Da saß sie dann wieder. Allein in ihrem Kinderzimmer kauerte sie sich in der hinteren Ecke neben der Heizung zusammen und zog die Beine an sich. Die grau gestrichenen Wände spiegelten ihren Gefühlszustand ziemlich gut wieder und während sie sich die von Oma gestrickte Wolldecke vom Bett zog dachte sie daran, was sie falsch gemacht haben musste. Es knallte vor der Tür, man hörte wie sich Schritte näherten. In voller Angst kroch sie unter ihr Einzelbett, zog die Decke mit sich und hielt den Atem an. Sekunden später flog die Tür in den Raum und zerbarst an der Wand. Das Holz platzte. Splitterte. Fiel zu Boden. Langsame, schwere Schritte waren zu hören. Sich die Hand vor den Mund haltend drehte sie den Kopf langsam in Richtung Tür. Sah nichts. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Eine Mischung aus verbranntem Holz, getrockneten Blut, Schweiß. Ein Knacken ließ sie zusammenfahren, die Bettlatten bogen sich nach unten. Irgendwas lag auf dem Bett, irgendwas schweres, irgendwas...bekanntes.
Länger konnte sie die Luft nicht mehr anhalten, pustete tief aus und mahnte sich innerlich selbst dafür. Sie machte sich klein. Lauschte. Stille.
Einen Moment wartete sie noch, dann kroch sie langsam unter dem Bett vor, kniete sich hin, sah sich im Raum um. Das Bett knarzte. Doch nichts darauf. Es stank weiterhin. Doch es lag keine Trübung in der Luft. Es tropfte. Von der Decke herab tropfte irgendwas auf sie nieder. Angst. Das einzige, was sie dabei spürte, war die bloße Angst. Wieder ein Tropfen. Langsam lief er über ihre Haare, verklebte ihren Pony, ließ sich auf ihrer Stirn nieder. Sie fasste sich langsam an die Stirn, spürte den Tropfen, wie er sich auf ihren Finger setzte, langsam ihren Finger entlang lief. Er war rot, blutrot, und er roch auch etwas danach. Sie nahm ihren Mut zusammen, sah an die Decke, erschrak. Ein schwarzes, Schattenähnliches Wesen hing an der Decke, das Maul weit aufgesperrt, die Reihen spitzer, roter Zähne zeigend. Die Blutunterlaufenen Augen fixierten sie und die raue rote Zunge des Wesens leckte gierig über die verschmierten Mundwinkel. Wieder ein Tropfen fiel auf ihre Stirn. Angst. Das einzige was sie fühlte, war die bloße Angst.
Sie wich einen Schritt zurück, blickte zur offenen Zimmertür, wieder zu dem ihr unbekannten Wesen. Es beobachtete sie, nahm ihr jeglichen klaren Gedanken, verunsicherte sie einen Moment lang.
Sie lächelte. Eine bekannte Hitze überkam sie, ein bekannter Schmerz zog sich durch ihren Körper, ihre Haut kribbelte und brannte als hätte sie gerade auf eine heiße Herdplatte gefasst. Dann wurde es kühler. Sie spürte, wie es über ihren Arm lief. Spürte, wie es ihr Linderung verschaffte. Fühlte sich, als hätte ihr jemand ein schweres Paket abgenommen. Sie sah auf ihren linken Arm. Ein Schnitt zierte ihre so ebenmäßige Haut, das warme Blut drängte heraus, nahm einen Teil des Schattenmonsters mit sich. Ein nächster Schnitt mit der kühlen Rasierklinge, wieder ein Stück weniger des Schattenmonsters. Es brüllte, ließ sich von der Decke fallen, baute sich mit seinen überlangen Gliedmaßen vor ihr auf. Weitere Schnitte, sie lächelte, ließ die so voll getränkten Tränen über ihr Gesicht rollen und schändete ihren Arm weiter, bis das Monster endlich verschwand. Ein Seufzer entglitt ihr, sie ließ die Klinge fallen, blutige Spritzer verteilten sich über den Boden.
„Schon wieder...“, flüsterte sie und ging langsam wieder auf die Knie, legte die Arme auf die Oberschenkel ab und ließ das Blut ihres Armes laufen. Es würde schon wieder aufhören, dachte sie.
Sie schloss die Augen. Ordnete ihre Gedanken. Doch das war nicht so einfach, ihre Gedanken waren wie ein riesiger Kabelhaufen ineinander verheddert. Nur einen Gedanken konnte sie fassen. Es war weg. Für einen kurzen Moment hatte sie dieses Monster besiegt. Sie wusste, dass es wieder kehren würde, und doch war sie erleichtert.
Doch der Depression kann man nicht so einfach entkommen.