„Es gibt keine Grenzen.“
Die Götter schufen einen Raum und sie schufen ihn ohne Grenzen. Der Raum war mit Materie gefüllt, doch die Materie nahm keine erkennbare Form an. Sie war komprimiertes weißes Licht, das wie ein Sturmwind über gleißende Ebenen fegte und ein schwarzer Schatten, der das Licht in seinen unendlichen Rachen zog, zugleich. Sie tat nicht mehr als zu existieren.
Die Götter waren zufrieden mit ihrer grenzenlosen Welt, denn sie selbst waren grenzenlos und vermochten sich die Enge einer Grenze nicht auszumalen.
Doch die Welt, die sie geschaffen hatten, bot niemandem Platz außer ihnen, die sie nicht mehr als ein Flüstern waren, eine formlose Präsenz und das bloße Gefüge des von ihnen gemachten Raumes; denn nie hätten sie ihre Existenz durch eine Form eingezwängt. Sie kannten keine Grenzen, nicht in ihrem Tun, nicht in ihrer Vorstellung.
Die Welt blieb leer und die Götter störten sich an der Leere. Sie wollten Dinge schaffen, Leben: Pflanzen, Tiere, Menschen. Aber die Götter begriffen die Gestalt der Dinge nicht, denn sie vermochten nicht, sich Grenzen auszumalen. Es trieb sie zur Verzweiflung.
„Das Etwas benötigt Form, doch wissen wir nicht, wie die Form auszusehen hat“, stellten sie fest und überlegten.
„Nichts ist uns ebenbürtig“, sagte einer der ihren. „Nichts außer uns kann grenzenlos sein.“
„Die Grenzenlosigkeit ist unbegreiflich für das Leben und für den Geist der Menschen“, sprach ein zweiter und auch die anderen fielen ein. Jedes ihrer Worte dauerte ewig an.
„Werden sie die Welt denn dann verstehen?“
„Nein, sie werden unserer schönen grenzenlosen Welt Grenzen setzen.“
„Das ist bedauerlich.“
„Das ist die Natur der begrenzten Dinge.“
Nun schwiegen sie für eine unbegrenzte Zeit, die sich kein Mensch auszumalen vermag. Dann, irgendwann vernahmen sie die Echos ihrer Namen aus einer fernen Zukunft, die gleichzeitig Vergangenheit und Gegenwart war, und sie hörten das erste Mal die Sprache der Menschen, die eingeschränkt war, da kein Wort ewig dauerte. So lernten die Götter, einen Teil der Begrenztheit zu verstehen, denn ein jeder von ihnen hatte nur endlich viele Namen und sie erklangen nicht von überall und nicht immer.
„Die Menschen werden selbst der Zeit Grenzen setzen“, sprach einer.
„Sie werden uns Namen geben, doch die Namen werden kurz und leise klingen in ihren Sprachen.“
„Sie werden uns Form und Gestalt geben.“
„Sie werden uns Grenzen setzen.“
Das bestürzte die Götter. Wieder schwiegen sie und diesmal schien ihnen die Zeit lang, da sie das Zeitgefühl der Menschen, die sie schaffen wollten, nun verstanden. Als sie ihre göttlichen Stimmen wieder erhoben, schien ihnen ihre Welt alt geworden. So lernten die Götter, einen weiteren Teil der Begrenztheit zu verstehen, denn nun sahen sie, dass auch das Leben alterte und schließlich stürbe.
„Die Menschheit und alles unter ihrer Herrschaft wird vergehen und sterben“, klagten sie. „Wir sind nicht fähig, unseresgleichen zu schaffen. Wir haben nur eine grenzenlose Welt geschaffen, die wir für perfekt hielten und nun, da wir über die Menschen nachdenken, scheint sie uns trostlos und kalt.“
Mit diesen Worten sahen sich die Götter in ihrem grenzenlos Raum um, der makellos war und voll von schwirrender Materie ohne Form. Es wurde ihnen klar, dass die Menschen die Unendlichkeit nicht verstehen würden, dass sie Zeit und Raum Grenzen setzen würden und die Götter fragten sich, wer sie selbst in einer begrenzten Welt wohl wären.
„Wer sind wir?“, riefen sie.
„Wir sind die Grenzenlosigkeit. Doch die Menschen werden uns Namen geben und Abbilder von uns machen und uns damit verstümmeln.“
„Die Menschen werden uns neu schaffen nach ihrem Abbild.“
„Nur die Fantasie der Menschen ist grenzenlos und sie wird uns schaffen.“
„Die Menschen werden uns schaffen nach ihrem Abbild.“
„Wir sind die Grenzen, mit denen die Menschen die Welt zu erklären versuchen.“
„Die Menschen haben uns geschaffen nach ihrem Abbild.“
„Wir werden jede Form annehmen, die sich ihre unendliche Fantasie auszumalen vermag, doch nie werden wir unendlich sein.“
„Die Menschen schaffen uns nach ihrem Abbild.“
Die Götter blickten in die Unendlichkeit und verließen die Grenzen der Welt.