MARIE
Die Stimmen in meinem Kopf lassen mich aufschrecken. Die Erinnerung an Alina und der damit verbundenen Angst, lässt mich die Dunkelheit besiegen. Langsam. Zu langsam kämpfe ich mich in das Licht zurück. Ich kann nicht aufgeben. Kann Alina nicht dem Schicksal überlassen. Also versuche ich mit aller Kraft, die ich habe meine Lider zu öffnen, was einen plötzlichen Schmerz in meinem Kopf verursacht. Ich kann nicht aufgeben. Also versuche ich es erneut. Mein Blick ist Anfangs verschwommen. Als würde ein Nebel über meinen Augen liegen. Ich will mich bereits aufrichten um schneller bei Alina sein zu können, doch der Schmerz lässt mich in die weiche Matratze zurückfallen. Weiche Matratze? Panisch versuche ich mich umzusehen und meinen Blick zu klären. Doch bevor ich noch weiter in Panik gerate, spüre ich eine Berührung an meinem Handgelenk. Sofort sendet sie Wärme und Geborgenheit durch meinen Körper. Sowie die Stimme, die sich den Weg zu meinem Herzen bahnt.
„Alles ist gut.“
Es ist Tobias`s Stimme und es ist nicht alles gut. Rau und heiser bringe ich den wichtigsten Namen über meine Lippen. „Alina.“
Noch einmal streicht er mit seinen Fingerkuppen über meine Haut, bevor er mich von den Qualen erlöst.
„Ihr geht es gut. Besser als gut.“
Endlich klärt sich meine Sicht und ich blicke in die grünen Augen, deren graue Sprenkel mehr geworden sind und den Ausdruck darin dunkler wirken lassen.
„Wo...ist sie?“
„Sie schläft. Ihr geht es gut. Wir müssen von hier weg.“
Er löst seine Berührung, als würde er sich verbrannt haben. Erst jetzt blicke ich mich wirklich um. Ich liege in meinem Bett. In unserem Haus. Der Gedanke, dass wir hier von einem Fremden angegriffen worden sind, lässt mich erschaudern.
„Hier seid ihr nicht mehr sicher. Sie werden bald bemerken was ich getan habe und was mit Elisier passiert ist.“
„Was ist passiert?“
„Er wird euch nie wieder etwas antun können.“
Er wendet seinen Blick von mir ab, als könnte ich nicht mit der Wahrheit umgehen. Wo er vielleicht auch recht behält. Es schmerzt zu wissen, dass er so etwas mit Sicherheit nicht zum ersten Mal gemacht hat. Jemanden ausgelöscht. Denn, das ist es was er mir damit sagen will. Auch, wenn er mir so fremd ist und der Tobias, den ich kannte nicht mehr existiert, so erkenne ich die wirkliche Bedeutung hinter diesen Worten. So erkenne ich auch, dass diese Sache wohl auch nicht spurlos an ihm vorübergegangen ist. Sein Shirt existiert kaum noch und die blauen Flecken und Schrammen auf seiner Haut, die von einer Blutschicht überzogen sind, lassen mich für eine Sekunde Sorgen empfinden. So lange bis mir bewusst wird, dass er ohne Hilfe heilen wird.
„Was sollen wir jetzt machen?“
„Ich will, dass du die wichtigsten Sachen für dich und Alina einpackst. Je weniger, desto besser. Ich bringe euch in Sicherheit.“
„Wo willst du uns hinbringen? Du kannst sie nicht einfach aus ihrem Leben reißen.“
„Verdammt.“ Er lässt dieses Wort hart über seine Lippen kommen und ich fühle mich dabei, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Ich zucke zusammen. Doch es scheint ihn nicht zu stören, denn sein Blick verdunkelt sich ein weiteres Mal. Für einen Augenblick habe ich Angst vor ihm. Er ist ein Fremder für mich. Als hätte ich ihn noch nie vorher gesehen oder ihn geküsst oder mit ihm gelacht. „Es wird Zeit, dass dir klar wird, dass das hier kein Spiel ist. Du und Alina befindet euch jetzt mitten in einem Krieg. Entweder du kommst mit diesen Dingen klar oder ich nehme Alina ohne dich mit.“
Das hat er nicht wirklich gesagt. Nein. Er kann meine Tochter nicht mitnehmen.
„Du hast kein Recht darauf mir meine Tochter zu nehmen und auf keinen Fall werde ich dir mein Leben anvertrauen. Du kannst sie nicht mitnehmen. Ich werde es nicht zulassen.“
Die Verzweiflung in meiner Stimme hallt in meinen Ohren wider. Mühevoll und mit letzter Kraft stelle ich meine Beine am Boden ab und drücke meinen Zeigefinger auf seine harte Brust.
„Du. Nimmst. Mir. Nicht. Meine. Tochter.“
Ich presse die Worte über meine Lippen und hoffe damit, dass er es auf diese Weise deutlicher verstehen wird. Doch alles was er entgegnet ist ein belustigter Blick auf meinen Finger, der sich kaum in sein Fleisch drückt. Dann sieht er mich wieder direkt an und eine Gänsehaut überzieht meinen Körper.
„Gut. Dann wirst du mitkommen. Keine Widerrede. Keine weiteren Worte von dir und keine Versuche abzuhauen. Ich finde euch. Ich bin stärker als ihr und ich weiß, was ich tue. Du hast keine Chance gegen mich. Und nur damit du es verstehst. Sie ist auch meine Tochter und du hast sie mir weggenommen.“
„Pah.“ Er macht mich rasend wütend. Gerade als ich erneut mit einer Schimpftirade starten will, brennt sich sein drohender Blick in meinen, während seine tiefe Stimme meinen Körper zum vibrieren bringt.
„Kein Wort.“
Wütend und voller Ärger starre ich ihm nach, als er durch die Tür verschwindet. Wie kann er nur? Ich bin so wütend, dass ich die Tränen, die sich über meine Wange bewegen nicht aufhalten kann. Mein Körper zittert und auch, wenn ich noch immer Schmerzen habe, so mache ich mich auf den Weg in Alina`s Schlafzimmer.
Der Anblick, der sich mir bietet, als ich durch die Tür in den Gang trete, lässt mich für einen Augenblick erstarren. Die Wände sind schwarz, als wären sie verbrannt worden. Der Geruch von Schwefel kriecht in meine Nase und der Boden knistert unter meinen Füßen.
Um nicht vollkommen zu verzweifeln schließe ich für eine Sekunde meine Augen und versuche daraufhin alles um mich auszublenden. Das Einzige, was jetzt zählt, ist Alina. Und auch, wenn es mir nicht gefällt, was Tobias gesagt hat und was er vorhat zu tun, so muss ich mich an seine Worte halten. Obwohl, alles in mir sich dagegen zu wehren versucht. Doch, er sagt, er wird Alina beschützen und so krank es klingen mag, ich glaube ihm bei dieser Sache. Ich werde Alina sicherlich nicht ihm alleine überlassen, also muss ich wohl oder übel mit ihm hier weg.
Im Zimmer angekommen, erblicke ich eine friedlich schlafende Alina, die ihren Teddy fest umklammert hält. Bei diesem Anblick kann ich es nicht aufhalten, die Angst erneut zu spüren, die ich um sie hatte. Fast hätte ich sie verloren. Die Tränen werden wieder aufgefrischt von neuen, die sich warm über meine Wange bewegen. Beinahe will ich schon mit meinen Fingern über ihre braunen Haare streichen, als Tobias hinter mir auftaucht und wütend in mein Ohr flüstert.
„Beeil dich.“
Eine Viertelstunde später stehe ich mit zwei Rucksäcken und einer Reisetasche vor Tobias Wagen. Einem schwarzen riesigen Geländewagen mit getönten Scheiben. Alina schläft noch immer, jedoch hat Tobias sie auf den Armen und trägt sie zum Wagen. Ich lasse die Tasche fallen und öffne ihm die Tür. Vorsichtig legt er Alina auf der Rückbank ab und deckt sie mit der mitgebrachten Decke liebevoll zu. Der Anblick sollte mein Herz erwärmen, was es vielleicht auch für eine Millisekunde tut, doch die Wut auf ihn, ist noch immer in mir. Ich werde die Worte von ihm niemals vergessen. Er würde sie mir ohne zu Zögern wegnehmen.
Wir haben kein einziges Wort miteinander gesprochen, als wir die restlichen Sachen verstaut haben. Am liebsten würde ich noch so vieles einpacken. Am liebsten würde ich hier bleiben. Doch, sollte er recht haben, dann würde ich es mir nie verzeihen, wenn Alina etwas zustoßen würde. Also lasse ich mich darauf ein und unterdrücke die Tränen, die sich erneut anbahnen, als wir an unserer kleinen Einfahrt vorbeifahren und unser neues Heim im Rückspiegel immer kleiner wird, bevor es vollkommen verschwindet und die Dunkelheit der Nacht sich um uns legt.
Irgendwann habe ich mir erlaubt meine Augen zu schließen. Ich wollte so sehr gegen die Müdigkeit ankämpfen, aber ich habe es nicht länger geschafft, was wohl auch an den Schmerzen liegt, die noch immer in meinem Kopf herrschen.
Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich bereits die ersten Sonnenstrahlen, die sich am Horizont abzeichnen und den Himmel in einen warmen Rotton tauchen. Dann werfe ich einen Blick auf Alina, die noch immer mit ihrem Teddy in den Händen auf der Rückbank liegt und in ihrer eigenen friedlichen Welt ist.
„Wann hast du es erfahren?“
Tobias leise Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und bei einem Blick in seine Augen, verkrampfe ich. Es liegt kein Funken Gutes mehr in ihnen. Dass Einzige was noch auf ein Herz hindeuten würde, ist dieser kleine Funke Schuld in seinen Augen. Auch, wenn man dies nur bei einem genaueren Blick erkennen kann. Wenn er es auch nicht direkt ausspricht so weiß ich, was er mit seiner Frage meint. Er will wissen, wann ich erfahren habe, dass ich schwanger bin.
„Einen Monat, nachdem du abgehauen bist.“
Ich kann die Bitterkeit in meinen Worten nicht vor ihm verstecken. Ich will es auch gar nicht. Er soll wissen, dass er es war, der mich im Stich gelassen hat und deswegen hat er auch keinen Anspruch auf Alina. Auch, wenn sein Blick starr nach vorne auf die Straße gerichtet ist, erkenne ich, dass sich in seinen Zügen für einen Augenblick Schmerz spiegelt, bevor dieser wieder von dieser ausdruckslosen, dunklen Miene abgelöst wird. Jedoch verfestigt sich der Griff seiner Finger um das Lenkrad, so dass seine Knöchel weiß hervortreten.
Zu gerne würde ich wissen, was er in der Zwischenzeit getrieben hat. Ob er an mich gedacht hat. Ob er mich vielleicht, auch wenn es nur eine Sekunde war, vermisst hat. Doch dann erinnere ich mich wieder, dass er diese Savannah hatte. Er hatte jemanden, der ihn von den Gedanken an mich mit Sicherheit abgelenkt hat. Ich hingegen hatte nur mich alleine und die Hilfe von meinem Bruder Thomas, seinem ehemaligen besten Freund. Thomas wäre fast durchgedreht. Zuerst hat er noch gesagt, dass es sicherlich ein Missverständnis war. Dass, Tobias es sicherlich nicht so gemeint hat. Doch nach einigen Wochen hat auch er begriffen, dass Tobias ein Arschloch ist. Er hat mehrmals in meinen schwachen Momenten, wo er mitten in der Nacht bei uns aufgetaucht ist, um mich zu trösten, gesagt, er würde ihn für mich umbringen. Bei diesem Gedanken kann ich ein plötzliches Lächeln nicht unterdrücken, auch, wenn die Situation so bizarr ist, dass ein Lächeln nicht wirklich angebracht ist. Doch jetzt neben Tobias zu sitzen macht es irgendwie lustiger. Thomas würde ihm den Arsch aufreißen und ich würde mich wirklich freuen, wenn ich das sehen könnte.
Ich ernte einen verwirrten Blick von Tobias, der sich für einen kurzen Moment zu mir dreht und mich betrachtet. Sofort versuche ich die Gedanken zu verdrängen und mich auf die Wut, die in mir herrscht zu konzentrieren.
„Wo bringst du uns hin?“
„In Sicherheit.“
„Und wo ist diese Sicherheit?“
Genervt warte ich auf eine Antwort von ihm und beginne nervös auf der Innenseite meiner Wange zu kauen.
„Bei jemandem, dem ich mein Leben anvertrauen würde.“
„Das war klar, dass ich keine richtige Antwort bekomme.“
Schnaubend wende ich mich von ihm ab, verschränke meine Arme und starre weiter aus dem Fenster, wo die Landschaft friedlich an uns vorbeifließt.
Die weitere Fahrt verläuft ebenso stillschweigend. Wir haben einen Stopp an einer Tankstelle gemacht. Dort hat Tobias den Wagen aufgetankt und Alina etwas zu Essen gekauft. Er hätte auch mir etwas angeboten, doch ich habe dankend abgelehnt. Auch, wenn mein Magen geknurrt hat. Aber ich werde mich sicherlich nicht von ihm aushalten lassen, wenn er mich ebenso verabscheut, wie ich ihn.
Mittlerweile verschwinden die ersten Sonnenstrahlen bereits wieder hinter dem Horizont und Alina schläft zum Glück erneut, obwohl sie vorhin schon ein wenig gequengelt hat, dass sie endlich wissen will, wo wir hinfahren und dass es so lange dauert. Tobias hat ihr alles ruhig erklärt. Hat ihr versichert, dass, wenn sie schläft und dann wieder aufwacht, wir am Ziel wären. Dabei hat mein Herz wieder einen verräterischen Schlag zu viel gemacht. Dieser Anblick von dem netten, freundlichen Tobias, sollte mich nicht berühren. Nicht auf diese Weise.
Die Häuser am Straßenrand verschwinden mehr und mehr, bis sie völlig von Bäumen und Bergen abgelöst werden, die uns immer dichter umzingeln. Nur noch die asphaltierte Straße erinnert an menschliche Bevölkerung. Und als auch die letzten Sonnenstrahlen hinter den Gipfeln der Berge verschwunden sind, biegen wir in eine kleine mit Kies bedeckte Straße ein. Bei diesem Anblick, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich die beste Entscheidung war, mich auf Tobias zu verlassen. Was, wenn er nicht auf der guten Seite steht? Was, wenn dies alles sein Plan war und er uns etwas antun will? Panik steigt in mir auf. Meine Atmung wird schneller und meine Finger krallen sich fester um die Halterung an der Innenverkleidung der Wagentür.
„Glaubst du wirklich, ich würde euch hier herbringen, nur um euch zu töten? Das könnte ich auch überall anders tun.“
Seine dunkle Stimme durchbricht meine Panik und die Arroganz gemischt mit der Härte in ihr, lässt mich erneut mehr Wut als Panik verspüren.
„Ich vertraue dir nicht.“
„Das sind die weisesten Worte, die ich jemals von dir gehört habe.“
Innerlich zerspringe ich in tausend Teile. Meine Aggression auf ihn wächst ins Unendliche. Dabei noch in sein Gesicht zu blicken, wie sich einer seiner beiden Mundwinkeln nach oben bewegen, während er sich auf die Straße vor uns konzentriert, lässt mich vergessen zu atmen. Hatte ich schon erwähnt, dass ich ihn hasse?
Wütend starre ich weiter aus dem Fenster, bis ich ein Licht in dem dichten Wald entdecke. Als wir uns nähern, erscheint ein riesiges Gebäude. Alles was ich durch das Scheinwerferlicht erkennen kann, sind alte Steine an der Fassade und teilweise mit alten Brettern zugenagelte Fenster. Ein halber Teil der Fassade ist mit Efeu bedeckt und die Hälfte des Geländers, dass sich um die Veranda zieht, ist ebenfalls in einem miserablen Zustand. Dass Einzige, dass noch in einem guten Zustand zu sein scheint, sind die vier Laternen, in denen jeweils eine Kerze etwas Licht abgibt. Na toll. Es sieht aus, wie aus dem Drehbuch eines Horrorfilms.