Der Wecker klingelte und Lucy schreckte auf, wobei sie beinahe aus dem Bett fiel. Einen Blick zu ihrem Bleistiftförmigen Digitalwecker genügte, um sie wieder zurück aufs Kissen zu werfen. Es war der 26. Juni und 6:30 Uhr am Morgen. Sie musste aufstehen, in einer Stunde begann die Schule. Doch die neunte Klasse war so mühsam zu schaffen. Mit ausgestrecktem Arm erschlug sie den Wecker halb und ihre geballte Faust lag noch einen Moment auf der roten Taste, dann kam sie langsam wieder unter die flauschige Decke. Sie schloss die Augen, genoss die Stille.
Eine leise Melodie durchbrach die Stille. Sie setzte sich wieder auf. Sah sich um. Die Melodie wurde lauter, klarer. Lucy verzog das Gesicht. Es war das Geburtstagslied einer Kerze. Seit sie klein war hasste sie die Melodie dieser Dekoration, sie spielte viel zu lang und wenn ihr langsam der Saft ausging, klangen die Töne kratzig und verzerrt.
Die Töne wurden lauter und sie setzte sich langsam und mit gelangweilten Blick auf bevor sie in der Schublade ihres weißen Nachtschranks nach der lächelnden Maske kramte. Sie fand das ledrige Ding und nahm es in die Hand, dann schloss sie die Schublade wieder und betrachtete die Maske. Sie war hautfarben, hatte Sehschlitze und einen lächelnden Gesichtsausdruck aufgemalt. Leise seufzend schob sie sich die Verdeckung auf das ovale Gesicht und spürte wie beides miteinander verschmolz.
Es klopfte dreimal kurz an der Tür, dann ging diese langsam auf und ihre Eltern kamen mit einer Buttercremetorte und einem kleinen Geschenk herein, bevor sie mit der Melodie der Kerze begannen, für Lucy ein Geburtstagslied zu singen. Nach außen hin lächelte das nun 15 Jährige Mädchen, innerlich aber bemühte sie sich, dass ihre Gedanken nicht Worte formen und den Weg aus ihrem Mund finden würden.
„Herzlichen Glückwunsch mein Schatz!“, gratulierte ihre Mutter ihr mit einem stolzen Strahlen im Gesicht und strich sich eine Strähne ihrer roten Haare hinters Ohr, die sie beim Pferdeschwanz binden vergessen haben musste. Auch ihr Vater gratulierte ihr, allerdings mit weniger stolz und viel weniger Lächeln. Einen ehrlichen Glückwunsch hatte sie noch nie von ihm gehört, und das würde sie auch nie. Sie war sich ihrer Stellung bei ihrem Vater durchaus bewusst. Sie war nicht, wie er es erwartete. Gezwungen lächelnd, nachdem er von ihrer Mutter angestoßen wurde, übergab er seiner Tochter ihr Geschenk, dass in mit goldenen Sternen verzierte, türkises Geschenkpapier verpackt war.
Es war rechteckig, eine Schachtel. Mit dem durch die Maske ausgelösten Lächeln nahm das Geburtstagskind ihr Geschenk an. „Das wär doch nicht nötig gewesen!“, lachte sie ihre Eltern an und schüttelte das Paket etwas. Es klapperte.
„Jetzt mach schon auf!“, lächelte ihre Mutter ungeduldig und ihr Vater legte einen Arm um diese und zog sie an sich, bevor er sich etwas am bärtigen Kinn kratzte. „Deine Mutter hat es ausgesucht.“, erklärte er knapp. Lucy sah kurz zu ihm auf und löste dann sorgfältig und vorsichtig das Papier, um das schöne Sternenmuster nicht zu zerstören. Sie wollte es irgendwann wieder verwenden, zum Beispiel für eines ihrer Bilder. Sorgfältig gefaltet legte sie das Papier auf ihren Nachtschrank und betrachtete die braune Schachtel.
„Was ist drin?“, fragte sie
„Sieh doch rein!“, lächelte ihre Mutter und reichte ihr eine silberne Schere mit blauem Griff für das Paketband.
Langsam und geduldig schnitt sie das Klebeband in der Mitte durch und legte die Schere neben sich aufs Bett, bevor sie die Seiten des Kartons langsam aufklappte. Darin lag ein großer Stiftekasten mit 100 verschiedener Farben zum Zeichnen. Lucy lächelte und holte ihn aus dem Karton. Auf der Hülle waren etliche Farbnamen aufgelistet, die die Hobbykünstlerin alle kannte.
„Danke Mum...“, lächelte sie und legte den Stiftekasten neben die Schere und den Karton bevor sie die Decke zurück schlug und sich bemühte aufzustehen. Dann ging sie zu ihrer Mutter und umarmte sie etwas. Ihre Mutter strich ihr über den Rücken. „Keine Ursache Kleines...“, lächelte sie und ließ ihre Tochter wieder los.
„Und jetzt hopp hopp, sonst kommst du zu spät zur Schule. Wenn du fertig bist kannst du deine Kerze ausblasen und frühstücken kommen.“, meinte ihre Mutter noch und strich ihr langsam über die Wange. Die Torte mit der nervigen Kerze stellte ihr Vater auf ihren Eichenholzschreibtisch, der unter dem Fenster stand, bevor er zusammen mit ihrer Mutter ging und die Zimmertür schloss.
An der Tür hingen unzählige ihrer Zeichnungen. Doch um den Schein zu bewahren, dass alles in Ordnung war, hingen dort nur fröhliche Bilder. Menschen die tanzten, Menschen die in einem Blumenmeer saßen, Bilder von Freunden, Bilder von Pärchen, von Landschaften, von Tieren, von Ausblicken. Alle nach ihren Sehnsüchten geordnet, von der Mitte der Tür bis zu den Rändern. Nur ein einziges Tiefgründig bedeutsames Bild hing an ihrer Tür, und eben das war der Zentralpunkt ihrer Bilder.
Auf diesem war eine mit Moosen und kleinen Gewächsen bewachsene Klippe zu sehen, an dessen Rand ein Mädchen saß und einen Drachen steigen ließ. Das Gesicht des Mädchens war durch die über das Gesicht wehenden Haare verdeckt. Die Beine hingen über der Klippe, die Füße fest gegen die Felswand gepresst und die Zehenspitzen deuteten auf den Abgrund, als würde sie sich jeden Moment abdrücken und mit ihrem Drachen davon fliegen.
Unwissende sahen in diesem Bild den absoluten Frieden, wenn man in einem völlig menschenleeren Umfeld einen Drachen steigen ließ. Nur Lucy nicht, und ein paar ihrer Bekannten ebenfalls nicht. Sie sah in diesem Bild eher den Wunsch danach sich Abzudrücken, sich auf den Wind und den Drachen verlassen zu können und zu fliegen. Oder als Plan B abzustürzen und in dem gefühlten ewigen Fall ihre Lebenszeit noch einmal anzusehen und mit dem Leben abzuschließen zu können um eine neue, friedlich erhoffte Welt betreten zu können.
Sie betrachtete dieses eine Bild und setzte sich langsam wieder auf ihr Bett. Sie hatte ja noch den Geburtstagswunsch... Vielleicht sollte sie ihn dazu benutzen, sich einen dieser Sehnsüchte an ihrer Tür zu wünschen. Vielleicht aber doch eher, dass die dumme Kerze aufhört so einen Krach zu machen. Wieder wanderte ihr Blick zu ihrem Wecker. 6:50Uhr. Jetzt musste sie sich beeilen. Sie stand wieder auf und ging zu ihrem in der Wand eingebauten Kleiderschrank und stellte sich vor den an der Tür montierten Spiegel und betrachtete sich. Ihre müden Augen schienen ihren Körper förmlich zu analysieren, jedoch nicht, um irgendwelche Unreinheiten oder Problemzonen zu entdecken, denn ihrer Meinung nach hatte sie genug davon. Sie suchte irgendeine Stelle an ihrem Erscheinungsbild, dass ihr überhaupt gefallen konnte.
Nur was sollte das sein? Ihr schulterlanges, braunes Haar konnte sie nicht ausstehen. Es schien ihr fettig und strohig.
Ihre feinen Gesichtszüge nahm sie nicht wahr, sie ärgerte sich darüber, dass man ihre Wangenknochen nicht richtig sah und provozierte immer ein Doppelkinn, indem sie den Unterkiefer ausstreckte.
Ihre hellgrünen Augen waren ihr zu matt und hatten keine schöne Farbe, ihr Schlüsselbein zu wenig zu sehen, ihre Arme fand sie zu dick, ihre Brüste zu klein, ihre Taille zu breit, den Bauch zu groß – sie hasste jede Stelle an ihrem Körper und fühlte sich zu fett, obwohl sie bereits untergewichtig war mit ihren 1.75m und 45 Kilogramm. Und das war nicht mal das schlimmste, was sie an sich selbst fand. Am schlimmsten an ihr selbst fand sie ihre Arme, die fast von der Elle an mit Narben oder frischen Wunden bedeckt waren, die unter Mullbinden schlummerten.
Betrübt schüttelte sie den Kopf und öffnete die Schranktür um sich ein einfaches rotes T-Shirt und eine schwarze Jeans raus zu holen.
„Nicht besonders feierlich aber was soll's...“, murmelte sie vor sich hin.
Sie packte ihre Schultasche mit den heutigen Fächern. Deutsch, Mathe und Englisch. Dienstag. Wie sehr hasste sie den Dienstag. Frau Kierbach würde sich eh wieder über sie beschweren, Herr Stümper würde wieder eine Stunde mit der Verbesserung seiner eigenen Fehler verbringen und Mister Meyer würde wieder so viel reden und sie würde wieder kein einziges Wort verstehen.
Aber die Fächer an sich waren ja nicht das schlimme für sie, das schlimme waren die Schüler, die sie heute mal wieder ertragen musste. Und das auch noch für ganze sechs Unterrichtsstunden!
Sich die schwarze Nike Tasche über die Schulter werfend ging sie aus dem Zimmer und lief den schmalen Flur entlang zur kleinen Wendeltreppe, die ins Wohnzimmer führte. Leise wie ein Kätzchen schlich sie sich die Metalltreppenstufen hinunter und schielte in die Küche hinein. Ihre Eltern bereiteten sich und ihrem jüngeren Bruder Max das Frühstück vor. Mutter Josi stand mit ihrer „beste Mutter“ Schürze am Herd und kratzte mit dem Pfannenwender in der Pfanne herum. Vater Chris hob den fünfjährigen hoch und wirbelte ihn herum, was beide lachen ließ und Lucy ein Dolchstich ins Herz war. Sie sah zu Boden, sah einen Schatten, biss sich die Unterlippe blutig und wandte sich schnell zum gehen. Wäre sie diesem Augenblick weiter ausgesetzt, indem sie sich so fehl am Platz fühlte, würde das Schattenmonster wieder auftauchen, und hier kann sie es nicht so einfach besiegen.
Also schlüpfte sie schnell in ihre roten Sneaker, zog sich eine dünne Stoffjacke an und betrachtete sich erneut im Spiegel. Bei den Temperaturen, es sollten über dreißig Grad warm werden, war eine Jacke vielleicht nicht das richtige, aber irgendwie musste sie ihre Narben verstecken. Und dass sie eine natürliche Frostbeule war, half ihr in diesem Moment beim überreden. Nach dem kurzen Check atmete sie tief durch, als würde sie sich auf eine bevorstehende Schlacht vorbereiten oder für eine Weile die Luft anhalten müssen, und verließ dann leise das Haus.
Heute zumindest wollte sie sich dem üblichen Spott entziehen und lief lieber mit ihrer Musik in den Ohren durch den Stadtpark. Er war eine Abkürzung für Fußgänger und nahe des Endes lag ihre Schule. Wie so gut wie immer hörte sie dabei die selbe Musik, ein Mix aus Anna Blue, Nightcore, Linkin Park und einigen zufällig zusammen gewürfelten Liedern. Nachdem sie gehört hatte, dass sich Chester Bennington umgebracht hatte mied sie ihre Songs eher, doch lange hielt sie es ohne ihre Lieblingsband nicht aus.
Die Songs zogen sie runter, verschlimmerten ab und zu ihre Tiefs, und doch fand sie eine gewisse Geborgenheit in ihnen. Wenn es ihr gut ging, liebte sie die Melodien, achtete genau auf die Instrumente und summte leise mit. Doch wenn es ihr schlecht ging verstand sie den Text, sie schaltete komplett ab und ließ die Welt um sie herum einfach passieren.. Die einzigen Worte, die sie in einer solchen Situation hören wollte, waren die Worte der Sänger, den Text, den sie sich ausdachten. Sie lauschte aufmerksam jeder Silbe und ließ sie einzeln in ihre Herz, so sehr fühlte sie sich mit der Musik verbunden.
In Gedanken schwelgend merkte sie nicht, wie sie auf die offene Straße lief, in der weder Ampeln noch Zebrastreifen für irgendeine Ordnung sorgten. Erst als ein PKW um haaresbreite an ihr vorbei fuhr wurde sie aus ihren Gedanken gerissen und bemerkte, in welcher Situation sie sich befand. Trotz der Lebensgefahr, die sie auf offener Straße erwartete, zeigte sich kein Zeichen von Angst auf ihrem Gesicht. Ruhig ging sie auf die andere Seite und nahm langsam die beiden roten Stöpsel aus den Ohren, nur um sich das Geplärre der Autofahrer anhören zu dürfen, um den stechenden Gestank des Benzins zu riechen, das brennen der Abgase in den Augen zu spüren und einige ihrer Klassenkameraden zu sehen. Die Musik betäubte ihre Sinne, entführte sie in ihre eigene kleine Welt. Und das war auch gut so.
Eine Gruppe Mädchen, aufgetakelt mit zehn Kilo Make-up und bauchfreien Shirts, himmelhohen Absätzen und Handtäschchen stolzierte an ihr vorbei und regte sich, im verwerflichsten Deutsch das Lucy jemals gehört hatte, über die Schule auf.
Auf dem Weg über den Hof beobachtete sie die vielen Grüppchen, die sich schon vor dem Schulstart bildeten. Und jede der Grüppchen hatte irgend etwas an ihr auszusetzen. Die Streber lachten sich darüber kaputt, dass sie nicht die besten Noten hatte. Den Tussis war sie nicht weiblich genug und setzte sich nicht genug in Szene. Den Sportlern war sie zu faul, den Vegetariern aß sie zu viel Fleisch, den Coolen war sie zu uncool und den Musikern hörte sie die falsche Musik. Die ganze Schule hatte etwas gegen sie, und es nagte sehr an ihr und an ihrem Inneren. Sie wusste, dass sie nicht gut genug war, wusste, dass sie es nie werden würde und niemand gab ihr das Gefühl, sich hierbei zu irren. Niemand, bis auf zwei Vollidioten, die sich ihrer dennoch annahmen. Sie waren kein Mitglied in irgendeiner dieser Grüppchen, da sie beide vollkommen unterschiedlich waren. Vinni war Game Fanatiker und kannte sich bestens mit Computern aus und Stella war nicht das Idealbild einer Frau, für andere. Sie hatte einen regenbogenfarbigen Sidecut und war gepierct an Lippe, Nase, den Ohren und der linken Augenbraue. Des weiteren zierte ein schwarzes Tattoo in Form eines Totenkopfes ihren Hals, was viele abstoßend fanden. Doch Lucy und Vinni mochten sie dennoch. Die drei waren völlig unterschiedlich, jeder hatte einen anderen Geschmack, jeder einen anderen Lebenssinn im Sinn. Und doch redeten sie und dachten sie in vielen Dingen wie eine Person. Doch von ihren Leiden, Gedanken und Wünschen erzählte Lucy ihnen nicht, sie wollte sie nicht damit belasten, sie wusste, dass ihre Freunde eigene Dinge im Kopf hatten und fürchtete, sie würden sie als völlig krank einstufen und sich abwenden. Sie hasste es zwar nicht, wenn sie allein war, doch sie hasste es, wenn sie gezwungen war, allein zu sein. Die Einsamkeit. Einsam zu sein war ihre größte Furcht, ihre größte Abneigung und doch war dieser so gehasste Zustand genau das, was sie am meisten kannte.