Langsam begann sie den mit Pflastersteinen ausgelegten Weg um den Spielplatz herum zu erkunden und blickte sich währenddessen um. Es war ein sehr grün angelegter Garten, vor den kalten silbernen Stahlstangen des Zaunes boten grüne Büsche und hohe Bäume eine etwas freundlichere Atmosphäre. „Lass uns auf die Spinne gehen, von dort haben wir einen besseren Ausblick und unsere Ruhe.“, meinte Zoe grinsend und nahm sie am Handgelenk bevor sie sie ans gegenüberliegende Ende des Gartens zog in einen Sandkasten, in dem ein zylinderförmiges Klettergerüst aus festen Stricken gebaut stand. Bestimmt legte Zoe die Hand ihrer neuen Freundin auf die dicken Kordeln bevor sie hoch kletterte und sich in die durch einen Holzpfahl durchlöcherte Schale setzte, welche sie so von oben als einen Donut erkannte.
„Aaaaaah!“, stöhnte sie entspannt und verschränkte die Arme hinter dem Kopf bevor sie sich hinlegte. Lucy setzte sich ihr gegenüber, den Blick die ganze Zeitnachdenklich auf sie gerichtet.
„Na los, frag schon und starr keine Löcher in die Luft!“, grinste das Mädchen mit den beiden Zöpfen. „Du willst wissen wie das so ist mit meiner Krankheit, oder?“, fragte sie grinsend und schloss ein Auge. Lucy zögerte, überlegte wie das rüber kommen mochte, sie gleich am Anfang so etwas zu fragen, willigte schließlich jedoch mit einem Nicken ein. Ein leichtes Lächeln breitete sich auf Zoes Lippen aus.
„Naja... weißt du, es ist seltsam... Zu wissen, dass man mehrere Persönlichkeiten hat. Ich meine ich könnte eine Superheldin sein, und ein Verbrecher in einem!“, versuchte sie es spaßiger zu gestalten und lachte leise bevor sie sich die Haare ins Gesicht wischte. Ihr war dieses Thema doch sichtlich unangenehm, Lucy fragte sich, wie sie dabei darauf bestehen konnte, über sich selbst zu erzählen. „Du musst nicht reden...“, murmelte sie dann um ihrer hoffentlich neuen Freundin eine Möglichkeit zu geben, abzulehnen. Diese lächelte nur. „Nein... Ich möchte nicht dass du einen schlechten Eindruck bekommst wenn eine der anderen Überhand ergreift... Und hinterher zu erklären klingt meistens wie Lügen oder nach Ausreden suchen...“, lächelte sie und setzte sich auf bevor sie ihre Zöpfe aufmachte und ihre schönen, langen, dunklen Haare um ihre Schultern legte.
„Naja also... Ist schwer zu erklären, da ich es meistens nicht mitkriege... Ich habe nur einige aus meinem Umfeld mal gebeten aufzuschreiben wie ich mich so verhalte und die meisten meinten es wäre wechselhaft... Manchmal bin ich so wie ich jetzt bin, aufgedreht und munter aber manchmal... meinten zumindest die anderen, bin ich extrem kindisch und spiele mit jedem dümmsten Gegenstand oder bin extrem aggressiv und sehr leicht reizbar...“, murmelte sie und senkte den Blick etwas. „Ich bin schon seit einem Jahr in Therapie... Wurde eingewiesen als ich jemanden...“ Sie verstummte und starrte nur auf die geflochtene Schale auf der sie saß.
Besorgt sah Lucy sie an. „Was wolltest du sagen...?“, begann sie vorsichtig zu fragen. Zoe wandte den Blick nicht ab und schüttelte nur leicht den Kopf. Lucy biss sich auf die Lippe. Sie hatte doch schon zu viel gefragt, hatte sie zu sehr bedrängt. „Ich lass dich dann mal in Ruhe....“, murmelte sie und stand auf um langsam von dem Klettergerüst zu klettern und einen letzten Blick hoch zu werfen. Noch immer saß ihre neue Freundin in der gleichen Bewegung oben, Lucy überlegte, ob sie eine der Schwestern kontaktieren sollte. Die Entscheidung wurde ihr allerdings abgenommen als Zoes Name mehrfach gerufen wurde und eine ältere Schwester in weißen Sachen ankam, als Zoe nicht reagierte. „Zoe komm runter, du hast Therapie!“; rief sie. Das Mädchen bewegte sich nicht. Der Blick der Schwester wanderte zu Lucy. „Was ist mit ihr?“, fragte sie und ihr Blick wurde spitz. Lucy fühlte sich unwohl. „Ich... Sie hatte mir erzählt weshalb sie hier ist und hat dann plötzlich aufgehört....“, versuchte sie zu erklären. Die Schwester, Jasmin, wie man an ihrem kleinen Namensschild über der Brust erkennen konnte, verleierte die Augen bevor sie zwei Pfleger rief und sie anwies, das im Schockzustand gefangene Mädchen herunter zu holen und zur Therapie zu bringen.
Lucy beobachtete es mit gemischten Gefühlen, sie war besorgt, machte sich Vorwürfe, war ängstlich aber auch wütend. Wie konnte sie selbst dieses Mädchen dazu bringen von sich zu erzählen sodass sie schockiert abgeholt werden musste? Wieso hatte Zoe nicht einfach abgebrochen oder erst davon angefangen zu erzählen wenn sie sich besser kannten oder sie selbst bereit dafür war? So warf sie ein schlechtes Licht auf den Neuankömmling, der ja eigentlich nichts getan hatte als neugierig zu sein. Würde sie nun dafür bestraft werden?
Als sie Claudia ankommen sah wurde sie erst recht unruhig, diese jedoch empfing sie mit einem ruhigen Lächeln. „Mach dir keine Gedanken, das passiert öfter bei ihr. Heute Abend zum Abendessen ist wieder alles okay, hm?“, fragte sie lächelnd und Lucy stimmte fast automatisch mit einem Nicken zu. Die Schwester deutete auf den Rest des Gartens. „Na komm, hier sind noch so viele andere Kinder, du wirst sicher einen finden mit dem du dich verstehst. Die anderen Stationen kommen sicher auch noch.“, lächelte sie und entließ das junge Mädchen dann mit diesen Worten bevor sie wieder ging. Die fünfzehnjährige sah ihr nach und sich dann im Garten um.
Sie wurde hier allein auf andere Kinder und Jugendliche losgelassen die sie weder kannte noch vor denen sie fliehen konnte, und das bereitete ihr Sorgen, jedoch hielt sie sich an dem Gedanken fest, dass hier alle nicht normal waren und sie sie deshalb eventuell weniger ausgrenzen und mehr einbeziehen würden. Dieser Gedanke war ihr Hoffnungsträger.