Luisa schreckte hoch und das lachende Gesicht vor ihren Augen verschwand. ´Schon wieder der gleiche Traum´ dachte sie sich als sie ihre pochenden Schläfen rieb. Das Massieren half nur wenig ihre düsteren Gedanken und die aufkommenden Kopfschmerzen zu verdrängen, aber wenigstens verschaffte es ihr genug Klarheit sich zu orientieren.
Sie saß kerzengrade auf ihrer kleinen Pritsche, die sie ihr Bett nannte und blickte sich in dem schmalen Raum um der ihr Zuhause darstellte. Ein Stuhl und ein Tisch aus dünnem Holz an dem der Zahn der Zeit schon seine Spuren hinterlassen hatte, sowie ein einfacher Holzschrank in dem ihre einzigen Habseligkeiten verstaut waren, waren das einzige Mobiliar in ihrem Zimmer. Dabei konnte sie sich noch glücklich schätzen, denn im St. Helens Waisenhaus bedeutete ein eigenes Zimmer schon purer Luxus. Normalerweise wurden sowohl Mädchen als auch Jungen aller Altersklassen in einem riesigen Schlafsaal zusammengepfercht, es war einfacher zu handhaben und niemand erhielt so eine Extrabehandlung. Doch bei Luisa war das anders. Mit ihren fast 18 Jahren war sie eine der Ältesten im Waisenhaus und seit ihrem dritten Lebensjahr Dauergast. Sie hatte sich somit in den letzten Jahren durch „gute Führung“ und harte Arbeit ein paar extra Privilegien erarbeitet. Sie wurde im Kloster sowieso nur so lange geduldet, wie sie sich nützlich machte, fiel sie den Schwestern des St. Helens Orden ja schon genug auf die Tasche, wie es die Mutter Oberin gerne ausdrückte. War sie doch ein Sonderfall, den in all den Jahren niemand hatte adoptieren wollen. Woran das lag war Luisa schleierhaft. Wie oft hatte sie sich gefragt was an ihr falsch war, als schon wieder ein nettes Pärchen an ihr vorbeiging und sich für ein anderes Kind entschied. War sie nicht hübsch genug, zu dick, zu vorlaut? Jeden erdenklichen Grund war sie durchgegangen hatte an sich selbst gezweifelt und sich nicht selten eingerollt unter ihrer Decke in den Schlaf geweint. Sich dann unruhig hin und hergeworfen immer den gleichen verworrenen Traum träumend, mit dem lachenden Mädchen und den dunklen Schatten.
Die Glocke schlug sechs Mal und riss Luisa aus ihren Gedanken. Verdammt, sie musste doch zum Dienst in der Küche antreten. Schwester Vita hasste Verspätungen. Würde Luisa nicht in den nächsten zwei Minuten am Herd stehen, würde sie sich den ganzen Morgen lang Schwester Vitas Tiraden über ihre Dummheit und Unfähigkeit anhören müssen.
Nicht dass das irgendwelche Neuigkeiten für Luisa wären, denn die alte Dame hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Kinder im Allgemeinen und Luisa im Besonderen nicht ausstehen konnte. Sie war eine dürre Frau mit eingefallenen Wangen, knochigen Fingern und einer schmalen spitzen Nase hinter der kalte Augen wachsam hin und her blitzten.
Luisa war alles andere als ein Feigling und hatte schon einige Schlachten im Waisenhaus geschlagen, doch sie wusste auch wann es besser war den Mund zu halten und Vita war definitiv eine Person mit der auch sie sich nicht anlegen wollte.
Sie strampelte die dünne Decke zur Seite und schwang sich aus dem Bett, schmiss ihr einfaches Nachthemd über den Stuhl und streifte sich Hose und Leinenhemd über. Im Rausgehen schlüpfte sie in ihre Schuhe und flocht sich die langen blonden Haare zusammen. Straßenköter sagte Schwester Vita immer dazu wenn sich wieder mal eine schwere Strähne aus dem Zopf gelöst hatte und in ihr Gesicht viel.
Sie zog die Tür fest hinter sich zu und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum.
Sie rüttelte nochmal probehalber am Knauf der Tür und versicherte sich somit, dass diese auch wirklich verschlossen war. Ihr tägliches Ritual. Dann drehte sie sich um und rannte mit fliegenden Schritten den Gang hinunter.
Die Sohlen ihrer ledernen Schuhe machten kaum ein Geräusch auf der angrenzenden Wendeltreppe, die sich eng am Gemäuer entlang bis hinunter in die Kellergewölbe des Gebäudes wand und jedes Geschoss miteinander verband. Luisa konnte nicht erklären warum, aber sie liebte diese Treppe, sie war so etwas wie ihr Geheimnis. Kaum einer verirrte sich auf die enge Treppe, da sie außer ihrer verbindenden Funktion eher unpraktisch war, man sich auf ihr kaum nebeneinander aufhalten konnte und das Laufen auf der großen ausladenden Freitreppe, auf der Ost- und Westflügel des Klosters vor dem Haupttor miteinander verschmolzen, viel komfortabler war. Luisa war hier noch nie jemandem begegnet, sie saß abends gerne, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig in den Nischen der bodentiefen Fenster und schaute hinaus in den Sonnenuntergang. In diesen einsamen Stunden hing sie ihren Gedanken nach, genoss die Ruhe und schmiedete ihren Fluchtplan.
Das waren die schönsten Stunden für sie im Sankt Helens Waisenhaus.
Während sie so ihren Gedanken nachhing, merke Luisa nicht, dass sie bereits im Kellergewölbe des Klosters angekommen war. Ein paar Meter vor ihr öffnete sich die Tür eines der Vorratsräume und Schwester Vita kam ächzend heraus eine große Milchkanne vor sich herschiebend.
„Hast du auch endlich den Weg aus dem Bett gefunden, du faules Stück?“ schimpfte Vita ohne aufzusehen. Die Sinne der alten Frau waren scharf, wie die eines Jägers, denn Luisa hatte keinen Laut von sich gegeben. „Hilf mir gefälligst und steh da nicht rum wie ein Schaf!“