Ich wog mich langsam hin und zurück, hin und zurück, hin-
Da war ein Summen. Ganz leise.
War das möglich? Es gab keine Stimmen mehr. Nicht seit die Stille sie abgehackt hatte. Verboten.
Konnte ich das zulassen?
Man widersprach der Stille nicht.
Die Konsequenzen, sie schnürten mir die Kehle zu.
Hin und zurück. Hin und zurück. Hin und zurück.
Meine Knie knackten bei jeder neuen Vorwärtsbewegung. Der Boden unter mir war rot gefärbt und die kleinen Glassplitter darauf bildeten ein unifarbenes Mosaik. Sie schimmerten so schön. Wie schmelzendes Eis in Tomatensaft.
Hin und zurück, hin und zurück, hin und zurück.
Jedes Mal kam etwas mehr Flüssigkeit dazu und überschwemmte das Bild um ein neues Gemälde zu beginnen. Winzige Spitzen bohrten sich tiefer in meine Schienbeine. Sie schrien in meine Waden hinein, verlangten nach Aufmerksamkeit, Wärme, Blut.
Oh Gott, da war so viel Blut...
Hin und Zurück.
Hin und Zurück.
Hin und zurück.
Da war es wieder. Kein Ärger mehr. Bitte keinen Ärger mehr.
Das Grau um mich herum wurde eine Nuance dunkler. Ein hohler Würfel, darin saß ich. Meine glitschigen Hände an die Ellbogen gepresst, versuchte ich als Quader in einem Würfel zu existieren.
Ich war viel zu unförmig um mich draußen aufzuhalten.
Zu viel, viel zu viel!
Meine Hände drückten sich auf meine Ohren. Ich durfte meine Stimme nicht hören.
Ein gekreuzigtes Fenster vor mir. Das reichte.
Zu meiner Rechten die Truhe. Ein gruseliges Ding. Gierig starrte es die Luft an, wollte sie einsaugen, inhalieren, atmen - aber es ging nicht. An der Linken Seite waren Tisch und Tür vereint. Nahezu.
Das morsche Möbelstück wollte seinem Partner die Hand reichen, doch es blieb diese eine Spalte. Es war ihm unmöglich die Entfernung zu überbrücken. Hier waren wir versammelt. Die, die nie kriegen würden was sie wollten. Der Raum der Verlorenen, in dem der Boden in Tomatensaft getränkt war. Meine Glieder zuckten unwillkürlich.
Kalte Perlen rannen mir die Wirbelsäule entlang.
Hin und zurück. Hin und zurück. Hin und zurück.
Hinter mir... Ich wusste es nicht, wollte es nicht wissen, würde mich nicht umdrehen. Nein. Nein!
Da war es wieder.
Es sollte stoppen, es musste, es durfte nicht existieren, wieso ließ es mich nicht allein, es war nicht da, das war nicht möglich, bald war ich tot, TOT, die Stille würde uns finden, wieso war es da, wieso verschwand es nicht, woher kam es, woher kam es, woher kam es?
Hin.Zurück.Hin.Zurück.Hin.Zurück.
Ich riss meinen Mund auf und entlies einen tauben Schrei.
Er erreichte meine Ohren nicht. Die Splitter in meinen Waden surrten und kreischten wild, während die Bilder aus Glas sich fließend abwechselten.
Mein Körper war kalt, die Beine fühlten sich klamm an. Das Gefühl war aus ihnen herausgeflossen. Es sollte mich allein lassen! SOFORT. Ansonsten kam die Stille und holte uns. Sie würde mich dazu zwingen, mich umzudrehen. Ich wollte das nicht sehen. Niemals. Meine Hände pressten sich noch enger auf die Ohren. Es war nicht genug. Dieses Summen verstummte einfach nicht. Ich konnte nicht mehr unterscheiden. War das auf meinem Körper nun Schweiß oder Tomatensaft ? Es fühlte sich alles nass und frostig an. Vereiste Muskeln. Nadeln durchstachen meine Gliedmaßen, die Brust, den Bauch. Das Geräusch wurde immer lauter. Die Tür würde nicht lange widerstehen. Nein. Nein! NEIN!
Du durftest nicht sein. Du konntest nicht sein. Dein Sein musste verschwinden.
Vor.
Zurück.
Vor.
Zurück.
Vor.
Zurück.
Der Atem des Unmöglichen, direkt an der Tür.
Dann war da Licht, so grell. Ich kniff die Lieder zusammen, ganz fest. Bitte Stille, lass mir meine Ruhe...
"Rate was ich heute für dich - Schatz? Was machst du da?"
Eine Frau. Mittfünfzigerin mit molliger Statur. Sie steht im Türrahmen, einen milde überraschten Ausdruck im Gesicht.
Er weicht schnell einem Blick der Erkenntnis, gefolgt von einem besorgten Stirnrunzeln.
"Du hattest wieder diesen Albtraum, nicht wahr? Ach, mein Liebling. Nicht die Hoffnung verlieren. Wir kriegen das hin. Wir sind immerhin ein Team! Es wird besser, glaub mir. Aber zuerst..."
Schritte kommen auf mich zu. Ein Schatten streicht über meinen Kopf und daraufhin legen sich zwei Hände auf meine Schultern. Sie sind warm, um so vieles wärmer als meine steifen Glieder.
"...müssen wir dich woandershin verfrachten. Der Boden ist kein ordentlicher Sitzplatz, dafür ist er viel zu kühl. Am Ende handelst du dir noch eine Nierenentzündung ein!"
Langsam drehe ich mein Gesicht in Richtung der Dame, die sich neben mich gekniet hat. Ich starre durch ihre Augen ins Nichts.
Am liebsten hätte ich meine Arme bewegt um ihren Mund zu bedecken - sie redet zu viel und zu laut und zu freundlich, das wird der Stille nicht gefallen - doch es geht nicht. Meine Finger haben sich an meinen Ellbogen verkrampft und lösen sich nicht mehr.
Dann sind da noch mehr Finger. Sie streicheln sanft über meine, heben einen nach dem anderen von ihrer festgefrorenen Position.
Ich ziehe meinen Blick zurück zu meinen Knien. Das Mosaik ist verschwunden. Nichts ist mehr rot, ein bläuliches weiß strahlt mir jetzt entgegen. Wohin ist der Tomatensaft gegangen? Vorhin war der Boden doch noch rot, rot wie Blut-
Abscheulich.
Mein Magen zieht sich zusammen und aus meinen Lungen weicht alle Luft.
Hin und zurück, hin und zurück. Hin. Zurück.
Hin.
Ein Arm-Paar umschließt meinen Oberkörper. Die Wärme ist tröstlich. Sie vertreibt das Eis aus meinen Muskeln. Darauf folgt ein ruhiges Flüstern.
"Das wird wieder. Ich weiß es. Du bist stark."
Der Rest an Kälte, der sich in mir befunden hat, fließt aus meinen Augen heraus, tropft auf den bläulich schimmernden Boden.
Unmerklich bewege ich meinen Kopf an ihrer Schulter.
"Mom..."
Sie lächelt mich an, hebt ihre Mundwinkel für mich.
"Na komm, wir bringen dich für's erste auf dein Bett."
Ich glaube nicht das ich jemals wieder meine Beine bewegen kann. Sie brennen, sacken ein. Nichtsdestotrotz hebt sie mich vorsichtig an den Schultern und bugsiert mich zum Bett direkt vor uns. Dann kniet sie nieder. Auf Augenhöhe. Ihre Hände liegen federleicht auf meinen Oberschenkeln.
"Rate mal was ich heute für dich gebacken habe: Einen frischen Apfelkuchen! Den liebst du doch so sehr. Wir sollten ihn gleich essen, während er noch schön warm ist und nach Zimt riecht. Du weißt wie schnell der Geruch aus dem Ofen verfliegen kann."
Ein adrettes Zwinkern. Ich freue mich, wirklich. Ein Lächeln versucht meine Lippen zu erreichen doch dann fällt mein Blick auf das rote Riemchen ihres hervorlugenden BH-Trägers.
Blutrot.
Meine Hände schossen zu meinen Ohren und ein weiterer Schrei entfloh meinen Lungen. Diesmal war er stumm.
Ich hatte mich umgedreht, mein Rücken war nun dem Fenster zugewandt. Das wollte ich nicht, nein! Nein, nein,nein,neinneinneinneinneineineineineinneineineineineineinein
"Schatz!"
Ein verängstigtes Gesicht. Hände an meinen Wangen. Dahinter nicht mehr, als eine weiße Wand.
"Es wird aufhören mein Liebling. Wir können nichts mehr daran ändern das es passiert ist, aber eines kann ich dir versichern: Diese Albträume werden vorbeigehen." Sie schaut mir fest in die Augen. Kein Platz für Unsicherheit. Ich würde ihr zu gerne glauben.
Irgendwann wird es ein Ende haben.
Ich schiebe sanft ihre Hände auf die Bettkante und drehe mein Gesicht zum Fenster.