»Helena? Was ist denn hier los?«
»Oh, Gabriele, du kommst gerade recht. Hebe mir doch bitte diesen Tuchballen auf den Tisch, sei so nett.«
Gabriele Contarini warf seiner Schwester einen verblüfften Blick zu, tat jedoch kommentarlos, worum sie ihn gebeten hatte. Helena griff nach dem Anfang der Tuchbahn und rollte ein paar Ellen auf dem schweren Eichentisch aus, der den größten Lageraum der Ca´Contarini in zwei Hälften teilte.
»Nun seht her, Meister Ziane!«, forderte sie den Kaufmann auf, der die Ballen angeliefert hatte. »Das ist nicht die Qualität, die ich bestellt hatte. Die Oberfläche dieses Seidenbrokats ist nicht gleichmäßig! Das kann ich meinem Kunden unmöglich anbieten.«
»Aber Signorina Contarini. Betrachtet einmal dieses extravagante Muster, da fällt so eine minimale Unregelmäßigkeit doch nicht weiter auf.«
»Nun, mir fällt sie auf, Meister Ziane. Und mein Kunde wird es ebenso bemerken, denn er ist Kenner und Liebhaber kostbarer Gewebe. Er stellt höchste Anforderungen an die Qualität und ich werde ihm selbstverständlich keine minderwertige Ware liefern. Also nehmt Eure Ballen wieder mit.«
»Ihr seid entsetzlich streng, Signorina Contarini. Euer Herr Vater sähe das gewiss anders.«
»Mein Vater ist aber nicht hier«, verkündete sie mit honigsüßem Lächeln. »Nur ich.«
Gabriele wandte das Gesicht ab, um sein Grinsen zu verbergen. Ziane hatte nicht die geringste Chance gegen Helena zu bestehen, wenn sie in dieser Stimmung war.
»Da Ihr mit mir aber anscheinend nicht zu handeln wünscht, schafft Eure Ballen nur gleich wieder hinaus«, setzte sie hinzu.
»So einfach könnt Ihr mich nicht fortschicken, Signorina Contarini. Schließlich habe ich die Ware nach Euren speziellen Vorgaben anfertigen lassen. Was soll ich denn jetzt damit machen?«
Helena hob eine Augenbraue und bedachte den Kaufmann mit einem ihrer speziellen Blicke, der die Männer für gewöhnlich zu einem strategischen Rückzug veranlasste. »Das ist nicht meine Sorge«, gab sie zurück.
Ziane, dem nun wohl endgültig aufging, dass Helena sich nicht erweichen lassen würde, änderte seine Strategie. »Ich gebe Euch fünf Prozent auf den vereinbarten Preis, Signorina Contarini.«
»Fünfundzwanzig.«
»Acht.«
»Zweiundzwanzig.
Gabriele wandte sich grinsend ab und ging ins Kontor des Hausherrn. Er legte die mitgebrachten Briefe auf den Schreibtisch, schenkte sich einen Becher Wein aus dem Vorrat seines Vaters ein und setzte sich damit auf eine Truhe.
Seine kleine Schwester war schon eine ganz besondere Frau. Allerdings teilte Gabriele durchaus die Sorgen seiner Mutter. Nach dem Tod ihres Verlobten Raffaele vor knapp zwei Jahren hatte Florimond seiner Tochter eine gewisse Trauerzeit zugebilligt. Doch Helena war nun beinahe achtzehn Jahre alt und es wurde höchste Zeit sie mit einem guten Mann zu verheiraten. Nur mit wem? Welcher junge Mann war in der Lage, ihren Unabhängigkeitssinn in vernünftige Bahnen zu lenken, ohne sie dazu im Haus einsperren zu müssen?
Sein Vater erwartete, dass er Vorschläge machte, doch Gabriele war sich nicht sicher, ob er dieser Aufgabe tatsächlich gewachsen war. Er liebte seine Zoe über alles und wünschte sich für seine Schwester eine ebenso glückliche Verbindung. Er hatte auf subtile Weise versucht, ihr die Ehe schmackhaft zu machen, indem er ihr junge Männer als angebliche Kunden ins Kontor brachte, doch seine kleine Schwester hatte sich für keinen von ihnen sonderlich erwärmen können. Und die Männer neigten dazu, über Helenas Kenntnisse die Nasen zu rümpfen. Mit einer Frau, die schneller rechnete und härter verhandeln konnte als sie selbst, wollten sie lieber nichts zu tun haben. Doch auf Dauer ging es so nicht weiter.
Als Helena wenig später den Raum betrat, schob er die lästigen Gedanken jedoch nur zu gerne beiseite. Sie grinste ihn triumphierend an und Gabriele schüttelte in gespieltem Missfallen den Kopf. »Wie viel Prozent hast du dem armen Kerl denn wieder abgehandelt?«, fragte er.
»Och, nur fünfzehn«, gab sie zurück. »Ich wollte ja nicht unverschämt sein.«
»Helena, Helena, manchmal machst du mir wirklich Angst.«
»Was denn? Wäre ich dein Bruder, würdest du mir zu dem hervorragenden Abschluss gratulieren, hab ich recht?«
»Ja, ich weiß«, räumte er unwillig ein. »Aber da du nun einmal meine Schwester bist, bereitet mir dein Talent mehr Kummer als Freude.«
»Oh, bitte, Gabriele. Fang nicht wieder mit deinen Heiratsplänen für mich an. Glaubst du, ich wüsste nicht, wozu du mir diese ganzen neuen Kunden ins Kontor gebracht hast? Ich war zurückhaltend, höflich und habe mich auch nicht an dem Disput über die allgemeine Knappheit auf dem Goldmarkt beteiligt - was du mir hoch anrechnen solltest - trotzdem haben sie schneller die Flucht ergriffen, als man ein Ave Maria sprechen kann.«
»Ja, nachdem du mit dem persönlichen Schreiber des Dogen auf französisch konferiert, einen unserer Kapitäne auf griechisch begrüßt, und mit diesem Kaufmann aus Nürnberg ein Schwätzchen in seiner Zungen brechenden Sprache gehalten hast. Und dass alles, in der Hälfte der Zeit, die man braucht, um ein Ave Maria zu sprechen. Ehrlich gesagt, finde ich das schon ein bisschen einschüchternd.«
»Tja, vielleicht für Männer, die glauben, außergewöhnlich gebildet zu sein, weil sie lesen und schreiben können«, gab Helena zurück.
»Wie kommt es überhaupt, dass du Deutsch sprichst, Helena?«, fuhr Gabriele fort. »Niemand in unserer Familie kann das. Wer, zur Hölle, hat es dich gelehrt?«
Helena holte das Hauptbuch aus dem Regal, trug es zu ihrem Schreibpult und schlug es auf, um den Ankauf des Brokatstoffes zu vermerken.
»Andara«, bemerkte sie von oben herab. »Die durchaus zur Familie gehört, wie du dich freundlicherweise erinnern wirst.«
Gabriele starrte kurz in seinen Becher, doch dann hob er den Blick und sah Helena direkt an. »Ich möchte nicht mit dir streiten, Helena. Du bist eine kluge junge Frau. Das hier«, er machte eine Handbewegung, die das ganze Kontor umfasste, »kann nicht ewig so weitergehen. Das weißt du so gut wie ich.«
»Was heißt, es kann nicht so weitergehen?«, erwiderte Helena ungehalten. »Soll Vater die ganze Arbeit alleine tun? Wer unterstützt ihn denn? Du vielleicht? Domenico? Michele? Sag, wer?«
Gabriele hob ratlos die Hände. »Ich weiß, was du leistest. Aber der Handel kann nicht deine Zukunft sein, Helena. Am Rialto fangen sie schon an sich die Mäuler zu zerreißen.«
Helena schloss das Hauptbuch mit einem Knall und trug es an seinen Platz zurück. »Sollen sie doch.«
Gabriele schluckte und schüttelte hilflos den Kopf. »Du brauchst einen Ehemann, Helena.«
»Schön. Dann finde mir einen, der mich so annimmt, wie ich nun einmal bin. Eigenes Handelsgeschäft eingeschlossen.«
»Ich habe dir versprochen, auf deine Wünsche Rücksicht zu nehmen, was deinen zukünftigen Ehemann betrifft«, erinnerte er sie brüsk. »Das setzt allerdings voraus, dass du endlich einmal einen Kandidaten in Erwägung ziehst und ihn nicht verscheuchst, bevor er Gefallen an dir findet.«
»Jetzt kommt das wieder«, schnaubte Helena. »Jedes Mal, wenn du versuchst, die armen Männer in Schutz zu nehmen, könnte ich dich erwürgen, Gabriele Contarini.«
»Ich bin nicht sicher, dass sie es wert sind, mein Leben für sie zu riskieren, aber irgendwer muss dir schließlich von Zeit zu Zeit den Kopf zurechtrücken«, gab er zurück. »Vater mag dir zwar Geld geliehen haben, doch er tat es in der Gewissheit, es zu verlieren. Er dachte, du seist einsichtiger, nachdem dein Plan gescheitert wäre.«
»Was dich vermutlich kaum grämen würde«, gab sie bissig zurück. »Aber keine Sorge. Ich habe nicht vor mit meinem Handel zu scheitern.«
»In zwei Tagen wird die erste Rückzahlung an Vater fällig«, erinnerte er sie. »Wie ich so höre, hast du das Geld nicht.«
»Tja, zahle deinem Spion besser keine Prämie, denn er hat dir eine falsche Information geliefert. Die fällige Rate wurde Vaters Konto heute gutgeschrieben.«
Gabriele sagte lange Zeit nichts. Schließlich nickte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll.«
Helena zuckte die Schultern. »Das bleibt dir überlassen. Jetzt sei so gut, mich nicht länger aufzuhalten. Ich muss die Korrespondenz durchsehen, die du mitgebracht hast.«
Gabriele erhob sich von seiner Truhe und verneigte sich förmlich vor ihr. »Was immer Ihr sagt, Signorina Contarini«, und verließ das Kontor.
Helena sah ihrem Bruder stumm hinterher. Seine unverhohlene Hoffnung, sie scheitern zu sehen kränkte sie zutiefst, erfüllte sie mit einem gewaltigen Zorn, der umso bitterer war, als es niemanden gab, den sie für ihre Lage verantwortlich machen konnte. Ihr Vater hatte ihr das Startkapital für ihren Handel vorgestreckt, ohne ein Wort der Kritik zu äußern. Sie hatte in der Gewissheit geruht, dass er an sie glaubte. Zu erfahren, dass er das Geld insgeheim längst abgeschrieben hatte, erschien ihr wie ein Faustschlag ins Gesicht. Sie glaubte nicht, dass sie das verdient hatte. Die Gehilfen und Schreiber im väterlichen Kontor hatten sie immer als eine der Ihren behandelt, obwohl sie eine Frau war. Ihr Gespür für gewinnbringende Investitionen hatte Gabriele und ihrem Vater mehr als einmal gute Geschäfte eingebracht. Sie schuldeten ihr beide etwas. Und doch warteten sie nur darauf, dass sie kläglich scheiterte. Unweigerlich brachte sie diese Erkenntnis zu der Frage, was sie falsch gemacht hatte. Warum es ihr bisher nicht gelungen war, mehr Salbentiegel zu verkaufen. Einem Mann, mutmaßte sie, wäre das ohne Zweifel gelungen. Sie verstand nicht, wieso eine Ware, die speziell für Frauen gemacht war, nicht besser von einer Frau verkauft werden konnte, und das steigerte ihren Zorn. Aber sie würde es den Männern ihrer Familie schon zeigen.
Helena öffnete ihr Schreibpult, zog ein Blatt Pergament heraus und strich es glatt. Was sie brauchte, war ein Kommissionär, der ihre Waren an die Frau brachte. Und sie wusste auch schon ganz genau, wen sie fragen konnte.
Joran.
Sie würde eine Nachricht für ihn bei Pisani hinterlassen und ihn um ein Gespräch bitten. Einem guten Geschäft war er sicher nicht abgeneigt. Sie tauchte ihre Feder in die Tinte und begann zu schreiben.