Konzentriert lauschte Helena den Verhandlungen, die ihr Vater mit Hilfe eines sprachkundigen Maklers mit dem deutschen Kaufmann führte. Im Geiste dankte sie Andara für den strengen Unterricht, denn sie verstand einen Großteil der Worte, obwohl die Aussprache des Händlers ein wenig seltsam war. Er kam aus einer Stadt namens Bremen, von der Helena noch nie gehört hatte.
Sein Handelskonvoi war am Vortag in die Lagune eingelaufen und nun herrschte in Innenhof der Fondaco Tedeschi lärmendes Gedränge. Auf jeder freien Fläche stapelten sich Kisten, Ballen und Säcke. Vor den Lagerräumen hatten die Kaufleute aus den Ländern jenseits der Alpen Tische aufgestellt und boten den Venezianern ihre Schätze feil. Der Makler bahnte ihnen einen Weg durch das Gedränge und Helena bewunderte die Vielfalt der ausgestellten Waren.
In einer Truhe glänzten Bernsteinknollen, groß wie Hühnereier. Daneben gab es einen Tisch mit Pelzwerk, Zobel und beinahe schwarzen Silberfuchsfellen aus Sibirien. Helena musste nur kurz überlegen. Felle dieser Art waren bei den arabischen Herrschern sehr beliebt und erzielten Höchstpreise.
»Vater!«, rief sie. »Das solltet Ihr Euch ansehen.«
Florimond machte bereitwillig kehrt und trat an ihre Seite. Sie zeigte ihm die Silberfuchsfelle und erklärte ihm, welche Vorteile sie sich von ihrem Kauf versprach.
»Mit anderem Worten, du bittest mich um einen weiteren Kredit?«, fragte er mit undurchdringlichem Gesichtsausdruck.
»Davon kann keine Rede sein«, erwiderte sie. »Meine Geschäfte finanziere ich schon selbst. Ich brauche lediglich Eure Hilfe bei der Abwicklung, da Messèr Guardiola«, sie nickte in Richtung des Maklers, »es ja kategorisch ablehnt, mit einer Frau zu verhandeln.«
Florimond Contarini betrachtete seine Tochter augenzwinkernd. »An seiner Stelle würde ich mit dir auch nicht verhandeln wollen. Ich wäre ständig in Sorge, den Kürzeren zu ziehen, weißt du?«
Helena hielt den Blicken ihres Vaters beharrlich stand. »Ihr solltet dankbar sein, dass ich Eure gelehrige Schülerin bin. Bald weiß ich so viel wie Gabriele, nein, sogar noch mehr. Eines Tages werdet Ihr froh sein, eine Tochter zu haben, die Eure Geschäfte führt, besser, als einer meiner Brüder es je vermag.«
»Darüber sprachen wir doch schon, Helena.«
»Ich weiß, Herr Vater. Aber ...«
»Genug. Immer wieder darauf herumzureiten bringt dich nicht weiter, Helena, also erweise mir den Gefallen und gib dich zufrieden, mit dem, was du hast.«
»Zuweilen frage ich mich, was das eigentlich ist«, murmelte Helena, aber sie hatte so leise gesprochen, dass ihr Vater vorgeben konnte, er habe es nicht gehört.
Sie trat ein paar Schritte zur Seite und beschäftigte sich mit den Fellen, weil sie plötzlich auf Abstand zu ihrem Vater gehen musste. Sie fühlte sich zunehmend wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln, der zwar ein wenig herumflattern konnte, aber niemals in der Lage sein würde zu fliegen.
Der Pelzhändler sprach sie in ungelenkem Venezianisch an. Helena antwortete in seiner eigenen Zunge, was den Mann zu einem begeisterten Redeschwall veranlasste. Bald waren beide in lebhafte Verhandlungen vertieft.
Auf Guardiolas Stirn erschien eine steile Falte. »Was tut die Signorina Helena denn da, wenn ich fragen darf?«
Contarini hob nachlässig die Schultern. »Ich nehme an, sie feilscht mit dem Kaufmann um den Preis für seine Pelze, wie ich es ihr aufgetragen habe.«
»Ihr erlaubt Eurer Tochter, für Euch zu verhandeln? Seid Ihr von Sinnen Messèr Contarini?«
»Keineswegs. Sie erzielt für gewöhnlich hervorragende Abschlüsse. Warum sollte ich ihre Begabung nicht ausnutzen?«
»Es gehört sich nicht für eine Donzella, sich mit solchen Dingen zu beschäftigen. Was sagt denn ihr zukünftiger Ehemann dazu?«
Contarini runzelte die Stirn. »Von welchem zukünftigen Ehemann sprecht Ihr?«
»Oh. Demnach stimmt es.«
»Was stimmt? Drückt Euch ein wenig klarer aus, wenn ich bitten darf.«
»Nun, ganz wie Ihr wollt. Es geht allenthalben das Gerücht, dass es Euch an Bewerbern um die Hand Eurer Tochter mangelt. Dass nicht einmal die Höhe ihrer Mitgift genügt, um ihre offensichtlichen Mängel aufzuwiegen.«
Contarini schnaubte. »Ihr könnt von Glück reden, dass ich nicht die Absicht habe, auf Eure unverschämten Äußerungen einzugehen. Aber Ihr könnt der Signoria ausrichten, sie möge mir in Zukunft einen anderen Makler an die Seite stellen.«
Helena hob den Kopf und sah zu ihrem Vater hinüber. Etwas an seinem Tonfall hatte sie stutzig gemacht, und als sie jetzt seine steinerne Miene betrachtete, wusste sie, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
»Helena. Wir gehen!«, grollte Contarini und stapfte davon. Helena biss sich auf die Lippen, um die Frage zu unterdrücken, die ihr auf der Zunge lag. Eilig beschrieb sie dem Händler die Lage der Ca´Contarini und bat ihn, die Pelze liefern zu lassen, bevor sie hinter ihrem Vater her eilte. Die Pelze waren wunderbare Stücke und sie hoffte, dass ihr hastiger Aufbruch keine Schwierigkeiten mit Guardiola nach sich zog. Ohne die Vermittlung eines Maklers, der die Betreibung der Zölle und Steuern zu überwachen hatte, waren Geschäfte zwischen Venezianern und den deutschen Kaufleuten nicht erlaubt.
Während der Rückfahrt zum Kontor hüllte ihr Vater sich in Schweigen. Sein Gesichtsausdruck war dermaßen grimmig, dass Helena es auch jetzt nicht wagte, ihn anzusprechen. Geduld war nicht unbedingt ihre starke Seite, doch in diesem Fall erschien es ihr sinnvoller, nichts zu überstürzen. In Gedanken ging sie noch einmal alle Aufgaben durch, die sie für die Compagnia erledigt hatte. Doch so sehr sie sich auch den Kopf zermarterte, Ihr wollte nichts einfallen, was schief gelaufen sein konnte. Die Missstimmung ihres Vaters musste demnach mit einer Sache zusammenhängen, die sich im Fondaco ereignet hatte. Dabei war sie doch die ganze Zeit in seiner Nähe gewesen. Was hatte sie nicht mitbekommen?
Contarini ließ vor dem landseitigen Eingang anlegen und half seiner Tochter aus der Gondel. Helena dankte ihm und machte sich auf den Weg Richtung Kontor, doch ihr Vater schickte sie in ihr Gemach im Obergeschoss und trug ihr auf, dort zu bleiben, bis er sie rufen ließe. Nun verstand sie gar nichts mehr. Konnte es sein, dass er von ihrem unglückseligen Kussversuch erfahren hatte? Nein, dachte sie, das war unmöglich. Niemand hatte sie und Joran beobachtet, da war sie sich sicher. Ohnehin fragte sie sich, ob die ganze Sache nicht nur ein Traum gewesen war. Joran hatte in seinen Nachrichten kein Wort über den Kuss verloren und sich ausschließlich auf geschäftliche Aspekte beschränkt. War ihm ihr Vorstoß so peinlich, dass er beschlossen hatte, ihn totzuschweigen?
Himmel, dabei sah es bei ihren Schwägerinnen immer so leicht aus, einen Mann zu betören! Warum gelang ihr das nicht?
Schön, dann würde sie sich eben auf das konzentrieren, was sie konnte. Sie würde es ihrer Familie zeigen und ein Handelsimperium aufbauen. Mit Jorans Hilfe konnte sie es schaffen, davon war sie überzeugt.
Doch was, wenn ihr Vater ihre kleine Intrige mit Joran entdeckt hatte? Nein, dachte sie, auch das war nicht wahrscheinlich. Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, dass keine verfänglichen Schriftstücke im Kontor auftauchten. Ihr Vater konnte unmöglich davon Wind bekommen haben.
Sie seufzte. Unter diesen Umständen blieb ihr nichts anderes übrig als abzuwarten, bis man ihr sagte, um was es ging. Was hoffentlich nicht allzu lange dauern würde.
Helena musste bis zum Abend in ihrem Gemach ausharren, ohne eine Nachricht zu erhalten. Endlich erschien ihre Zofe und bat sie in den kleineren Saal im Piano nobile, in dem die Familie ihre Mahlzeiten einnahm, wenn sie unter sich waren.
Florimond Contarini saß am Kopf der langen Tafel, seine Miene untypisch ernst, seine Augen ohne das spitzbübische Funkeln, mit dem er sie sonst bedachte. Zu seiner Linken saß Monna Viviana, neben ihr Gabriele, der Helena mit kaum verhohlenem Ärger entgegenblickte.
Helena sank der Mut. Mit einem Mal war sie sicher, dass ihr eine weitere Auseinandersetzung bevorstand, die nur ihr Streben nach einem eigenen Handel zum Thema haben konnte.
»Ihr macht Gesichter, als sei jemand gestorben«, sagte sie und setzte sich auf ihren Platz. »Folglich geht es wieder einmal um meine Arbeit im Kontor, richtig? Falls Ihr mir nahelegen wollt, die Sache aufzugeben, weil mein Geschäft ohnehin in Kürze bankrott geht, so kann ich nur sagen: Pech gehabt. Die zweite Rate ist bezahlt und die Dritte stellt kein Problem dar.«
»Darum geht es nicht«, sagte ihr Vater. »Die Raten sind belanglos.«
»Wie beruhigend«, erwiderte Helena spitz.
Ihr Vater ging jedoch nicht auf ihren Tonfall ein. »Was mir Sorgen macht«, fuhr er fort, »ist der Vorfall von heute Morgen. Messèr Guardiola war so unhöflich, mich auf einige Gerüchte anzusprechen, die deine Person betreffen, Helena.«
»Das Übliche nehme ich an.«
Contarini schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Es war kein sonderlich kluger Schachzug von dir, all die jungen Patrizier mit deinen Kenntnissen zu brüskieren.«
»Ach, und wer hat angefangen, sich aufzuführen wie balzende Gockel? Ich habe mir höflich den bodenlosen Unsinn angehört, den sie von sich gegeben haben, bis es einfach zu viel wurde. Muss ich Dummheit tolerieren, nur weil ich eine Frau bin?«
»Du tätest gut daran, dich zu mäßigen und deine Zunge im Zaum zu halten, Helena«, sagte Gabriele.
»Ach wirklich? Weil sonst was passiert?« Sie betrachtete ihren Bruder herausfordernd.
»Ich könnte mich dazu entschließen, dich aus dem Kontor zu verbannen«, sagte ihr Vater.
Helena nickte ungerührt, obwohl die Verzweiflung angesichts dieser Aussicht sie wie ein Mahlstrom in die Tiefe ziehen wollte. »Das heißt, Ihr legt keinen Wert auf ein Geschäft mit siebzig Prozent Gewinnspanne, dass ich für Euch ausgehandelt habe? Schön. Das erspart mir einiges an Aufwand.«
Sie erhob sich ungestüm und wollte den Raum verlassen, doch Contarini rief sie zurück. »Augenblick. Unser Gespräch ist noch nicht beendet. Ich wäre dir ausgesprochen dankbar, wenn du unsere Sorgen um deine Zukunft zur Abwechslung einmal ernst nehmen könntest.«
Sie wandte sich langsam um, setzte sich jedoch nicht wieder auf ihren Platz. »Ah. Jetzt fange ich an zu begreifen. Es geht einmal mehr um meinen ach so schlechten Ruf. Soll ich Euch sagen, was ich davon halte? Ich pfeife darauf!«
Gabriele schüttelte den Kopf. »Du giltst als stur und vollkommen unlenkbar«, sagte er grimmig. »Man munkelt allenthalben, nicht einmal die Höhe deiner Mitgift sei noch in der Lage, einen potenziellen Ehemann über deine Charakterschwäche hinwegzutrösten.«
Helena wedelte seinen Einwand beiseite. »Ich brauche keinen Ehemann. Mit meinem Geschäft bin ich in der Lage, mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen.«
»Vorausgesetzt, du findest genug Kunden, die bereit sind mit einer Frau Geschäfte zu machen«, schoss Gabriele zurück.
Die er in ihre Nähe lassen würde, meinte er natürlich. Gabriele hegte offenbar den Plan, sie vollkommen abzuschirmen. Helena verriet ihm lieber nicht, dass sie Joran als Kommissionär gewonnen hatte. Dass Ferroni ihre Waren verkaufte und sie es gar nicht nötig hatte, selbst mit den Kunden zusammenzutreffen.
»Du bringst Schande über dich und den Namen Contarini«, sagte Viviana. »Hast du darüber schon einmal nachgedacht, Helena?«
»Ach, Mutter. Seit wann ist es eine Schande, das Familienvermögen zu mehren? Seht Euch einmal die Zahlen an und Ihr werdet feststellen, dass ich besser bin als meine Brüder ...«
»Genug jetzt!«, fuhr Contarini ihr über den Mund. »Mir scheint, du willst den Ernst der Lage nicht begreifen, Tochter.«
»Ich wünschte, ich hätte nur ein einziges Mal die Unterstützung meiner ganzen Familie ...«, murmelte Helena.
»Nun, wie dem auch sei«, fuhr Contarini fort, als habe er Helenas Worte nicht gehört. »Da es auf keinen Fall so weitergehen kann wie bisher, wirst du in Zukunft nur noch die Hälfte der Zeit im Kontor verbringen. Du wirst deinen Schreibaufgaben nachgehen und dabei tunlichst vermeiden, mit Kunden, Handwerkern oder Händlern in Kontakt zu kommen. Den Rest des Tages wirst du mit den üblichen Beschäftigungen einer jungen Dame deiner Herkunft verbringen. Du wirst mit uns Feste besuchen und dich in angemessener Weise mit den jungen Männern unterhalten, die wir für dich auswählen. Du tust, was ich sage, und zwar ohne Widerspruch und Ausflüchte.«
»Oh, Vater, ich werde sterben vor Langeweile.«
»Ich kann dich auch vollständig aus dem Kontor verbannen, Helena. Du kannst es dir aussuchen.«
Helena schluckte, aber ihre Kehle war mit einem Mal so trocken, dass sie nur Luft schluckte. Sie überlegte fieberhaft, was sie tun konnte, um ihren Vater umzustimmen.
Gar nichts, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie musste sich mit dem kleineren Übel arrangieren, bevor sie jedes Quäntchen Freiheit verlor, das sie jemals besessen hatte.