MARIE
Die Zeit heilt bekanntlich alle Wunden. Doch aus eigener Erfahrung weiß ich, das Sieben Jahre nicht ausreichen.
„Nochmals, alles Gute zum Geburtstag mein Schatz.“
Ich drücke einen Kuss auf ihre dunkelbraunen, langen Haare und blicke in ihre grünen Augen, die mit diesen silbernen Sprenkel darin versehen sind. Jedes Mal, wenn ich sie ansehe, muss ich an ihren Vater denken. Muss daran denken, was er wohl jetzt gerade macht. Wo er jetzt ist und ob es ihm gut geht. Ob er vielleicht, wenn er wüsste, dass es sie gibt, ihr ebenfalls alles Gute zu ihrem siebten Geburtstag wünschen würde?
Mir ist klar, dass wir nicht gerade im Guten auseinander gegangen sind. Doch, auch wenn er mich verletzt hat, so ist er dennoch für dieses kleine Wunder, dass gerade die Kerzen auf der Torte auspustet, mitverantwortlich. Ich wollte es ihm sagen. Doch diese eine Nacht, in der ich mitansehen musste, wie er eine andere küsst, habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Er hat alles zurückgelassen. Ich habe die Sachen lange so belassen, wie sie waren. Doch nach einigen Wochen habe ich alles genommen und in Kisten verpackt. Ich habe sie im Keller unserer alten Wohnung verstaut und versperrt.
Zuerst war ich wie gelähmt und irgendwann sind die Schmerzen gekommen. Besonders an diesem einen Tag, an dem ich erfahren habe, was in meinem Bauch heranwächst. Ich war am Boden zerstört. Wollte es nicht wahrhaben und mich am liebsten irgendwo verkriechen. Doch irgendwie ist es von Tag zu Tag besser geworden. Ab dem Zeitpunkt, an dem ich wirklich gespürt habe, was in mir heranwächst, habe ich mich so sehr darauf gefreut, dass ich den Schmerz damit ausgleichen konnte. Auch, wenn ein Teil von mir immer Tobias gehören wird und jeder einzelne Gedanke an ihn Schmerzen verursacht.
Schnell verdränge ich die Erinnerungen wieder und versuche mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Denn, nur das zählt. Also schneide ich den Kuchen, den ich für Alina gebacken habe an und lege ein Stück auf ihr Teller. Jedes Mal, wenn ich diesen Namen ausspreche, ist meine Freundin für ein paar Sekunden wieder hier. Sie würde sich freuen, wenn sie wüsste, dass ich meine Tochter nach ihr benannt habe. Hoffentlich wird sie nicht so freakig wie sie. Bei diesem Gedanken kann ich ein Schmunzeln nicht unterdrücken und ernte dafür einen verwirrten Blick von der kleinen Alina, die sich gerade eine riesige Ladung Schokokuchen in ihren Mund steckt.
„Mommy. Wieso ist keiner gekommen?“
Die Worte brechen mein Herz und schnell versuche ich ihr irgendwie diese Trauer wieder zu nehmen.
„Schatz. Du weißt, dass du etwas Besonderes bist und wir deswegen aufpassen müssen. Das heißt nicht, dass dich die anderen nicht mögen. Es ist nur so, dass wir hier neu sind und uns die Leute noch nicht so gut kennen. Aber das wird schon mein Schatz. Okay?“
Ich versuche sie mit einem Lächeln zu beruhigen und es scheint zu funktionieren, denn sie lächelt mich mit vollen Mund an und sofort strahlen ihre Augen wieder.
„Okay Mommy.“
Sie hat sich wieder ihrer Torte gewidmet und ich beginne nervös auf der Innenseite meiner Wange zu kauen. Es ist bereits das Dritte mal, dass wir unseren Wohnsitz gewechselt haben. Denn, immer wieder sind diese zwei Agenten oder was auch immer sie sind bei uns aufgetaucht und wollten wissen, wo Tobias ist. Auch, wenn ich jedes Mal wiederholt habe, dass ich keine Ahnung habe, wo er ist und was er macht, haben sie mich immer wieder belästigt. Sie sind tagelang vor unserem Haus gestanden und haben mich beobachtet. Bis sie aufdringlicher wurden und während ich weg war, meine Sachen durchwühlt haben.
Als ich erfahren habe, dass ich schwanger bin, habe ich mich nach einer neuen Bleibe in einer anderen Stadt umgesehen. Ich habe gehofft, sie würden mich in Ruhe lassen. Doch sie sind wieder aufgetaucht. Doch irgendwann ist mir der Kragen geplatzt und ich habe ihnen in ihre dämlichen Gesichter geschrien, dass er mit einer anderen abgehauen ist und sie mich einfach in Ruhe lassen sollen. Seit diesem Tag sind sie nicht mehr aufgetaucht und dennoch habe ich jedes Mal Angst gehabt, wenn ich nach Hause gekommen bin. Also bin ich nochmals in eine neue Wohnung gezogen. Und jetzt, jetzt sind wir vor wenigen Wochen in dieses ältere, kleine Haus umgesiedelt, weil sich Alina so sehr einen Garten gewünscht hat. Auch, wenn dieser nicht gerade groß ist. Aber für die Schaukel und eine paar Blumen haben wir einen Platz gefunden.
Und da wir jetzt in einer neuen Stadt sind und sie erst ihre ersten Schultage hinter sich gebracht hat, hat sie natürlich noch nicht wirklich viele Freunde gefunden. Was mir jedes Mal das Herz bricht. Aber ich schätze, bei ihrer liebevollen Art, wird sie schnell Freunde finden und sich hier bald wohlfühlen.
Nachdem sie die Torte aufgegessen hat und ich mit ihr, ihren Lieblingsfilm geguckt habe, schicke ich sie ins Bad, damit sie sich die Zähne putzt und fertig macht, um ins Bett zu gehen. Ich räume währenddessen den Tisch ab und mache die Küche sauber. Doch ein Geräusch lässt mich hochschrecken. Ein lautes Poltern ist zu hören und sofort laufe ich, um nach Alina zu sehen. Panisch laufe ich ins Bad und erblicke etwas, dass mein Herz zum Stillstand bringt. Erst als Alina mit ihren Fingern an meinem grauen ausgewaschenen Shirt zupft, beginne ich mich wieder zu bewegen.
„Mommy. Wer ist dieser Mann? Ich glaube, er hat sich wehgetan.“
Ich würde ihr gerne sagen, dass er sich nicht wehgetan hat und dass ich ihn nicht kenne. Doch es wäre nicht die Wahrheit. Denn das blutüberströmte Gesicht, die offenen Wunden, die überall an seinem Körper aufklaffen und eine Blutlache auf dem hellen Fliesenboden hinterlassen, lügen nicht. Schnell reagiere ich und schiebe Alina mit meinen Händen durch die Tür.
„Schätzchen. Du musst jetzt tapfer sein. Geh in dein Zimmer und hol dir etwas zu spielen. Ich helfe diesen Mann und komme dann zu dir. Okay.“
„Okay.“
Sie tapst tapfer in ihr Zimmer und scheint nicht zu realisieren, was hier wirklich passiert. Gott sei Dank.
Ich hole einmal tief Luft und bereite mich damit vor, ihm gleich in die Augen blicken zu müssen. Dann drehe ich mich um und werfe einen Blick auf ihn. Er lehnt mit dem Rücken an der Wand und keucht vor Schmerzen. Seine Hand liegt auf seinem Bauch und Blut trieft langsam zwischen seinen Fingern hindurch. Zuerst weiß ich nicht, was ich machen soll. Doch schnell komme ich wieder zu mir und will in die Küche laufen, um mein Telefon zu holen und somit den Krankenwagen zu rufen. Doch die tiefe Stimme, die ich so sehr vermisst habe ertönt und lässt mich innehalten.
„Kein Krankenhaus.“
Die Schmerzen in diesen beiden Worten ist nicht zu überhören. Also drehe ich mich wieder um und beuge mich zu ihm hinab. Er trägt eine dunkle Hose und dazu Militärstiefel, was ihn irgendwie noch fremder wirken lässt.
„Was dann?“
Auch wenn ich ihm meine Hilfe nicht verwehren kann, so kann ich auch nicht gerade freundlich zu ihm sein. Denn der Schmerz, wenn ich in seine Augen blicke, kommt sofort zurück.
„Du musst dieses Ding aus mir raus holen.“
„Was?“
Erschrocken und ungläubig schüttle ich meinen Kopf. Ich werde garantiert nichts aus ihm herausholen.
„Ich kann nicht heilen, solange dieses Ding in mir ist.“
Erneut schüttle ich meinen Kopf und als er seine Hand von der blutenden Wunde wegnimmt, sehe ich einen schwarzen Gegenstand, der ein kleines Stück aus seinem Bauch ragt.
„Ich kann es nicht anfassen. Es verbrennt mich. Du schon. Bitte.“
Seine Worte werden immer schmerzerfüllter und leiser. Zögernd nähere ich mich ihm. Für eine Sekunde blicke ich in seine Augen und sehe darin diese grauen Sprenkel, die auch in Alina`s Augen zu sehen sind. Zitternd bewege ich meine Hand auf diesen Gegenstand zu. Mein Herzschlag wird schneller und um es nicht noch länger hinaus zu zögern, ergreife ich ihn und ziehe, so fest ich kann daran. Es dauert nicht lange, da spüre ich, dass sich der Gegenstand bewegt. Also ziehe ich nochmals kräftiger. Dann habe ich ihn und lasse dieses Ding zu Boden fallen, denn auch meine Finger brennen bereits davon. Tobias bringt ein leises Seufzen über seine Lippen, bevor er seinen Kopf zurückfallen lässt und die Augen schließt.
„Wirst du jetzt heilen?“
Ein leises „Ja“ kommt über seine Lippen.
„Ich muss nach Alina sehen. Kommst du klar?“
Ich stehe auf und bewege mich bereits auf die Tür zu, als er mit schwacher Stimme spricht und ich für einen Moment anhalte, um seinen Worten zu lauschen.
„Es tut mir leid. Sobald es mir besser geht, verschwinde ich wieder.“
Ich würde ja etwas darauf erwidern, aber ich kann nicht. Denn der Schmerz, den ich in seiner Gegenwart fühle, ist fast unerträglich. So gehe ich aus dem Badezimmer, ohne irgendwelche Worte über meine Lippen gebracht zu haben. Langsam öffne ich die Tür in Alina`s Zimmer. Sie liegt mit einem Buch in ihrem Bett und lässt es sofort fallen, als sie mich bemerkt.
„Mommy. Ist alles in Ordnung?“
„Ja kleine. Alles in Ordnung. Ist alles in Ordnung mit dir? Hast du Angstt?“
„Alles okay. Nein. Ich habe keine Angst. Ich will nur, dass dieser Mann keine Schmerzen mehr hat. Hast du ihm geholfen, Mommy?“
Ich nicke, streiche mit meiner Hand über ihre braunen Haare und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ich habe ihm geholfen. Es geht ihm bald wieder besser. Glaubst du, dass du schlafen kannst?“
Sie nickt mit ihrem Kopf und lächelt. Sie lächelt. Einfach so. Sie überrascht mich immer wieder und so lege auch ich ein Lächeln auf meine Lippen, als ich ihr Nachtlicht anmache und mich an der Tür, bei ihr verabschiede.
„Gute Nacht kleine Maus. Du weißt, wo du mich findest, wenn du doch Angst hast?“
Sie nickt eifrig und kuschelt sich in ihre weiche Decke. Ich werfe noch einmal einen letzten Blick auf sie und lehne die Tür am Rahmen an. Dann mache ich mich auf den Weg zum Badezimmer, um nach Tobias zu sehen. Doch ich blicke nur noch auf eine Blutlache, die sich allmählich beginnt sich in ein dunkleres Rot zu verfärben. Auch wenn ich nicht panisch sein sollte, so bin ich es doch. Denn irgendein Teil von mir hat vielleicht gehofft, dass ich ihm sagen kann, dass er eine Tochter hat. Wenn er es nicht selbst schon bemerkt hat, bei einem Blick in Alina`s Augen.
Für ein paar Sekunden verharre ich auf der Stelle, bevor ich den Rest meines Verstandes wieder gefunden habe und mich auf den Weg mache, den Putzeimer zu holen und damit das Bad wieder Alinatauglich machen zu können.
Doch gerade als ich um die Ecke in die Küche biege, erstarre ich erneut, als ich in seine Augen blicke. Er sitzt auf einen der Stühle und starrt mich ebenso an, wie ich ihn anstarre. Seine Haare sind länger geworden und seine Augen eine Nuance dunkler. Sein Gesicht wirkt männlicher. Was vielleicht auch der Dreitagebart ausmacht. Die Muskeln unter seinen enganliegendem schwarzen Shirt scheinen auch gewachsen zu sein, seit unserer letzten Begegnung. Er hat mich schon immer überragt mit seinen ein Meter neunzig. Doch nun wirkt er irgendwie bedrohlicher. Gefährlicher. Dunkler. Seine Miene ist undurchsichtig und die Wunde scheint verheilt zu sein.
„Wie kommst du darauf, dass du einfach so hier auftauchen kannst? Wäre sie wie alle anderen Kinder, könnte sie jetzt nicht mehr einschlafen und ich müsste mit ihr eine Therapie machen.“
„Es tut mir leid. Ich konnte sonst nirgends hin. Ich werde mich bei ihr entschuldigen, wenn du willst.“
„Pah. Mit Entschuldigungen hast du es nicht so.“
Wütend stapfe ich an ihm vorbei, um den Eimer zu holen. Doch ich werde plötzlich an meinem Handgelenk festgehalten. Schnell reiße ich mich wieder los und funkle ihn böse an.
„Bitte setz dich. Gib mir ein paar Minuten. Ich verspreche. Danach bin ich weg.“
In meinem Inneren streiten gerade Vernunft und Herz miteinander um die Vormacht. Ich hasse ihn. Hasse, wie er mich behandelt hat. Aber er ist Alina`s Vater und ein Teil von mir, würde ihm gerne eben dies sagen. Doch ist es wirklich richtig, einen Menschen, der einem im Stich gelassen hat, zu sagen, dass er eine Tochter hat? Er würde auch sie im Stich lassen und doch setze ich mich auf dem Stuhl, der am weitesten von ihm entfernt ist.
„Ein paar Minuten.“
Er nickt und ich glaube, den Ansatz eines Lächelns auf seinen Lippen erkennen zu können, bevor mich seine tiefe Stimme wieder einfängt und mich aus meiner Starre reißt.
„Sie ist genauso hübsch wie du.“
„Tatsächlich. So willst du also diese paar Minuten nutzen? Dein Ernst? Da kannst du auch gleich wieder verschwinden. Ich falle nicht mehr auf diesen Scheiß rein. Ich danke dir dafür, dass du mir mein Leben gerettet hast, aber damit hat es sich. Du bist nicht mehr dazu verpflichtet mir Honig um den Mund zu schmieren. Also sag was du sagen willst und dann verschwinde wieder, so wie du es schon einmal gemacht hast.“
Meine Worte scheinen ihn zu treffen, denn für einen Augenblick spiegelt sich Trauer in seinen Augen, bevor er wieder zu diesem harten Blick zurückfindet, der jetzt wohl in seinen Augen abgespeichert ist.
„Wie zum Teufel hast du uns eigentlich gefunden?“
Ein schmerzverzerrter Ausdruck erscheint auf seinen Zügen, bevor er weiterspricht.
„Es war nicht gerade schwer. Du hast deinen Namen nicht geändert.“
„Und wieso konnte dir nicht deine Freundin helfen?“
„Ist sie nicht...ist nicht wichtig. Ich wollte nicht, dass ich die Kleine erschrecke. Aber ich konnte nur zu dir. Jeder andere Mensch hätte mir nicht geholfen. Ich wusste nicht, dass du eine Tochter hast.“
Er schüttelt seinen Kopf, als würde er etwas aus seinen Gedanken vertreiben wollen, bevor er sich mit seinen langen, kräftigen Fingern durch seine Haare streicht. Diese Geste ist wohl auch das Einzige, dass ihm geblieben ist.
„Wer hat dich so zugerichtet?“
„Du würdest mir nicht glauben und wenn ich dir es erzählen würde, wärst du in Gefahr. Wo ist der Vater der Kleinen?“
Die Worte explodieren wie eine Bombe in meinem Herzen. Lassen mich für einen Moment vergessen, dass ich meinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle halten soll. Er scheint es zu bemerken und sein Blick verändert sich. Doch schon bekomme ich die Kurve und habe mich entschieden.
„Nicht hier.“
Ungläubig schüttelt er den Kopf und plötzlich werden wir von einer verschlafenen Stimme hochgeschreckt.
„Mein Dad rettet die Welt. Er ist ein Superheld.“
„Alina.“
Schnell will ich sie vor Tobias Anblick beschützen, da er noch immer die blutverschmierte Kleidung trägt, doch sie setzt ihren Sturkopf durch und tapst mit ihren blauen Autosocken auf Tobias zu, der sie ungläubig anstarrt.
„Hat Mommy dich wieder gesund gemacht?“
Er beugt sich zu ihr hinab und blickt in ihre Augen. Die Erkenntnis scheint ihn hart zu treffen, denn er schluckt schwer und starrt mich für einige Sekunden überrascht und perplex an, bevor er Alina antwortet.
„Ja hat sie und weißt du, wie es mir noch besser gehen würde?“
Sie schüttelt den Kopf und bringt ein leises „Nein“ über ihre Lippen.
„Wenn ich weiß, dass du gut schlafen kannst. Dann geht es mir bestimmt wieder besser. Also kannst du für mich nochmal in dein Bett gehen und für mich eine Runde Schlaf mit schlafen?“
Plötzlich wirken seine Gesichtszüge so weich und ein leichtes Lächeln legt sich auf seine Lippen, bevor sich Alina umdreht und uns stolz, beiden eine Gute Nacht wünscht.