An den verschiedensten Stellen bildeten sich kleine Grüppchen, eine andere Station war ebenfalls draußen, voll besetzt mit lauter kleiner, höchstens zehn Jahre alten Kinder. Diese hatten Gefallen an Melanie und Derek gefunden, sie rollten als eine Art Gang mit Rollern aus verschiedensten Zeiten, der älteste war noch aus Holz, rund durch den Park. Zwei Mädchen der anderen Station schaukelten am Rande des Zauns neben dem Eingang, lachten so laut, dass Lucy sie sogar von hier aus hörte.
Unter schattigen Bäumen hatten es sich Nico und John bequem gemacht und spielten Karten, Stephanie saß auf dem Hügel der sich direkt in der Mitte des Gartens befand und blickte um sich, als wäre sie auf einem Aussichtsturm und würde die Feinde suchen.
Lucy beschloss, sich ihr als erstes zu nähern, da sie hier unter Beobachtung waren und jemand kommen konnte, wenn etwas schief lief. Auch wenn sie sich nicht sicher war, weshalb sich das Mädchen hier oben zurückgezogen hatte wollte sie dennoch nicht, dass sie allein war.
Langsam kraxelte das junge Mädchen die mit Gras und wilder Kamille bewachsene Erhöhung hinauf und sah zu Stephanie, die die Beine überschlagen auf der morschen Bank saß und den Blick gen Tor richtete. Rote Kabel die unter ihren Haaren hervor kamen zeigten auf, dass sie Musik hörte. Heftig zuckend fuhr sie herum und sah mit großen Augen zu ihrer Mitpatientin hoch, nur eine halbe Sekunde nachdem Lucy ihr auf die Schulter getippt hatte. Steph hatte sie weder sehen noch kommen hören können, die Beunruhigung und der Schreck standen ihr ins Gesicht geschrieben als sie langsam einen Kopfhörer aus dem Ohr zog.
„Entschuldige... Stör ich...?“, fragte Lucy zögernd und sah ihr in die Augen, die Pupillen waren geweitet. „Naja...Ich...“, murmelte sie und rutschte bis zum Ende von der Bank, um Lucy auszuweichen. Diese beobachtete es nachdenklich. „Sozialangst...“, murmelte sie und das ältere Mädchen nickte langsam. „Schon okay... Ich muss mich damit auseinandersetzen... Früher oder später...“, murmelte sie, senkte den Blick auf ihre Knie. Lucy wollte in ihr kein Unwohlsein auslösen, weshalb sie sich dazu entschloss einfach stehen zu bleiben, in der Hoffnung Stephanie würde das Gespräch beginnen, sie tat es nicht. Sie selbst hatte Angst Stephanie zu bedrängen, sie von sich weg zu stoßen, bevor sie selbst einen unterbewussten Grund dafür hatte. Und Stephanie schien allein ihre Anwesenheit zu schmerzen, sie zu beunruhigen. Langsam nickte Lucy daher und ihr Gegenüber ebenfalls, dann verließ sie den Hügel langsam wieder, spürte die sie zu durchbohren versuchten Blicke im Rücken und versuchte halbwegs klar denkend wieder auf den Weg zurück zu finden.
Als sie ein paar Runden allein gedreht hatte hörte sie ihren Namen von einer männlichen Person rufen und sah auf. Ein Pfleger mit zwei Knöpfen aufgeknöpften Hemd und beiger Hose bis zu den Knien kam auf sie zu, die Miene schwer deutbar.
„Lucy Avens?“, fragte der Pfleger. Sie nickte. „Komm, du hast Therapie.“, meinte er ruhig, drehte sich um und ging voran. Etwas verwirrt folgte sie ihm. Welche Therapie, abgesehen der Psychotherapie, konnte sie denn gleich am ersten Tag erwarten? Leise seufzend folgte sie dem Pfleger aus dem Garten raus, den Weg entlang bis zu dem Therapiezentrum. Der Pfleger hielt ihr die Tür auf und führte sie rein, sie befanden sich nun im Erdgeschoss eines, mit Keller, drei Etagen hohen Gebäudes. Er führte Lucy über Marmortreppen in die höchste Etage, die mit einer Glastür, einem Sprechfunk und Klingeln im Eingangsbereich ausgestattet war. Auf den Klingelschildern standen vier Namen, darunter die jeweilige Therapie.
„Du hast jetzt Musiktherapie. Nutze es aus und... tob dich aus oder so.“, meinte er und klingelte bei Frau Tsukimi bevor er ging.
Das junge Mädchen wartete geduldig aber beunruhigt, da sie sich leider nicht vorstellen konnte, dass sie in der Therapie ihre Musik hören durfte. Ein Schatten, der sich an der Tür sichtlich machte, ließ sie zusammenzucken, hinter ihr stand Alec, einen Schwarzen Gitarrenkoffer über der Schulter getragen. Wie immer schweigend. Einen kurzen Moment lang traute sie sich ihn zu betrachten, dann sah sie aber schnell wieder zur Tür, da ihr dieser Junge ein wenig seltsam und gefährlich vorkam.
Ein surrendes Geräusch erklang und Alec streckte seinen Arm über Lucys Kopf um die Tür aufzudrücken und an ihr vorbei zu gehen. Ohne ein Wort. Ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie fragte sich, was sie ihm getan habe, dass er so abweisend reagierte. Was ihm alle anderen getan haben mussten. Was er selbst getan haben musste.
Mit einem Abstand von zwei Metern kamen die beiden in einem fünf mal fünf Meter breiten, drei Meter hohem, an eine Turnhalle erinnernden Raum an. Das mit weißem Klebeband dargestellte Basketballfeld auf dem Linoleum verstärkte diesen Eindruck, ebenfalls der an der orangen Wand hängende Basketballkorb. Diese sportliche Atmosphäre wurde allerdings durch die etlichen Trommeln, die wild im Raum verteilt standen, die Kramkisten mit Triangeln, Klangstöcken und Rasseln die einzeln verteilt auf den Trommeln standen, die leeren Gitarren- und Violinenkoffer, die Klarinetten und Flöten, zunichte gemacht. Inmitten des musikalischen Chaos, eine in bunte Filzsachen gekleidete Frau, die erwartungsvoll in die Hände klatscht. „Die ersten Schüler! Kommt rein, setzt euch! Wir warten noch auf die anderen und dann geht es los!“, lächelte sie, zog Alec und sie hinein und zog ein paar Hocker aus dem Seitenzimmer, die sie in einem Kreis platzierte. Alec und Lucy setzten sich nebeneinander, sie richtete den Blick auf die offene Tür, er nahm seine Gitarre auf den Schoß und begann ein paar Töne zu spielen. Ihr Blick wich zu ihm, sie beobachtete die Griffe und seine Finger, wie sie über die Saiten schwebten und sie in Schwingungen versetzten, sodass wundervolle kleine Klänge entstanden. „Bravo Alec! Spiel dich schon mal ein!“, schmunzelte die Therapeutin und öffnete dann den restlichen vier Patienten, die sich ebenfalls in den Hockerkreis setzten. Jeder für sich hatte ein eigenes Instrument. Alec seine Gitarre, mit der er sanfte Töne in den Raum schickte. Die vier anderen besaßen zum einen eine Blockflöte und zum anderen eine kleine Trommel, eine Klarinette und eine Trompete. Nachdenklich sah Lucy sich um und dann zu der Therapeutin.
„Such du dir auch ein Instrument aus.“, lächelte diese und das junge Mädchen sah sich etwas um. Sie wusste, wie diese Instrumente klangen, sie wollte das perfekt für sie abgestimmte Instrument haben, womit sie auch die Musik spielen konnte, die sie in der Musiktherapie sicher nicht hören durfte.
Schließlich entschied sie sich für eine Violine, die sie schon als kleines Kind öfter mal in der Hand hatte, hob den Bogen an, legte sich das Instrument unters Kinn und begann leise ein paar hohe Töne zu spielen. Sie harmonierten ineinander, schon bald spielte sie eigenwillig einen Teil aus ihrem japanischen Lieblingslied Unravel. Gespannt hörten die Jugendlichen zu, auf dem Gesicht der Therapeutin zeichnete sich Erstaunen und Stolz ab, bis Lucy das Instrument sinken ließ, die Augen schloss, die Melodie in ihrem Kopf ihr Ende fand und sie sich für einen Moment ruhig fühlte. „Fabelhaft. Einfach Fabelhaft.“, lächelte die Therapeutin ermutigend und blickte in die Runde. „Ich habe ihr die Anweisung zu spielen nicht mal gegeben! Und trotzdem hat sie erste Aufgabe vollkommen gemeistert, meint ihr nicht?“, fragte sie. Die anderen nickten und Lucy sah fragend drein. „Die erste Aufgabe in dieser Therapie ist es, eine Melodie zu spielen, mit der du dich identifizieren kannst! Die dir gefällt, die ich verschlingt. Spielst du privat auch Violine?“, fragte sie das Mädchen nur aufgeregt. Dieses senkte verlegen den Kopf. Sie hatte mal gespielt. Bis sie zwölf war hat sie rund um die Uhr gespielt, ihr bereitete es große Freude, sich eigene Melodien vorzustellen, diese auszuprobieren und sich von ihrem Klang umgeben zu lassen. Sie freute sich, endlich wieder spielen zu können, und dieses Mal sogar dafür gelobt zu werden