ZORA
Ich gähnte. So langsam wurde es wirklich anstrengend. Selbst ich war mittlerweile abends müde... Langsam ließ ich meinen Blick durch die Runde schweifen. Die Jungs spaßten miteinander wie eh und je, naja, sie waren das ja auch schon seit einem Jahr gewohnt. Tanya schaute nur geistesabwesend zu ihnen herüber, während Nytra neben ihr schon wieder auf dem Tisch lag und zu schlafen schien. Arisa unterhielt sich mit Sukira und Inaga, genauso wie Dorina, Annika und Sala neben mir. Alles war wie immer, doch auch ihnen war die Müdigkeit anzusehen. Aber es war Freitag und das bedeutete, morgen begann das Wochenende und wir konnten ausschlafen... Ich lächelte und streckte mich genüsslich.
Unsere Ruhe wurde gestört durch das Knarren der Türen, die mal wieder aufgerissen wurden. „Ach, stimmt. Es ist ja schon wieder der Tag...“, grinste Jiro geheimnisvoll und wandte den Blick zur Tür. „Welcher Tag?“, fragte Tanya misstrauisch. Beim ersten Geräusch war sie aus ihrer Abwesenheit aufgeschreckt. Unruhe erhob sich im Raum, als die Lehrer wie am Sonntag der Reihe nach aufmarschierten. Der Leiter trat vor und alle Stimmen verstummten.
„Guten Abend, Schülerinnen und Schüler“, begann er und ließ seinen Blick einmal über die Sitzreihen wandern. Er lächelte, doch seine Augen waren kalt und abschätzend, fand ich. „Den älteren unter euch, sollte das hier aus dem letzten Jahr noch bekannt sein. Wir stehen heute hier, weil unsere diesjährigen Neuzugänge heute ihre erste reguläre Woche hinter sich gebracht haben. Dazu möchte ich euch zunächst einmal herzlich gratulieren.“ Wie auf Kommando brandete Applaus von sowohl Lehrern, als auch älteren Schülern auf. Trotz meiner Müdigkeit musste ich lächeln. Es fühlte sich schon irgendwie toll an, so gefeiert zu werden.
„Ich weiß nicht bei jedem von euch, mit welchen Wünschen und welcher Motivation oder welchem Ziel ihr hierher gekommen seid, doch ich möchte jeden von euch bitten noch einmal in sich zu gehen und sich diese vor Augen zu führen. Ihr habt jetzt eine Woche hinter euch. Ihr habt den Alltag hier kennengelernt und hoffentlich ein Gefühl dafür gewonnen, ob das hier der richtige oder zumindest ein annehmbarer Ort für euch ist. Von heute an habt ihr bis Sonntagabend Zeit, noch einmal über alles nachzudenken und zu entscheiden, ob ihr bleiben wollt. Diese Entscheidung steht jedem frei.“
Mein Lächeln verschwand. Ich fühlte mich, als hätte mir gerade jemand in die Magengrube geschlagen. Das konnte ja wohl nicht wahr sein.
Der Leiter sprach weiter, doch ich war nicht mehr dazu in der Lage, ihm zuzuhören. Meine Gedanken kreisten nur um eines. Jetzt hatte ich noch einmal die Wahl. Musste mich entscheiden, ob ich hier bleiben sollte oder meinem Heimweh nachgab... Das war hart. Zumindest für mich, da mir die Entscheidung beim ersten Mal schon schwer genug gefallen war. Unbewusst zog ich die Schultern hoch und runzelte die Stirn. Was sollte ich denn jetzt machen?
Bevor ich mich weiter in meine Panik reinsteigerte, schaute ich nach den anderen. Von ihnen schien keiner auf mich zu achten, sodass hoffentlich keiner bemerkt hatte, wie sehr mir diese vermeintlich kleine Sache zu schaffen machte. Auf ihren Gesichtern war nicht der geringste Zweifel zu erkennen. Natürlich nicht. Sie hatten ja alle Ziele und einen Grund hier zu sein. Selbst Nytra, auch wenn sie ihren nie ausgesprochen hatte. Inaga wiederholte sogar extra und von Dorina wusste ich, dass sie genau wie Tanya unbedingt den dritten Jahrgang erreichen wollte. All diese Gedanken machten mir jedoch in diesem Moment nur noch mehr Druck. Am liebsten wäre ich der Situation entflohen, doch ich konnte schlecht aufstehen, während alle Aufmerksamkeit der wichtigen Verkündung gelten sollte.
Zum Glück war der Leiter schnell fertig und die Erwachsenen verzogen sich wieder. Kaum waren die Türen geschlossen, stand ich auf, entschuldigte mich und huschte so unauffällig wie möglich auf die Toilette.
NYTRA
Müde rieb ich mir die Augen. Ein Tritt von Tanya und der Applaus der anderen Schüler hatten mich rechtzeitig aufgeweckt, um die Ansprache des Leiters mitzubekommen. Jetzt waren die Lehrer wieder verschwunden und natürlich setzte jetzt allgemeines Gemurmel ein. Tanya war sauer auf die Jungs, weil sie uns nichts davon gesagt hatten, andere unterhielten sich darüber, was sie jetzt tun würden und gingen nochmal ihre Gründe durch, warum sie hier waren.
Für mich war das ganz klar. Ich gähnte und lehnte mich auf der Bank zurück. Ich hatte keinen Ort, an den ich zurück könnte. Zumindest sagte ich mir das und empfand es auch so. Nichts auf dieser Welt würde mich dazu bringen, dorthin zurück zu gehen. Nicht die Schmerzen vom Muskelkater, nicht die Scham, dass ich im Training so schlecht war. Nicht einmal Sala, die blöde Kuh. Für mich war das hier immer noch die ultimative Chance, meinem bisherigen Leben zu entfliehen, solange ich noch den Willen und die Kraft dazu hatte.
„Na, Dumpfbacke, da kannst du dir nochmal überlegen, ob du nicht lieber zu deinen Eltern zurückrennst“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Über mir stand Sala und grinste fies auf mich herab. „Selber Dumpfbacke. Ich würde nie aufgeben. Vielleicht solltest du es dir aber nochmal überlegen... Schließlich waren dir ja gestern schon die Aufgaben der ersten Woche zuviel“, stichelte ich zurück und verzog den Mund zu einem falschen Grinsen.
Ihrer Hand, die sofort wieder auf meiner Wange landen sollte, konnte ich im letzten Moment ausweichen, indem ich an Tanya drückte, die links von mir saß. „Da ich hier mal wieder angegriffen werde, schau ich mal lieber, was Zora so treibt“, sagte ich zu der Blondine gewandt und machte mich aus dem Staub, ehe Sala mir weiter auf den Keks gehen konnte. Sollten Tanya und Inaga sich doch wieder mit der rumschlagen. Dann konnten sie wenigstens wieder als die tollen Stufensprecherinnen da stehen.
Mir war zwar entgangen, warum Zora verschwunden war, aber nicht, dass sie den Raum verlassen hatte. Also ging ich zuerst mal in unser Zimmer. Vielleicht war sie ja müde. Ging mir zumindest so, nach dieser elend langen, anstrengenden Woche. Im Zimmer war sie jedoch nicht. Dann blieb eigentlich nur noch das Klo. Einen Moment überlegte ich. Einerseits könnte es echt seltsam sein, ihr quasi dahin zu folgen, andererseits könnte ich einfach so tun, als ob ich selbst gemusst hätte.
Ich zuckte die Schultern, schloss unsere Zimmertür wieder und ging wieder in Richtung Halle. Auf der Toilette war wirklich nur eine Tür verschlossen und man hörte Schluchzen. Im ersten Moment verdrehte ich die Augen. Ich konnte mit sowas nicht gut umgehen. Sollte ich lieber Arisa holen gehen? Die konnte das sicher besser... Ich war nie gut im Trösten gewesen...
Aber jetzt war ich hier. Sie zu ignorieren wäre einfach nur fies. Also ging ich zur Tür und klopfte vorsichtig. „Zora? Bist du das?“ Ich konnte ja immer noch nicht ganz sicher sein, dass es wirklich sie war. Die plötzliche Stille bestätigte meinen Verdacht jedoch. Ich konnte jemanden mühevoll atmen hören. „Hey, was ist denn los?“, versuchte ich es erstmal mit einer ruhigen Stimmlage. „Ist irgendwas passiert? Du kannst mit mir reden, weißt du? Wenn irgendwas ist, meine ich... Oder auch mit den anderen beiden. Soll ich Arisa holen?“, redete ich dann einfach weiter, da von hinter der Tür keine Antwort kam außer lautem Schnäuzen und weiteren Schluchzern.
„Nein!“, wurde ich dann heftig unterbrochen und die Schluchzer stoppten. „Nein...“, kam die Antwort dann noch einmal leiser, als hättte Zora sich selbst über ihre Heftigkeit erschreckt. Ihre Antwort war verständlich, wenn ich jetzt nochmal so darüber nachdachte. Sie wollte wahrscheinlich nicht, dass alle etwas mitbekamen und wenn ich jetzt Arisa holen würde, würde das unweigerlich Aufsehen erregen. Also, waren wir beide in dieser Situation mit einander gefangen... „In Ordnung... kann ich schon verstehen. 'Tschuldigung, hatte nicht nachgedacht...“, ruderte ich zurück und versuchte ihr so, das eben gedachte mitzuteilen. „Aber dann musst halt mit mir reden, ne? Ich kann das vielleicht nicht so gut, aber ich bin auch für dich da. Auch wenn ich's vielleicht nicht verstehe, aber manchmal hilft es auch einfach darüber zu reden.“
Wahrscheinlich ging es wieder um ihr Heimweh. Gut, das war jetzt wirklich das letzte, was ich verstehen könnte und ich war die am wenigsten geeignete Person, um darüber zu sprechen. Warum war nochmal ausgerechnet ich losgegangen, um nach ihr zu sehen? Ich verdrehte die Augen und war froh, dass die Tür immer noch geschlossen war, damit Zora das nicht missverstehen konnte.
Da klickte das Türschloss und meine verheulte Freundin stand vor mir. „So schlimm ist es eigentlich nicht“, sagte sie mit einem halben Lächeln und wischte sich die letzten Tränen von den roten Wangen. „Ich hab nur überreagiert, weißt du?“ Sie atmete einmal tief aus. „Es ist nur so, dass es mir schon beim ersten Mal so schwer gefallen ist, mich zu entscheiden, überhaupt hierher zu kommen. Ich weiß- oder eher ich vermute, bei dir ist das ganz anders, aber ich wäre gerne Zuhause geblieben. Bei meiner Familie, meinen Freundinnen... da, wo ich hingehöre. Aber... Ich hab mich trotzdem entschieden, diese zwei Jahre zu machen. Und jetzt wird mir gesagt, ich könnte mich auch nochmal umentscheiden... Das ist einfach ziemlich hart für mich.“
Einen Moment schauten wir uns schweigend an. Sie wartete darauf, dass ich jetzt etwas antwortete, ihr vielleicht sogar die Entscheidung abnahm. Aber das würde ich nicht tun. Das konnte ich nicht und wollte ich auch nicht. Ich dachte einen Moment nach und grinste dann, bemüht, es nicht zu unpassend wirken zu lassen. „Naja, ich kann schon verstehen, dass es dir so geht. Kann ich überraschenderweise wirklich. Aber, die Entscheidung an sich, ist ganz einfach. Auch wenn dir das nicht so erscheint. Es hat sich grundsätzlich nichts geändert. Die Möglichkeiten sind immer noch: machst du die zwei Jahre hier und lernst alles, was du kannst, oder gehst du wieder nach Hause und die Möglichkeiten, die du da hast. Der einzige Unterschied ist, dass du jetzt einen Einblick bekommen hast, wie die Zeit hier aussehen wird. Also ist die Frage nur noch: Traust du dir das zu, die zwei Jahre hier durchzustehen, was garantiert nicht einfach wird, oder tust du das nicht? Wäre es wirklich unerträglich, zu bleiben oder wäre es das nicht?“
Jetzt war ich damit an der Reihe, sie erwartungsvoll anzusehen. Sie schaute mich aus ihren großen braunen Augen erstaunt an und sagte eine ganze Weile nichts. Verlegen über die Stille, fuhr ich mir mit einer Hand durch die Haare und sagte: „Oder so was in der Art... Also, wie gesagt, du brauchst auch nicht mit mir darüber reden. Wenn es dir jetzt zumindest ein bisschen besser geht, kannst du ja auch auf's Zimmer gehen und dich da ausruhen und in Ruhe nochmal nachdenken... Vielleicht sind die anderen auch längst da hingekommen...“ Vor Verlegenheit redete ich einfach weiter und hoffte, sie würde zustimmen, damit ich dieser Situation endlich entkommen konnte.
Endlich nickte sie und erlöste mich. „Ja, ich denke, das mach ich“, lächelte sie und ging zu den Waschbecken herüber. Sie spritzte sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht, in der Hoffnung, dass es ein bisschen gegen die verquollenen Augen helfen würde und ich folgte ihr hinaus auf den Flur. „Ich geh nochmal in den Speisesaal. Gucken, ob Sukira da ist“, rief ich ihr über die Schulter zu und verschwand dann schnell durch die große Tür. Innerlich hoffte ich natürlich, dass die Kleine nicht da war... Ich brauchte jetzt mal ein bisschen Zeit für mich.
Zum Glück schaffte ich es unbemerkt zu den großen Türen, die auf den Schulhof hinaus führten. Der Wind war nachts noch kälter als tagsüber und ich wunderte mich, wie es so schnell so kalt geworden war. Ich blieb direkt an der Wand des Gebäudes stehen und hoffte, dass die Drittklässler mich in Ruhe ließen. Mal kurz frische Luft zu schnappen, war ja wohl noch erlaubt, oder?
Ich atmete tief ein und aus und versuchte, nicht in hysterisches Lachen auszubrechen. Was hatte ich mir denn gerade dabei gedacht, jemandem Ratschläge zu erteilen? Ich? Und dann auch noch jemandem mit Heimweh! Das war echt zu lächerlich. Ich wusste doch selber nicht mal, ob ich das hier durchhalten würde. Die Chancen standen schlecht, andererseits konnte ich nicht zurück. Niemals. Eher würde ich mir irgendeine von den Waffen hier schnappen und...
„Verdammt!“, flüsterte ich wütend. Solche Gedanken konnte ich mir nicht leisten. Worauf es ankam, war, das hier zu schaffen. Ich wollte es denen doch zeigen, oder nicht? Den Alten, den ganzen blöden Zicken wie Sala, allen, die je an mir gezweifelt hatten... Aber wie sollte ich das schaffen?
ARISA
Als ich später mit Tanya in unser Zimmer kam, schliefen Zora und Nytra schon. Ich hatte keine Ahnung, was die beiden besprochen hatten oder was überhaupt vorgefallen war, aber die beiden wirkten ruhig. Klar, das konnte auch einfach vom Schlaf kommen, aber... Ich bemerkte auch, dass Nytras Bereich des Zimmers ungewöhnlich ordentlich war. Zumindest soweit man das von außen sehen konnte. „Haben die noch aufgeräumt?“, flüsterte Tanya grinsend, der das wohl auch aufgefallen war. Ich zuckte die Schultern. „Und wenn schon. Ist doch schön. Ich bin froh, dass es den beiden gut geht“, lächelte ich Tanya zu und sie nickte.
„Auch wenn unsere beiden Schlafmützen hier uns mal wieder mit der Nachtwache allein gelassen haben...“, bemerkte sie dann jedoch noch spitz. „Tja, dann lassen wir sie morgen allein. Sind doch nur noch zwei Nächte. Und Sonntag machen wir es dann zum letzten Mal alle zusammen.“ „Ja, zum letzten Mal...“, Tanya setzte sich auf ihr Bett und schaute mich nachdenklich an. „Glaubst du wirklich, Zora geht?“ Ich dachte einen Moment nach und setzte mich dann auf einen der vier Stühle am Ende des Zimmers. „Ehrlich gesagt kann ich das schlecht einschätzen. Es könnte sein, es kann aber auch passieren, dass sie sich dazu durchringt, doch wenigstens das erste Jahr zu versuchen. Ich meine, sie hat ja nichts zu befürchten, auch wenn sie abbricht. Ihren Eltern macht das bestimmt nichts aus.“ „Stimmt. Ich hoffe aber, sie bleibt.“ „Ich auch“, lächelte ich sanft.
„Und Nytra? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie abbrechen würde, nach allem, was ich bisher über sie weiß. Aber sie wirkte heute auch irgendwie aufgewühlt... Hast du mitbekommen, dass sie zwischendurch draußen war?“, fragte Tanya dann. Sie war so ernst wie immer. Ich merkte ihr ihre Besorgnis jedoch an, auch wenn sie sie äußerlich gut versteckte. „Ja, hab ich gesehen. Aber sie schien einfach nur ihre Ruhe zu brauchen. Und wenn die beiden sogar noch aufgeräumt haben, ist das ja vielleicht sogar ein gutes Zeichen.“ „Ja, vielleicht will sie das ganze hier mal ein bisschen ernster nehmen“, sie verdrehte ihre eisblauen Augen. Ich kicherte ein wenig. „Darauf würde ich nicht zählen. Sie wirkt auf mich nicht, wie jemand, der die Dinge übermäßig ernst nimmt. Zumindest nicht von Natur aus. Wenn dann steckt dahinter Angst...“ „Und ich dachte die ganze Zeit, sie wäre zu dumm, um Angst zu haben“, grinste Tanya stichelnd und ich lachte. Wir wussten ja beide, dass Nytra alles andere als dumm war.
„Wie ist es mit dir? Steht dein Entschluss noch?“, fragte ich sie dann. Sie grinste schief und antwortete: „Natürlich! Daran können auch keine Idioten oder Sala oder Raigas ungeschriebene Akademie-Gesetzte etwas ändern. Ich werde den dritten Jahrgang erreichen, komme, was wolle. Und ich werde mich weiter dafür einsetzen, dass wir alle hier schöne zwei bis drei Jahre verbringen können. Diese ganzen letzten zwei Tage haben mich darin nur noch bestärkt.“ Sie sagte das im Brustton der Überzeugung und ich sah ihre Augen funkeln, als sie mich dabei ernst anschaute. Und ich dachte mir dabei, dass sie eine war, die das wirklich schaffen könnte. Dass sie eine war, auf die man sich verlassen konnte. Und die selbst alles erreichen konnte, was sie sich vornahm.
„Das kann ich sehen“, lächelte ich ihr zu. Dann schaute ich nachdenklich an die Decke. „Für mich ist es genauso. Das hier ist eine einmalige Chance für mich, so wichtige Dinge wie Lesen und Schreiben zu lernen. Und auch wenn es manchmal schwer ist und von jetzt an nur noch schwerer wird, hab ich immer mein Ziel vor Augen. Und damit habe ich einen Grund, das hier durchzuhalten. Und ich habe euch. Euch alle hier, die alles dafür tun, dass wir hier eine schöne Zeit verbringen können.“
Wir lächelten uns noch einmal an, machten uns bettfertig und gingen schlafen.
TANYA
Die zwei freien Tage vergingen wie im Flug. Wir konnten uns nach der harten Woche endlich mal wirklich entspannen und faulenzen und genossen die vielleicht letzten wirklich warmen Tage in diesem Jahr. Solange die Sonne schien und man auf einer Decke saß, war es echt schön mit den anderen draußen vor der Akademie zu sitzen. Aber, wenn der Wind auffrischte oder es abends langsam dunkel wurde, dann begann man echt zu frieren. Für mich war das irgendwie etwas ganz neues, so richtig zu frieren. Zuhause war ich immer so behütet gewesen, dass mir nie auch nur wirklich kalt gewesen war. Selbst als Kind hatte Erika mich auf Anweisung meiner Mutter hin immer dick eingepackt, sobald auch nur der erste kühle Windstoß durch die Straßen fuhr.
Bei dieser Erinnerung musste ich unwillkürlich lachen und schüttelte den Kopf über die übertriebene Besorgnis. Das würde mein erster Winter werden, den ich nicht Zuhause verbrachte, wie für fast jeden hier. Das war ein ganz schön komischer Gedanke, wenn er einem mal so kam. Ich würde frieren... Ich würde auch bei Kälte draußen trainieren müssen. Es gab, soweit ich das gesehen hatte, keine Kamine in den Zimmern; nur in den Klassenräumen standen ein paar uralt wirkende Dinger. Das wirkte ganz schön bedenklich, wenn ich so darüber nachdachte, aber vielleicht war ich da auch nur wieder an höhere Standards gewöhnt... Ich hatte mit Arisa darüber gesprochen und sie hatte mich nur ausgelacht und erklärt, ich würde schon sehen, dass es auch so ginge.
Ich konnte Zora schon verstehen. Zuhause, wo alles gewohnt war, war immer noch am schönsten. Und auch, wenn ich mir das nach außen hin nicht anmerken ließ, plagten mich auch Zweifel, ob ich es wirklich schaffen würde fit genug zu werden, dass ich den dritten Jahrgang erreichen konnte... Aber abzubrechen war für mich undenkbar. Mir hatte es bis jetzt eigentlich echt gut an der Akademie gefallen.
Ich gähnte und streckte mich. Mein Nacken war ganz steif geworden, weil ich fast den ganzen Nachmittag auf meinem Bett gelesen hatte. Ich war alleine im Zimmer und hatte keine Ahnung, was die anderen gerade so trieben. Sie jetzt zu suchen, lohnte sich jedoch nicht mehr, da es nur noch zehn Minuten bis zum Abendessen waren. Also entschloss ich mich einfach im Speisesaal auf sie zu warten.
Im Speisesaal war von meinen Zimmernachbarinnen zwar noch nichts zu sehen, aber die Jungs waren schon da. Als Naro mir zuwinkte, musste ich breit lächeln und hoffte, dass ich nicht rot wurde. Er war wirklich toll. Klar, machte er auch Späße mit den anderen Jungs, aber er war als ehemaliger Stufensprecher auch ein Vorbild und hatte irgendwie immer so etwas erwachsenes an sich. Und er war einfach immer total nett zu uns. Dann musste man ihn ja mögen. Und mehr tat ich ja auch nicht. Ende. Punkt. 'Denk an irgendwas anderes', ermahnte ich mich leise innerlich, währen ich zu dem langen Tisch herüber schlenderte.
„Na, alles gut bei dir?“, fragte Naro lächelnd, als ich mich neben ihn setzte. „Ja. Und bei euch allen?“ „Auch so. Und, gibt es schon Neuigkeiten, ob euer Zimmer komplett bleibt?“ Meine Laune senkte sich ein wenig. Ich hatte mitbekommen, dass Zora gestern Nachmittag ihre Sachen gepackt hatte. Dann schien ihr Entschluss wohl zu stehen. „Wahrscheinlich nicht. Sicher kann ich es nicht sagen, Zora hat noch mit keiner von uns darüber gesprochen, aber ihre Sachen sind gepackt.“ Die Jungs schauten mich bestürzt an. „Was? Ausgerechnet Zora? Die schien doch eigentlich ganz gut klar zu kommen...“, meinte Gawen erstaunt. Er schien wirklich traurig zu sein. Da mischte sich Keiro ein, er schien als einziger nicht sonderlich überrascht. „Sie hat Heimweh. Ihr Entschluss war wahrscheinlich von vorneherein nicht sonderlich fest und jetzt, wo man ihr nochmal die Chance gegeben hat, doch wieder nach Hause zu gehen, scheint er erst recht zu schwanken. Ich hab letztes Jahr dasselbe durchgemacht. Ich glaube, ich spreche nachher nochmal mit ihr. Vielleicht kann ich ihr ja irgendwie helfen.“
Ich nickte, froh, dass sich jemand darum kümmern würde. Ich selbst konnte Zora nicht so direkt helfen. Dafür hätte ich zugeben müssen, dass ich in ihren Schrank geguckt hatte und das wäre ein Vertrauensbruch gewesen, der sie noch in ihrem Entschluss bestärkt hätte. Keiro hingegen wusste ja ganz offen von ihrem Heimweh und schien sie da auch am ehesten zu verstehen. „Das klingt echt gut, danke.“
Unser Gespräch wurde durch den hellen Glockenton gestört, der alle Schüler zum Essen rief. Die Türen zum Schulhof gingen auf und auf einmal war die Halle erfüllt von den Gesprächen der noch 160 Schülerinnen und Schüler. Wir spähten zum Eingang rüber, ob wir unsere weiteren Freunde dort entdeckten und winkten ihnen zu, damit sie zu uns kamen. Meine drei Zimmernachbarinnen grinsten alle von einem Ohr bis zum anderen und ich fragte mich schon gespannt, was sie wohl gleich von ihrem Tag erzählen würden.
Wir stellten uns in der Schlange an und holten uns unser Essen. Schon in der Schlange erzählten die anderen mir, dass sie draußen vor der Akademie gewesen waren und den nahe gelegenen Wald erkundet hatten. Dort hatten sie sogar einen ziemlich großen See gefunden, in dem man im Sommer bestimmt toll schwimmen könnte. Ich versprach ihnen, dass wir das machen würden und freute mich. Zora hatte zwar einen Moment lang traurig geschaut, als ich sagte, dass wir alle zu viert schwimmen gehen würden, aber ich hoffte noch immer auf Keiros Angebot. Vielleicht konnte er sie ja wirklich überzeugen.
Nach dem Essen streckte Keiro sich und sagte er wolle noch ein wenig frische Luft schnappen. Er fragte Zora, ob sie vielleicht mitkommen wollte und zu meiner Erleichterung willigte sie ein. Wir anderen blieben zurück und da ausnahmsweise mal alle nur mit ihren Zimmerpartnern bzw. -partnerinnen geredet hatten, konnten wir drei anderen Blicke austauchen und ein Gespräch beginnen. „Er wird nochmal mit ihr darüber reden, dass sie gehen will, oder?“, erriet Arisa sofort, worum es ging. Nytra nickte stumm. Ich nickte auch, ich war ja die einzige von uns, die wirklich bescheid wusste. „Ich hoffe, er kann sie überzeugen.“ „Ich auch. Nytra hatte auch noch eine Idee, was wir nachher noch machen könnten.“ Nytra schaute sie einen Moment böse an, während ihr die Röte in die Wangen stieg. Wahrscheinlich hatte sie gewollt, dass Arisa ihre Idee vorschlug, aus welchen Gründen auch immer. Ihr schien das irgendwie peinlich zu sein. „Ich hatte vorgeschlagen, dass wir die Nachtwache alle zusammen machen, damit wir uns von allen verabschieden können, die gehen. Und damit Zora sich eventuell verabschieden kann. Auch wenn ich natürlich auch hoffe, dass Keiro sie überzeugen kann“, erklärte Nytra. „Klingt doch wie eine sehr gute Idee“, lächelte ich und hoffte, das würde sie ein wenig bestärken. „Find ich auch“, stimmte auch Arisa grinsend zu und damit war die Sache entschieden.
ZORA
Die Luft draußen war kalt, aber wirklich frisch. Keiro und ich standen auf dem überdachten Weg, der zum Schulgebäude hinüber führte und starrten in die Dunkelheit. „Was macht dein Heimweh?“, fragte er leise. Ich hatte mir denken können, dass es darum gehen würde. Mein Ausbruch vom Freitag konnte gar nicht unbemerkt geblieben sein. „Es ist ganz in Ordnung...“, log ich. „Weil es nicht mehr lange anhalten wird?“, fragte er und traf natürlich den Nagel auf den Kopf. „Woher weißt du das?“ Vielleicht hatte ja doch eine von den anderen dreien etwas gemerkt. Tanya war den ganzen Nachmittag im Zimmer gewesen. Vielleicht war ihr etwas aufgefallen.
„Ich konnte es mir denken. Mir ging es genauso, als uns letztes Jahr gesagt wurde, dass wir doch wieder gehen könnten. Das gilt in den Nebeneinrichtungen genauso wie hier. Am Anfang wollte ich auch einfach nur wieder nach Hause. Aber dann habe ich mit einem der Lehrer der Nebenstelle geredet. Er war echt toll, Vertrauenslehrer, so wie die Lehrerin der 1-A hier. Er hat mri gesagt, dass viele durch die erneute Chance zu gehen erst mal total verunsichert werden. Das ist auch genau der Sinn der Sache. Hier an der Akademie zu lernen ist ein Privileg. Etwas besonderes. Eine einmalige Chance. Und wer nicht den Willen hat, das hier aus welchem Grund auch immer durchzuhalten, der hat hier auch nichts verloren.“
Mir war nicht ganz klar, worauf er hinaus wollte. Das klang bis jetzt nicht sonderlich aufmunternd und ich hatte gedacht, dass er versuchen würde, mich zu überzeugen, doch zu bleiben. Er hatte eine Pause gemacht, als erwarte er, dass ich etwas sagen würde, doch mir fiel nichts ein, was ich dazu sagen könnte. Er hatte ja recht. Es gab jedes Jahr 80 Plätze in der Haupteinrichtung, die bestimmt total beliebt waren und genug Leute da draußen, die mich um meinen Platz beneideten. Und ich wollte diesen Platz einfach ausschlagen, nur um wieder nach Hause zu gehen. Dann hätte ich auch gleich gar nicht herkommen brauchen.
„Bevor du mich missverstehst“, fuhr Keiro fort, nachdem von mir nur Schweigen kam, „das soll kein Vorwurf sein. Es geht mehr darum, dass es an der Akademie Leute braucht, die zu ihren Entscheidungen stehen. Wer das nicht tut, der wird hier nicht weit kommen. Wir 80, die diese Jahr in den ersten Jahrgang gekommen sind, haben uns einmal entschieden, dieses 'Abenteuer', wenn du es so nennen willst, zu wagen. Wer nach einer Woche bereits aufgibt, der wäre auch nie bis zum Ende der zwei oder drei Jahre gekommen. Und solche Leute, die brauchen wir hier nicht. Wir brauchen mutige Leute, die ihre Träume verfolgen und im Auge behalten.
Und als er mir das erzählt hatte, stellte ich mir vor, wie sehr ich es bereuen würde, wenn ich diese Chance ausgeschlagen hätte. Wenn ich aufgegeben hätte und einfach wieder nach Hause gegangen wäre. Und dann war mir klar, dass ich das nicht wollte. Ich will stolz nach Hause zurückgehen und sagen können, 'Ich hab das geschafft'. Ich will mich nicht bis ans Ende meines Lebens fragen, was gewesen wäre, wenn ich geblieben wäre. Aber das muss jeder selbst entscheiden. Auch du“, lächelte er und drückte mich einmal. „Denk darüber nach und finde dann deine Antwort. Ich...“, er zögerte, „und auch deine anderen Freunde und Freundinnen, wir wollen dich zu nichts drängen. Wir würden uns aber mächtig freuen, wenn du bleiben würdest. Und auch wenn du gehst, werden wir dir nur das Beste wünschen.“
Keiro ging wieder hinein und ich blieb allein draußen zurück. Ich schaute hoch zum Himmel und dachte nochmal über alles nach, was er gesagt hatte. Würde ich es bereuen, wenn ich jetzt aufgab? Ja, wahrscheinlich würde ich das tun. Andererseits war das hier eine Entscheidung, die zwei Jahre meines Lebens bestimmen würde. Und zwei Jahre waren ja eine verdammt lange Zeit... Aber ich würde es bereuen. Ich würde es bereuen, wenn ich nicht mit den anderen hier durchhielt. Wenn ich meine neuen Freundinnen nach der kurzen Zeit schon wieder verlassen würde. Und auch ich würde mich immer fragen, was würdest du jetzt tun, wenn du geblieben wärest?
Außerdem traute ich es mir doch wohl zu, das hier zu schaffen, oder? Ja, ich wollte das doch schaffen, oder? Darum war ich doch überhaupt hergekommen! Ich wollte doch lernen und ich kam damit bis jetzt auch gut klar. Und mein Zuhause würde auch in zwei Jahren noch auf mich warten. Genauso wie meine Freundinnen. Und solange hatte ich hier doch gute neue Freundinnen und Freunde, oder etwa nicht?! Wie hatte ich je auf die Idee kommen können, gehen zu wollen?!
Ich ging ebenfalls hinein und konnte jetzt wieder richtig und ehrlich lächeln. Anstatt mich jedoch direkt zu den anderen an den Tisch zu setzen, ging ich zunächst in unser Zimmer. Und dort räumte ich alles, was ich schon zusammen gepackt hatte wieder aus. Meine eigenen Sachen landeten wieder bei den Akademie-Sachen im Schrank, mein Rucksack ganz unten in der hintersten Ecke. Ich würde das durchhalten. Und ich würde nicht mehr zweifeln. Das nahm ich mir damals vor, doch es sollte ein Tag kommen, an dem dieser Entschluss erneut ins Wanken gebracht werden sollte. Doch bis dahin war es noch eine lange Zeit und so verließ ich unser Zimmer mit einem breiten, befreiten Grinsen.
Ich grinste immer noch vor mich hin, als ich wieder zu den anderen in den Speisesaal trat. „Na, alles geklärt?“, grinste Nytra mich an. „Alles geklärt. Und wie steht's bei euch? Wer geht gleich wo hin?“, fragte ich, auf die Nachtwache bezogen. Die anderen grinsten jetzt alle mich an und verkündeten, dass wir alle zusammen zu jedem Zimmer gehen würden, auch um uns von denen, die morgen abreisen würden, zu verabschieden. Und natürlich, um damit angeben zu können, für dieses Jahr die Nachtwache bereits hinter uns zu haben. Und in diesem Moment war ich unendlich froh, dass ich bleiben würde.
DIE LEITUNG
„Drei Abbrecher, hm?“, murmelte Leiter Granik nachdenklich. Er saß an seinem Schreibtisch im Hauptgebäude der Akademie und schaute sich die Schülerliste des ersten Jahrgangs an. Raiga stand vor dem Schreibtisch und schnaubte wütend: „Nur drei. Das überrascht mich, so schlecht wie die sind.“ Granik warf ihm nur einen kurzen kalten Blick zu. „Das sagst du über fast jeden Jahrgang, wenn ich dich erinnern darf. Lass ihnen doch erst mal ein wenig Zeit. Einige sind erst eine Woche lang hier. Sie können sich immer noch beweisen.“
„Ich soll ihnen Zeit lassen? Zeit ändert nichts daran, ob einer Talent hat oder nicht. Da kannst du noch so lange warten, Waro. Wir nehmen viel zu viele 'Unnütze' auf.“ „Wir brauchen das Geld. Und wir brauchen die Leute. Du nennst sie 'unnütz' und willst, dass ich mehr Späher aussende, die uns 'nützliche' Schüler schicken. Wir haben aber nicht mehr Späher, die müssen wir erst ausbilden! Und genau da kommen die ins Spiel, die du 'unnütz' nennst. Du warst schon immer ein Hitzkopf.“ Granik schüttelte den Kopf und sah den jüngeren abschätzig an. „Verschwinde. Ich will dich nicht mehr sehen, bis du dich beruhigt hast und wieder klar denken kannst.“
Raiga verließ den Raum immer noch wutentbrannt, während Leiter Granik sich in seinem Stuhl zurücklehnte und sich noch einmal die bisherigen Ergebnisse der Schüler ansah. So schwer es ihm fiel, es zuzugeben, Raiga hatte nicht unrecht. So, wie es bis jetzt aussah, würde es schwer werden, einen vollständigen dritten Jahrgang auszuwählen. Das war bisher nie vorgekommen. Aber immerhin waren drei Plätze frei geworden. Nun hatte er ein Jahr Zeit, um geeigneten Ersatz zu finden.