dass wir mehr für eure Promotion tun müssen«, fauchte ein untersetzter, graumelierter Mann in Richtung eines deutlich jüngeren, großgewachsenen Gegen-übers, dessen auffällige Haartracht aus einer Mischung aus Dreadlocks und Undercut ihn zu einem eindeutigen Szenemitglied machte. Anna wusste aus dem Exposé, welches sie sich dank Google zusammengestellt hatte, dass sie hier den Bandleader Jonas Kasten alias Satyr vor sich hatte.
Schon in den Youtube-Videos war ihr der Mann sehr selbstbewusst vorgekommen. Er stand eindeutig im Mittelpunkt der Band und ebenso frontal im Interesse der Fans. Die zweite in der Rangordnung schien die Sängerin und Drehleierspielerin Sarah zu sein. Alle anderen Bandmitglieder traten gegenüber diesen beiden deutlich zurück.
Der Rastamann trat nun noch einen Schritt näher zu seinem Diskussionspartner. »Und ich habe dir gesagt, dass ich es wissen will, welche Vereinbarungen du für uns triffst. Du kannst nicht entscheiden, dass wir zwei wildfremde Journalistenfuzzies eine ganz Tour lang mit uns herumschleppen und uns von denen ausquetschen lassen. Diesen Scheiß kannst du gleich wieder abblasen!«
Doch Jonas hatte die Rechnung wohl ohne den Dickkopf seines Managers gemacht. »Hör zu, Drummer Boy«, entgegnete dieser ihm entschieden. »Du willst mit deinem Heidengedudel Geld verdienen und ich sorge dafür, dass du das kannst. Wenn es dir nicht passt, kann ich sofort verschwinden und mir eine andere Truppe suchen, die weniger Allüren hat. Dass du dann keinen Fuß mehr in die Festivalszene bekommst, ist dir doch klar, oder?«
Franz hatte Anna derweil am Arm genommen und sie ein paar Meter zurückgezogen. Aus dieser Position heraus konnten sie dennoch bei dem Gespräch zuhören, fielen aber weniger auf als vorher.
»Das hört sich nicht gut an«, raunte Anna dem Schriftsteller zu. »Sollen wir gleich wieder verschwinden?« Franz war in ihren Augen ein wunderbarer Buchautor und den Titel Journalistenfuzzie hatte er ganz und gar nicht verdient.
Doch der so Bezeichnete grinste nur belustigt.
»Warum denn das? Jetzt wird es doch erst richtig spannend! Ein bisschen Konflikt und Gegenwehr ist doch gerade richtig, wenn wir eine tolle Recherche abliefern wollen … Lass Jonas erst mal Dampf ablassen. Wir kommen erst dann ins Spiel, wenn er sich wieder beruhigt hat. Mike macht das schon.«
Doch es war nicht Mike, der den Disput letztendlich entschied. Ein weiterer Künstler trat zu den beiden Streithähnen und klopfte Jonas beruhigend auf die Schulter.
»Mike hat recht. Wir müssen wirklich mehr Werbung machen. Und ein Tourbuch ist doch viel seriöser als irgendwelche raubkopierten Videos von sogenannten Fans auf Youtube.«
Der Mann, der versuchte, wieder Ruhe in die Diskussion zu bringen, mochte ungefähr ebenso alt sein wie Anna. Er überragte Jonas fast um einen ganzen Kopf und trug im Gegensatz zu diesem eine eher gediegene Langhaarfrisur, die er recht kunstlos zu einem Zopf gebändigt hatte. Das weite Hemd und eine ausgeleierte Jogginghose ließen seinen Körper hager, fast schlaksig wirken. Lukas Mauren, in der Band Luca genannt, war Anna ebenfalls aus dem Internet bekannt.
Man hatte ihn in den Videos eher seltener im Zoom gesehen und sie hatte überlegt, ob das Zufall war oder von dem Mann so gewollt wurde. Im Gegensatz zu den anderen Bandmitgliedern war auch seine Vita auf der Homepage der Pagans eher knapp bemessen. Einzig, dass Luca sich selbst gern als ›Native‹ bezeichnete, hatte Anna stutzen lassen. Irgendwo fand sie dann eine Bemerkung, dass der Vater des Künstlers Amerikaner war und hatte daraus geschlossen, dass an der Bezeichnung etwas Wahres sein konnte.
Jetzt, als sie den Mann vor sich sah, konnte sie sich eine indianische Abstammung durchaus vorstellen – dunkle Augen und Haare, ein markantes Gesicht – aber sicher war sie sich nicht. Der Dreitagebart passte nicht so ganz ins Bild und Anna belächelte sich selber. Träumerin! Wenn der Deal klappte, brauchte sie ihn bloß zu fragen … Wie wahrscheinlich war es denn, einen Musiker indianischer Abstammung in einer fränkischen Kleinstadt zu treffen?
Doch zunächst nahm sie der Fortgang der Diskussion in Beschlag. Die Intervention von Lukas schien die Gemüter tatsächlich zu beruhigen und die drei kamen überein, den ungebetenen Journalisten und dessen Fotografen erst einmal kennenzulernen, bevor sie sich entschieden.
»Und hier kommen dann wohl wir ins Spiel«, verkündete Franz plötzlich laut neben ihr. Alle drei Köpfe wandten sich ihnen zu und Anna spürte, wie sie rot wurde. Verdammt! Konnte Franz nicht ein bisschen diplomatischer sein?
Sie beobachtete die drei verunsicherten Männer und stellte innerlich lächelnd fest, dass es zumindest Mike und Luca ziemlich peinlich war, dass sie ihre Diskussion mitgehört hatten. Jonas stellte eine verschlossene, ablehnende Miene zur Schau, hielt aber den Mund, als sich Mike nun aufrappelte, sie begrüßte und sich entschuldigte.
Dann stellte er sie den beiden Künstlern vor und nun zeigte Franz, dass er tatsächlich nicht undiplomatisch war. Ohne viel Gerede drückte er Jonas sein Buch über die Corvidae in die Hand.
»Guck dir das an, damit du weißt, was wir für euch leisten könnten. Besprecht euch und klärt eure Prioritäten. Anna und ich gehen jetzt erst einmal in Ruhe einen Kaffee trinken. Wir sind in einer Stunde zurück. Dann will ich eine klare Ansage!«