Schon seit Jahrzehnten, stand der mächtige Walnussbaum am Ufer eines kleinen Bachlaufes. Als der kalte Winter vorbeigegangen war, da wuchsen die ersten grünen Blättchen an seinen kahlen Ästen.
Kurz darauf sprossen dann auch die Blüten, die als grünrötliche Dolden zwischen dem frischen Blattgrün hingen. Als diese schliesslich verblühten, da begann das Leben der kleinen Walnuss.
Sie wuchs aus einer der Blüten, zuerst zu einem kleinen, grünen Kügelchen heran, dass jedoch immer grösser und grösser wurde, je mehr sich der warme Sommer dem Ende zuneigte.
Erstaunt schaute sich die kleine Walnuss um. Sie hing hoch, hoch an ihrem Mutterbaum, der sie mit Nahrung und Flüssigkeit versorgte. Weit, weit übers Land konnte man von hier aus blicken. Rundherum lagen Felder und weite Wiesen. Die Glocken des Kirchturmes läutete zu jeder geraden Stunde und ihr Klang dran bis zu der kleinen Walnuss vor. Viele Vögel besuchten den Mutterbaum, jeden Tag.
Ein Rabenpaar baute sogar sein Nest gleich auf einem Ast neben der kleinen Walnuss. Diese liebte es, den kleinen Raben zuzuschauen, wie diese gierig ihre Schnäbel aufrissen, damit ihnen ihre Eltern die Nahrung brachten. Doch schliesslich wurden auch die kleinen Raben flügge und verliessen das Nest, welches nun wieder einsam in der Astgabel hing.
Die kleine Walnuss wuchs und gedieh ebenfalls prächtig und wurde immer grösser. Die Schatten wurden länger, das Sonnenlicht immer goldener und weniger intensiv. Auch die Tage verkürzten sich merklich.
Nun kamen auch die Eichhörnchen immer mehr auf Besuch. Sie sammelten einige der Nüsse ein und verscharrten sie an verschiedenen Orten, um sie dann als Wintervorrat zu verzehren, wenn die karge Jahreszeit begann.
Vorerst jedoch gab es noch Nahrung in Hülle und Fülle. Die Trauben wurden an den nahen Rebbergen reif, Pilze bedeckten den Waldboden und die vielen Nüsse und Beeren, strahlten um die Wette, als wollten sie rufen: «Hier bin ich, sammelt mich! Esst mich! Ich will, dass ihr den Winter gut übersteht!»
Die kleine Walnuss spürte in ihrem Inneren auch die tiefe Sehnsucht, irgendeinem anderen Lebewesen von Nutzen sein zu können. Doch sie hing so hoch am Baum, dass die Kinder, welche alle paar Tage kamen, um die Wallnüsse auf der Erde, oder an den unteren Ästen zu sammeln, sie unmögliche erreichen konnten.
«Ich hänge einfach viel zu hoch!» dachte die Walnuss traurig bei sich. «Und ich kann einfach nicht fallen. Ich halte noch viel zu fest. Was wenn ich hier oben jämmerlich verfaule, während meine Geschwister den vielen Tieren und Menschen als Nahrung dienen dürfen?»
Als schliesslich die heftigen, kalten Herbstwinde zu wehen begannen, freute dass die Walnuss sehr. Vielleicht würde so ein Wind sie endlich von ihrem Ast losreissen.
Die Blätter des Mutterbaumes rauschten in den starken Böen, wurden fortgetragen und wild herumgewirbelt. Auch die meisten Nüsse fielen dadurch herab. Nicht aber unsere Walnuss, obwohl sie sich es doch so sehr wünschte. Sie bat den Wind sie doch auch mit sich zu tragen, doch der Wind meinte nur: «Du musst zuerst richtig loslassen!» Loslassen? Die Walnuss versuchte es, aber sie wusste gar nicht genau wie. «Dein Moment wird kommen!» wisperte der Wind und fegte erneut mit gewaltiger Macht durch die Äste, die unter seiner Macht leise ächzten. Doch die Walnuss fiel immer noch nicht. Sie merkte wie sie immer reifer und reifer wurde und sie fürchtete bald wirklich zu verfaulen, ohne ihren Zweck jemals erfüllt zu haben.
Schliesslich wurde sie immer müder und erschöpfter und eines Nachts, ohne dass sie es zuerst merkte, fiel sie. Sie fiel, tiefer und tiefer und als sie mit Wucht auf dem Boden auftraf, sprengte es ihre grüne Hülle endgültig entzwei und ihre braune, harte Schale wurde freigelegt.
Sie freute sich ungemein, als sie merkte, dass sie nun ihr Ziel endlich erreicht hatte. «Nun muss ich bestimmt nicht mehr lange warten, bis mich ein Tier, oder ein Mensch findet und zusammen liest.»
Doch leider lag die Walnuss an einer schwer zu erreichenden Stelle und so übersahen sie die Eichhörnchen, ebenso wie die Kinder, die nach Nüssen suchten.
Traurig und verzweifelt wartete die Walnuss, wartete und wartete, Stunden, Tage, ja sogar Wochen, doch niemand fand sie!
Sie merkte, dass ihre Kräfte langsam schwanden, dass sie begann immer mehr ihre Frische zu verlieren und dann… eines Tages starb sie…
Und auferstand wieder als junger Nussbaum, der nun noch viel mehr Lebewesen glücklich machen würde, als er es als einzelne Nuss jemals vermocht hätte!