TANYA Tag 1, Montag
Müde schlug ich die Augen auf. Mein Körper hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, mit nur einem Ruhetag auskommen zu müssen. Im Zimmer war es kalt, was es nur noch härter machte, das Bett zu verlassen.
Ich antwortete auf Arisas und Zoras allmorgendliche Grüße und streckte mich. Über mir hing ein Arm aus dem oberen Bett, also zog ich leicht daran. Ein Grummeln signalisierte mir, dass auch Nytra wach war. Die beiden anderen wuschen sich bereits und ich beschloss zuerst auf die Toilette zu gehen.
Als ich zurückkam, war Nytra auch auf gestanden und ich gesellte mich zum Waschen zu ihr. Mit einem leicht genervten Seitenblick machte sie mir Platz. Arisa war nach mir auf den Flur verschwunden, während Zora sich hinter uns anzog.
„Seid ihr auch schon so aufgeregt?“, fragte sie hibbelig. Den Mund voll mit Zahnpasta, zuckte ich nur die Schultern. Nytra tat es mir nach und spuckte aus.
„Ich weiß nicht, es wird sicher lustig, dass wir was zu viert machen, aber es wird bestimmt total anstrengend...“, wägte sie ab und ging zu ihrem Schrank herüber.
„Ach was! Wenn man Spaß hat, kann keine Anstrengung zu groß sein. Ich freu mich drauf“, entgegnete Zora optimistisch wie eh und je.
„Dir ist schon bewusst, dass wir knapp zwei Wochen da draußen im Schnee rumlaufen werden? Tag für Tag für Tag, vielleicht auch mal nachts, je nachdem wie wir voran kommen. Und wir wissen nicht, wo wir schlafen werden“, warf ich ein.
„Oh, Tanya...“, quengelte Zora daraufhin und begann zu schmollen. „Musst du denn immer so ernst sein? Es wird schon alles gut...“ Doch sie klang jetzt längst nicht mehr so sicher.
Arisa kam zurück, bemerkte Zoras Stimmungswechsel und fragte besorgt: „Was ist denn passiert?“
„Ach, Tanya hat nur versucht, Zora den Ausflug zu vermiesen“, antwortete Nytra und zog sich ihr Oberteil über den Kopf.
„So war das überhaupt nicht gemeint! Und nenn das Ganze nicht 'Ausflug'“, wies ich sie zurecht. „Ich habe nur gesagt, dass es sicher anstrengend wird, zwei Wochen durch die Kälte zu wandern.“
„Naja, da hat Tanya schon recht“, gab Arisa zu und schaute Zora an. Dann lächelte sie jedoch ihr typisches warmes Lächeln und sagte: „Aber es wird bestimmt trotzdem Spaß machen.“
„Ihr seid wirklich unverbesserliche Optimisten...“, meinte Nytra kopfschüttelnd, musste aber auch lächeln.
Nach einem letzten herzhaften Frühstück versammelten wir uns auf dem Schulhof. Die Lehrer hatten sich wie immer auf der Seite des Schulgebäudes aufgebaut, doch ausnahmsweise standen wir nicht als Klassen, sondern als Zimmer zusammen.
„Sind alle Zimmer vollständig?“, schallte Raigas Stimme über den Platz. „Meldet euch!“ Nachdem jedes Zimmer die Vollständigkeit bestätigt hatte, fuhr er fort: „Gut. Ihr werdet nach meiner Einführung zum sogenannten 'Wintertraining' aufbrechen. Diese Übung wird in Zimmergruppen durchgeführt. Es erhalten jeweils zwei Zimmer dieselbe Route. Es werden je ein Viererzimmer und ein Sechserzimmer unterschiedlichen Geschlechtes sein. Es ist eure freie Entscheidung, ob ihr zusammen oder getrennt gehen wollt.
Eure Route ist auf der Karte markiert, die ihr euch mit der restlichen Ausrüstung bei Hiko und Risa abholen werdet. Auf dem Weg werden zwölf Punkte markiert sein. Das sind Kontrollpunkte, an denen euch Wasserstellen erwarten. Außerdem gibt es an diesen Punkten gewisse Marker, auf denen eure Zimmernummer steht. Diese zwölf Marker sind notwendig, um das Wintertraining erfolgreich zu bestehen.
Der Zeitrahmen der Übung beträgt zwölf Tage. Ihr erhaltet Proviant für zehn Tage, teilt ihn euch also gut ein, falls ihr länger brauchen solltet. Die weitere Ausrüstung umfasst je eine Taschenlampe pro Person, eine Wasserflasche pro Person, einen Kompass, ein Zelt für vier bzw. zwei Zelte für je drei Personen, sowie einen Beutel für die Marker.
Kommen wir als letztes zu den Bedingungen, unter denen das Wintertraining bestanden werden kann. Wer das Zeitlimit, also die zwölf Tage überschreitet, ist durchgefallen. Wer nicht alle zwölf Marker mitbringt, ist durchgefallen. Wer mehr als zweimal vom Weg abkommt und vom zweiten Jahrgang zurückgeführt werden muss, ist durchgefallen. Wer nachweislich andere Gruppen sabotiert, ist durchgefallen.
Gibt es noch irgendwelche Fragen?“
Auf dem großen Hof herrschte Stille. Die meisten mussten erst einmal verarbeiten, was sie gerade alles gehört hatten. Für mich war alles soweit klar. Die Anweisungen waren ja auch präzise genug gewesen. Und ich hatte keine Lust durchzufallen, denn dann konnte ich den Dritten Jahrgang echt vergessen. Nytra würde das sicher genauso sehen und Arisa und Zora waren eh die Fitteren von uns vieren. Unsere Chancen standen gut.
„Ich hoffe nur, dass wir kein nerviges Jungszimmer erwischen...“, murmelte ich genervt. Das war meine letzte Sorge. Wenn die uns Stress machten, könnte das noch ein Problem werden.
„Ja, wie Zeos...“, Arisa sah so genervt aus, wie ich mich fühlte. Sie schien immer noch unfassbar wütend auf ihn zu sein. Aber das war deren Sache, da hielt ich mich raus.
„Oder Akis Zimmer...“, Nytra sah aus, als würde sie gleich in den Schnee kotzen.
„Mann, Leute, jetzt seid doch nicht schon wieder so negativ!“, stöhnte Zora und schaute uns enttäuscht an. „Es ist so toll, dass wir was zu viert machen. Motzt doch nicht vorher schon die ganze Zeit rum.“
„Du hast recht. Lasst uns erst mal gucken, welches Zimmer es jetzt wird. So schlimm wird es schon nicht werden“, lenkte Arisa wie üblich als erste ein. „Außerdem geht das ja gar nicht, wir bekommen ja ein Sechserzimmer dazu...“, fiel ihr dann ein und sie atmete erleichtert auf.
„Ach, Zora, du hoffst doch nur, dass wir mindestens einen Abend Besuch von Keiro bekommen“, stichelte Nytra gleich wieder mit breitem Grinsen. Als ich sie daraufhin böse anschaute, fügte sie noch breiter grinsend hinzu: „Ach, ja... Naro wäre dann ja auch dabei...“
„Nytra...“, knurrte ich nur bedrohlich.
Zora hingegen war einfach nur rot angelaufen und schien ein wenig zu schmollen. Dann schien ihr etwas einzufallen und sie sagte schnippisch: „Da wäre dann Gawen aber auch dabei, meine Liebe. Dann könnten wir dich auch mal in Verlegenheit bringen...“
Das war irgendwie ein offenes Geheimnis, dass die beiden einander ganz sympathisch fanden. Nytra schien jedoch nicht wirklich interessiert oder reagierte zumindest nicht wirklich auf Gawens Annäherungsversuche. Das war zwar schon irgendwie seltsam, aber wer wusste schon, was in dem Kopf von dem Mädchen so vor sich ging?
„Es gibt also keine Fragen mehr?“, hakte Raiga noch einmal nach und das Gemurmel der Gruppen erstarb. „Gut. Dann werden wir jetzt verkünden, welche Zimmer dieselbe Route nehmen werden.“ Er nickte Andra zu, die neben ihm stand.
„Zimmer 2-b der Mädchen und Zimmer 4-a der Jungen nehmen Route 1, holt euch die Karten bei Hiko ab und macht euch dann auf den Weg“, verkündete sie. Dann fuhr sie fort, die anderen Zimmer vorzulesen, doch wir hatten keine Zeit, um stehen zu bleiben und weiter zuzuhören. Na, wir würden schon erfahren, mit wem die anderen zusammen gehen mussten. Ich war froh, dass wir kein schwieriges Zimmer erwischt hatten.
Zimmer 4-a der Jungen stellte sich als das Zimmer von Riley heraus, welchen ich seit der Wahl etwas näher kannte. Er half Elin ab und zu mit den Stufensprecheraufgaben. Riley selbst war ein wenig seltsam und ich wurde mit ihm irgendwie nicht richtig warm, doch die anderen Jungs machten einen ganz netten Eindruck.
Wir holten uns die Karten ab und verließen das Gelände dann durch das Tor. Zora und Arisa freundeten sich natürlich sofort mit den Jungs an, während ich erst mal die Karte studierte. Nytra kam neben mich und schaute mir über die Schulter. Es gab 12 rot markierte Punkte, die Strecken dazwischen variierten. „Wir werden sehen müssen, wie weit wir an einem Tag kommen... Wenn wir gut durchkommen, könnten wir diese und diese zwei“, ich deutete auf die Karte, „jeweils an einem Tag schaffen. Dann kämen wir mit den zehn Tagen hin.“
„Kommt drauf an, ob wir zwei das durchhalten. Und wenn wir zwölf Tage brauchen, dann wäre es auch nicht schlimm...“, meinte Nytra nachdenklich.
„Ja, es wäre nicht schlimm, aber es wäre nicht unbedingt gut genug für den dritten Jahrgang. Du weißt, dass nur die Besten ausgewählt werden. Außerdem kann das auch schnell knapp werden.“
„Da kommt wieder der Ehrgeiz...“, sie verdrehte die Augen. „Ist ja schon gut, wir machen so schnell wie es geht. Aber überanstrenge dich nicht“, meinte sie dann noch und stapfte dann etwas abseits für sich allein weiter.
„Na, gibt’s bei euch schon Streitereien?“, fragte Riley dann grinsend. Er und ein zweiter Junge waren zu mir herüber gekommen.
„Ganz im Gegenteil. Bei uns ist alles gut, wir haben uns nur die Karte angeschaut und überlegt, wie schnell wir es wohl schaffen werden.“
„Nun, auch wenn ihr euch sicher sehr bemühen werdet, werden wir uns spätestens in ein paar Stunden von euch trennen müssen“, grinste mir der fremde Junge dreist ins Gesicht.
„Vil, sei nicht so fies. Auch wenn er leider recht hat. Ich wünsche euch allerdings trotzdem alles Gute“, erklärte Riley dann, doch ich nahm ihm nicht wirklich ab, dass er nicht mindestens so schadenfroh war wie sein Zimmernachbar.
„Danke. Aber dann würde ich sagen, dass es auch sinnlos ist, sich weiter zu unterhalten. Wenn sich die Gruppen sowieso trennen, ist es besser, jede bleibt für sich.“ Mit diesen Worten legte ich einen Zahn zu und ging zu Nytra herüber. Dieses dämliche Gehabe der Jungs in unserem Alter ging mir echt auf den Keks. Warum konnten die nicht so vernünftig sein wie Naro?
SUKIRA Tag 1, Montag
Schweigend lief ich hinter den anderen her. Ich war traurig, dass wir die Übung in Zimmergruppen machten, denn mit den Mädchen in meinem Zimmer verstand ich mich irgendwie immer noch nicht richtig. Bei denen ging es immer nur um Jungs und wie schwer doch alles war. Auch jetzt waren sie nur wieder am Stöhnen, wie kalt es war, wie schwer die Rucksäcke, wie unnötig das alles und bla bla bla. Ich verdrehte die Augen.
„So schlimm?“, grinste Aki mich dann an. Ich war froh, dass wir sein Zimmer erwischt hatten. Bis auf Luca schienen die eigentlich alle ganz nett zu sein und Aki kannte ich zum Glück aus der Klasse.
„Ach, die paar Tage werde ich schon überleben“, grinste ich verlegen, doch man muss mir angesehen haben, dass ich es wirklich schlimm fand. Er legte mir mitfühlend einen Arm um die Schulter. Einen Moment zuckte ich zusammen, da ich Körperkontakt mit Jungs nicht gewohnt war, doch dann war ich froh über seine Anteilnahme. Ich verstand Nytra nicht, Aki war wirklich ein netter Junge.
„Mach dir nichts draus. Es ist gut, dass du nicht so bist wie die. Ich finde es immer total beeindruckend, wenn ihr drei am Wochenende laufen geht“, versuchte er, mich aufzuheitern.
„Du guckst doch nur wegen Nytra zu“, neckte ihn dann einer seiner Zimmernachbarn im Vorbeigehen und schlug ihm leicht mit den Knöcheln vor die Stirn.
„Mann, Bari... Du sollst das nicht immer allen erzählen...“, schmollte Aki dann und rieb sich die Stelle, wo sein Freund ihn getroffen hatte.
„Sie ist Nytras Freundin, sie hat das sicher schon längst bemerkt, so offensichtlich wie du bist...“, erklärte dann Fan, der ruhigste aus dem Zimmer.
„Ihr seid sowas von dumm“, meinte der letzte Junge, Luca, verächtlich. Er war etwas größer als die anderen und schien auch älter zu sein. Aus eisblauen Augen schaute er mich böse an. „Was gibt's da zu starren?“, fuhr er mich an, als er meinen Blick bemerkte.
„Nichts...“, gab ich leise zurück und schaute schnell woanders hin. Der war vielleicht unfreundlich. Ich erinnerte mich daran, dass er versucht hatte Stufensprecher zu werden. Kein Wunder, dass das bei so einem Auftreten nicht funktioniert hatte. Wäre ich ein bisschen mutiger, hätte ich ihn gerne zurecht gewiesen, doch das war ich leider nicht.
Den Rest des Tages lief ich eher mit den Jungs mit als mit meinem eigenen Zimmer. Obwohl Luca uns wohl gerne zurückgelassen hätte, hatten die anderen Jungen entschieden, dass die beiden Zimmer zusammen bleiben sollten. Den anderen Mädchen war das natürlich zumindest so halb recht.
Aus irgendeinem Grund fanden sie Luca alle toll. Die anderen Jungs waren halt eher klein und noch schmächtig. Luca hingegen erinnerte schon an die großen Zweitklässler, das schien ihnen zu gefallen. Als ich die anderen so bei ihrem oberflächlichen Getuschel beobachtete, kam mir der Gedanke, ob Nytra Aki deshalb nicht mochte. Vielleicht war sie ja insgeheim auch so oberflächlich? Das stimmte mich irgendwie ein bisschen traurig. Doch es sollte nicht die größte Enttäuschung an diesem Tag bleiben.
Als es langsam dunkel wurde, erreichten wir den ersten Kontrollpunkt. Wir sammelten die Marken ein, die wir brauchten, füllten unsere Flaschen an der zugehörigen Wasserstelle und schauten uns dann die kleine Hütte an, die dort stand. In der Hütte erwarteten uns ein paar ältere Mädchen, die es sich bereits mit einem Feuer gemütlich gemacht hatten.
„Da seid ihr ja endlich!“, grinste eine etwas überheblich. „Ihr wart ganz schön langsam.“
„Was erwartest du? Guck mal, da ist eine Freundin von der 'lahmen Tanya', kein Wunder, dass die lange brauchen“, lachte eine zweite gehässig. Toll, der Name hatte es also bis in die Stufe über uns geschafft. Tanya tat mir leid, sie gab sich wirklich Mühe...
Luca, der hinter mir durch die Tür gekommen war, lachte fies. „Ach, daher kenn' ich die hier also. Hatte mich schon gewundert. Aber wenn das so ist, dann brauch ich deinen Namen auch nicht kennen.“
„Lasst sie sofort in Ruhe! Sukira hätte viel schneller gehen können, der Rest von den Mädchen ist das Problem!“, mischte sich Aki dann wütend ein und versuchte, mich zu verteidigen. Doch das würde nur nach hinten losgehen, das war mir jetzt schon klar.
„Mach hier mal nicht so einen lauten, du kleiner Idiot. Nur weil du auf ihre Freundin stehst, brauchst du den Lahmarsch nicht zu verteidigen“, meinte Mila, eine meiner Zimmernachbarinnen, abfällig.
„Ach, warte, deine Angebetete gehört ja auch zu den Verlierern. Dumpfbacken mit ihrem blöden Gerede vom Dritten Jahrgang“, Aly, ein anderes Mädchen, brach in hysterisches Gelächter aus.
„Also, wir verabschieden uns an dieser Stelle“, meinte eines der älteren Mädchen dann und sammelte seine Sachen zusammen. Die anderen taten es ihr gleich und bald waren sie verschwunden.
„Jetzt, wo die großen weg sind, können wir es euch ja verkünden“, begann dann Cynthe, die schlimmste aus meinem Zimmer. Sie schaute die Jungs und mich triumphierend an. „Wir werden ganz bestimmt nicht mit euch zusammen hier drin schlafen. Aki, Bari, Fan und Sukira bleiben draußen. Luca, du bist natürlich herzlich willkommen.“ Sie zwinkerte ihm zu und lächelte aufreizend.
Einen Moment war ich sprachlos. Das meinte sie ja wohl nicht ernst? Uns allen war furchtbar kalt nach dem langen Tag draußen und wir konnten jedes bisschen Wärme gebrauchen.
„Das ist ja wohl nicht euer Ernst“, ereiferte sich jetzt auch Fan, der eigentlich immer ruhig blieb.
„Das ist unser voller ernst. Im Notfall lassen wir euch von Luca hier raus prügeln“, grinste Mila fies.
„Wer sagt, dass ich das für euch machen würde?“, fragte Luca dann jedoch und überraschte uns alle.
„Red doch keinen Unsinn. Natürlich würdest du das für uns machen“, Hanka sah ein wenig perplex aus und schaute ihn flehend an.
„Wenn ihr mich auf eurer Seite haben wollt, dann solltet ihr euch merken, dass ich es nicht mag, wenn andere denken, sie könnten über mich bestimmen...“ In seiner Stimme lag ein drohender Unterton.
„Das würden wir uns nie trauen. Wirklich, Luca, das kannst du uns glauben“, ruderte Cynthe nervös zurück und hob beschwichtigend die Hände. Danach warf sie Mila einen scharfen Blick zu.
„Na, wenn ihr das verstanden habt, gut.“ Er wandte sich uns zu. „So, ihr Versager. Raus hier, jetzt“, verkündete er drohend.
Ich sah, wie Aki sich auf ihn stürzen wollte, doch Bari hielt ihn geistesgegenwärtig zurück. Stattdessen forderte Fan jetzt: „Dann gebt uns wenigstens etwas von dem Holz und die Zelte. Ihr könnt ja wohl nicht wollen, dass wir da draußen erfrieren.“
„Ist uns doch egal, ob ihr erfriert. Unsere Zelte bekommt ihr bestimmt nicht. Ihr habt doch ein eigenes, das ihr zu viert teilen könnt“, winkte Aly angeekelt ab.
„Aber Sukira ist ein Mädchen, wir können nicht in einem Zelt schlafen!“, protestierte Bari für mich. Mir persönlich war das zu diesem Zeitpunkt vollkommen egal. Ich war innerlich am Boden zerstört und konnte mich nur noch darauf konzentrieren, nicht zusammenzubrechen.
„Das hätte sie sich überlegen sollen, bevor sie so seltsam geworden ist. Wer sich so benimmt, mit dem wollen wir nichts zu tun haben“, verkündete Cynthe hämisch und drückte mir ein paar Holzscheite in die Hand. „Da, das könnt ihr haben. Und jetzt raus.“
Als sie uns aus der Tür schoben, fiel mein Blick auf Natalia, die die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte. Sie schaute mir als einzige etwas mitleidig hinterher, setzte sich dann aber zu den anderen ans Feuer und begann den Proviant auszupacken.
Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Während Aki und Bari das Zelt aufbauten, versuchten Fan und ich ein Feuer zu machen, was sich jedoch äußerst schwierig gestaltete.
„Eigentlich könnt ihr das gleich lassen. Das bisschen Holz reicht eh nicht lange. Am besten holen wir einfach alle unsere Schlafsäcke raus und quetschen uns zusammen ins Zelt“, schlug Bari vor und Fan nickte.
Etwas zögerlich holte auch ich meinen Schlafsack und breitete ihn vorsichtig im Zelt aus. Die Jungs hatten mir am einen Ende extra etwas Platz gelassen. Da das Zelt eh für vier Personen ausgelegt war, passte es zum Glück gut. Trotzdem fühlte ich mich unwohl bei dem Gedanken, mit drei Jungen zusammen in einem Zelt zu schlafen.
„Hey... Sukira“, zögerlich fuhr Aki mit der Hand durch seine roten Haare. „Ich weiß, dass das jetzt 'ne blöde Situation für dich ist, aber... du kannst uns vertrauen, weißt du? Wir werden schon nichts machen...“ Er schaute zu Boden und ich erkannte, dass er ein bisschen rot war.
„Na, du sowieso nicht. Deine Aufmerksamkeit gehört einer anderen“, grinste Bari und fuhr fort Aki zu ärgern, als sei nichts gewesen.
„Aber er hat schon recht. Von uns hast du nichts zu befürchten. Ich hoffen nur, die da drin lassen uns die Nacht über in Ruhe...“, meinte Fan dann nachdenklich.
Besorgt schauten wir noch einmal in Richtung Hütte, obwohl wir durch die Zeltwand natürlich nichts erkennen konnten. Dann schlüpfte jeder wie auf Kommando in seinen Schlafsack und ehe ich mich versah war ich auch schon vor Erschöpfung eingeschlafen.
ARISA Tag 3, Mittwoch
Der ersten zwei Tage vergingen ohne Zwischenfall. Das Jungszimmer hatte uns nach etwa vier Stunden hinter sich gelassen und war mittlerweile bestimmt schon am fünften Kontrollpunkt angekommen. Wir standen währenddessen vor der Aufgabe heute nach dem dritten auch noch den vierten Kontrollpunkt zu finden. Tanya hatte sich das fest in den Kopf gesetzt, doch ich machte mir Sorgen um sie und Nytra. Ich bewunderte die beiden ja für ihren Ehrgeiz, den Dritten Jahrgang erreichen zu wollen, aber wenn sie sich jetzt verletzten, dann würde uns das weit zurück werfen.
Immerhin hatten wir keine Probleme mit der Orientierung. Ich kannte mich gut aus, da Lumina mir das Kartenlesen von klein auf an beigebracht hatte. Wir hatten es oft gebraucht, um im Frühsommer in eine der größeren Städte zu wandern, um seltene Stoffe oder Notrationen für das Tal zu kaufen. Außerdem hatte sie noch einmal alles mit mir wiederholt, als ich zur Akademie aufgebrochen war.
Doch auch Tanya und Nytra hatten im Unterricht gut aufgepasst und fleißig gelernt. Nur Zora schien irgendwie nicht so gut mit der Karte zurecht zu kommen. Doch dafür erhellte sie die Stimmung der Gruppe, vor allem in unseren kurzen Pausen. Sie erzählte oft Geschichten von sich Zuhause. Von ihren Schwestern, ihren Freundinnen... Sie konnte so gut erzählen, dass man das Gefühl hatte, man sei selbst dabei gewesen.
„Tanya, wie weit ist es noch bis zum Kontrollpunkt?“, fragte ich, als ich merkte, dass die Sonne bald untergehen würde. Bisher hatten wir Glück gehabt, dass uns an den Kontrollpunkten Hütten erwarteten, in denen man übernachten konnte. Das war noch geschützter als nur im Zelt zu schlafen und ich hoffte, dass wir auch heute eine erreichen würden.
„Vielleicht noch eine Stunde. Ich hoffe, wir schaffen es noch heute. Notfalls müssen wir im Dunkeln weitergehen. Wir haben die Taschenlampen bisher nicht gebraucht, dann könnten wir sie heute benutzen.“
„Aber nur, wenn es wirklich nur eine Stunde ist. Wir sollten die Batterien schonen, soviel wir können, falls wir auf den letzten Metern noch eine Nachtwanderung einlegen müssen“, warnte Nytra.
„Das wird schon nicht passieren, wir liegen bisher gut in der Zeit.“
„Ja, aber man weiß nie, was noch passieren könnte...“
„Sei nicht schon wieder so pessimistisch. Bis jetzt ist doch auch alles gut gegangen“, grinste Zora, woraufhin Nytra den Kopf schüttelte.
„Gut, wenn ihr das alle glaubt.“
Ich musste lächeln. Ich war froh, wenn sie eine Diskussion so einfach aufgab. Vielleicht würde sie sich ja irgendwann von uns wirklich überreden lassen und mal etwas positiver denken. Versuchen konnte man es ja.
Etwa eine halbe Stunde später erreichten wir den Kontrollpunkt, an dem uns wieder eine kleine Hütte erwartete. Innerlich atmete ich auf, denn es wäre sicherlich kein Spaß geworden bei der Kälte in dem dünnen Zelt zu schlafen.
Aus dem Schornstein stieg eine Rauchfahne auf, also waren die Zweitklässler noch da und hatten alles warm gehalten. Fröhlich riss Nytra die Tür auf und erstarrte.
„Du?!“, erklang es genervt von drinnen.
„Annika?“, fragte Tanya dann hinter mir, sie hatte die Stimme zuerst erkannt.
„Tanya?“, rief Annika von drinnen zurück und Tanya eilte zu Nytra an die Tür. Einen Moment starrten alle einander perplex an. In der Hütte saßen Annika, Dorina, Inaga und Sala.
„Na, das ist ja mal 'ne Überraschung“, grinste Inaga dann. „Dann müssen wir uns den Platz heute Nacht wohl teilen.“
„Seid ihr sicher, dass ihr euch nicht vertan habt und am falschen Kontrollpunkt seid?“, fragte Annika pikiert. Sie schien keine besondere Lust darauf zu haben, dass wir uns die Hütte teilten.
„Je nachdem, wer euch navigiert, kann das sogar gut sein“, giftete Sala mit einem Blick auf Nytra.
„Ach ja? Wer von uns beiden hat denn keinen Orientierungssinn? Grenzte ja schon an ein Wunder, dass du damals die Akademie gefunden hast. Auch wenn es für alle schöner gewesen wäre, hättest du dich verirrt und wärst irgendwo verreckt. Aber dafür ist es ja noch nicht zu spät...“, gab diese natürlich gleich zurück, blieb zum Glück jedoch in der Tür stehen. Vorsichtshalber legte ich ihr trotzdem eine Hand auf die Schulter, um sie notfalls zurückzuhalten.
„Bevor das hier jetzt weiter ausartet, es kann vorkommen, dass zwei Gruppen gleichzeitig an einem Kontrollpunkt ankommen. Die Routen überschneiden sich teilweise. Also teilen wir uns die Unterkunft heute Nacht und das bedeutet, dass sich alle vertragen. Wer sich daran nicht halten kann, der fliegt raus und kann draußen alleine im Zelt pennen. Und da ist es im Gegensatz zu hier drinnen arschkalt, also solltet ihr euch das nochmal überlegen“, griff Inaga streng ein und bedachte sowohl Sala als auch Nytra mit einem bösen Blick.
Tanya neben mir seufzte und trat dann durch die Tür. „Gut, dass das geklärt ist, danke Inaga. Kommt rein, Leute, sonst zieht die ganze Wärme raus.“
„Ich find es total schön, dass wir heute Nacht zusammen hier bleiben können“, meinte Zora grinsend, als sie herein ging und direkt Dorina umarmte.
„Ich auch“, antwortete diese und die beiden strahlten miteinander um die Wette.
„Klar, dass ihr das toll findet“, grinste Nytra sarkastisch.
„Nytra, benimm dich. Du kannst deine Sachen gleich darüber legen, ihr zwei schlaft an entgegen gesetzten Enden des Raumes“, erklärte Tanya dann streng.
„Jawohl, Frau Stufensprecherin!“ Vor sich hin lachend, stellte Nytra ihren Rucksack in die Ecke, auf die Tanya gezeigt hatte und zog ihre Jacke aus.
„Ach, wie süß... Stehst du unterm Pantoffel der 'lahmen Tanya'?“, stichelte Sala gleich weiter.
„Wenigstens hab ich Freunde, auf die ich hören kann, Sala“, entgegnete Nytra nur gelangweilt und breitete ihren Schlafsack aus.
„Sala, lass sie in Ruhe. Wir müssen heute Nacht alle hier pennen und ich glaube wirklich nicht, dass du lieber da draußen im Zelt schlafen würdest“, ermahnte ich sie noch einmal genervt. Solche Zickereien gingen mir total gegen den Strich und ich war froh, dass wenigstens Nytra einigermaßen ruhig blieb. Ich breitete meine Sachen neben ihr aus und setzte mich dann zu den anderen ans Feuer.
„Euer wievielter Kontrollpunkt ist das eigentlich?“, fragte Tanya neugierig. Sie saß dicht neben Annika und blickte jetzt neugierig zu Inaga. Sala und Nytra saßen in ihren Ecken und schauten einander böse an, blieben jetzt jedoch still. Zora hatte sich mittlerweile auch aus ihrer Jacke geschält und saß neben Dorina. Ich saß in etwa in der Mitte von dem ganzen Trubel und starrte ins Feuer.
„Für uns ist es der dritte. Und bei euch?“, antwortete Inaga jetzt und lächelte.
„Unser vierter. Die beiden heute lagen nah zusammen, also sind wir früh aufgestanden und haben uns beeilt“, erklärte Tanya stolz.
„Das klingt ja super für euch. Freut mich, dass ihr so gut durchkommt“, lächelte Dorina und drückte Zora kurz an sich.
„Mich auch. Wirklich gut“, grinste Inaga. „Bei uns liegen die meisten Punkte noch ziemlich weit auseinander, da schaffen wir erst mal nur einen pro Tag. Zum Ende hin liegen die dann aber etwas näher zusammen. Mal sehen, wer dann wohl eher ins Ziel kommt“, zwinkerte sie dann.
„Mal sehen“, grinste Tanya zurück.
„Mit welchem Zimmer wart ihr eigentlich unterwegs?“, fragte Zora dann neugierig.
„Mit dem Zimmer von Elin. Aber die Jungs sind ja echt fit, die haben uns schnell hinter sich gelassen“, antwortete Inaga. „Und ihr?“
„Mit dem Zimmer von Riley. War bei uns genauso. Die sind nach vier Stunden abgehauen“, Tanya rollte die Augen. „Natürlich nicht ohne dumme Sprüche.“
Dorina verzog mitleidig das Gesicht. „Nimm es nicht so schwer. Das sind Idioten, denen wirst du es schon zeigen“, erklärte sie dann mit einem warmen Lächeln. Ich hatte zwar bisher nicht so viel mit ihr zu tun gehabt, doch sie schien mir echt nett zu sein. Ein bisschen ruhiger als Zora, aber genauso gutherzig. Kein Wunder, dass die beiden sich so gut verstanden.
„Habt ihr eigentlich schon andere Zimmer getroffen?“, fragte Nytra dann und alle drehten sich zu ihr um.
„Nein, ihr?“, Inaga schüttelte den Kopf.
„Nö. Schade... Wisst ihr denn, mit welchem Zimmer Sukira unterwegs ist?“, fragte sie dann. Trotz des schwachen Lichtes, glaubte ich, dass sie ein bisschen rot wurde. Das erklärte auch ihre Frage, sie machte sich wohl Sorgen. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, ging es mir genauso. Sukira hing immer mit uns rum und schien sich mit den anderen Mädchen aus ihrem Zimmer nicht gut zu verstehen... Das konnte einem schon Sorgen bereiten.
„Nee, leider nicht. Habe ich nicht drauf geachtet“, Inaga schien auch verstanden zu haben, warum Nytra fragte und schüttelte mit besorgter Mine den Kopf.
„Die sind mit dem Zimmer von Luca unterwegs“, mischte sich Sala überraschend ein.
„Lucas Zimmer?“, Nytra überlegte einen Moment. „Das ist doch auch das Zimmer von Aki, oder?“
„Jap“, ich nickte zustimmend.
Sie atmete hörbar auf. „Der Kleine ist in Ordnung. Dann kennt sie wenigstens jemanden.“
„Große Schwester Nytra kann beruhigt sein“, stichelte Inaga grinsend.
„Inaga...“, knurrte Nytra genervt, musste aber trotzdem lächeln.
AKI Tag 4, Donnerstag
Vierter Tag, vierter Kontrollpunkt. Ich seufzte in mich hinein. Wir könnten viel schneller sein, aber Luca hatte ja entschieden bei den Mädchen zu bleiben. Ohne ihn konnten wir jedoch nicht weitergehen, da wir sonst sicher durchfallen würden. Außerdem wäre es auch gemein für Sukira gewesen, wenn wir sie alleine lassen würden.
Bisher hatte die Ärmste sich jede Nacht das Zelt mit uns teilen müssen. Die Mädchen und Luca beachteten uns mittlerweile so gut wie gar nicht mehr, es sei denn, wir gingen zu schnell vor. Und wieder musste ich seufzen. So würde ich Nytra nicht beeindrucken können... Und das ärgerte mich.
„Was gibt’s da die ganze Zeit zu seufzen?“, grinste Bari mich an.
„Ach, nichts wichtiges. Die ganze Situation ist halt scheiße...“, antwortete ich genervt.
„Da hast du wohl recht“, stimmte er zu und lief neben mir her. „Und wenn wir einfach doch ohne Luca vorgehen?“
„Dann fallen wir durch. Das haben wir doch schon durchgesprochen. Wenn wir ohne ihn ankommen, kann er später sagen, dass er halt mit der Mädchengruppe zusammen bleiben wollte und wir das einfach nicht akzeptiert haben. Letztendlich würden wir als die Bösen dastehen.“
„Obwohl die uns in Wahrheit jede Nacht im Freien pennen lassen!“, wütend trat er in den Schnee.
„Das kriegt aber keiner mit. Haben die sich gut ausgedacht“, es war unfassbar frustrierend so machtlos zu sein. „Außerdem können wir Sukira nicht bei denen lassen. Die würde nachts alleine draußen erfrieren.“
„Das ist doch alles scheiße! Sobald wir wieder da sind, werde ich mich beschweren. So kann das ja wohl nicht laufen“, schnaubte Bari und ging dann wütend etwas schneller. Er musste sich wahrscheinlich etwas abreagieren, deshalb ließ ich ihn in Ruhe.
Stattdessen wartete ich ein bisschen, bis Sukira zu mir aufgeschlossen hatte.
„Hey, wie geht es dir so?“, fragte ich vorsichtig. Am Anfang hatte ich es echt schwer gefunden, mit ihr zu reden, doch mittlerweile ging es besser. Sie war einfach viel zu hübsch und irgendwie so fein... So mussten Prinzessinnen sein. Zuhause in meiner Stadt würde mich ein solches Mädchen keines Blickes würdigen.
„Ganz gut. Und dir?“, lächelte sie und ich merkte, wie ich unwillkürlich rot wurde.
„Mir auch. Also, äh, mir geht es auch gut“, lächelte ich etwas verkrampft. Mir war das alles so peinlich. Da war mir doch ein Mädchen wie Nytra lieber... die war selber laut und hatte kaum Manieren. Das war nicht so einschüchternd. Obwohl sie mich andererseits kaum wahrzunehmen schien... Und wieder seufzte ich.
„Klingt aber nicht so“, meinte Sukira mit einem schüchternen Lächeln.
Erschrocken schaute ich sie an. „Ähm, doch. Doch, doch. Alles gut. Ist nur die Situation mit den anderen. Das ist halt echt blöd.“ Gute Ausrede!
„Da hast du recht. Es tut mir auch leid für euch. Deswegen hängt ihr jetzt hier fest...“, murmelte sie niedergeschlagen.
„Das braucht doch dir nicht leid zu tun! Da sind nur die anderen dran Schuld. Du kannst genauso wenig dafür wie wir selbst.“
„Ja, aber wenn ich nicht wäre, dann könntet ihr drei wenigstens vorgehen. Aber ich bin nicht so schnell wie ihr und ihr wollt mich nicht alleine lassen... So ist es doch, oder? Ich habe euch letzte Nacht reden gehört...“, gab sie dann zu und klang, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
In meinem Kopf schlugen gleich hundert Alarmglocken gleichzeitig. Verzweifelt suchte ich nach einer Ausrede, stellte dann jedoch fest, dass die Wahrheit die Situation am ehesten retten würde. „Ja, wir haben darüber geredet. Aber wenn du uns gehört hast, dann weißt du doch auch, dass keiner von uns dir die Schuld dafür gibt. Wir machen uns Sorgen um dich und wollen dein Leben nicht riskieren, nur weil die anderen sich benehmen wie die letzten Arschlöcher!“, brach es aus mir heraus.
Einen Moment schaute sie mich stumm an. Dann lächelte sie breit und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. „Danke“, sagte sie nur noch.
Ich blieb wie angewurzelt stehen, während sie weiter ging. 'Danke', hallte dieses eine kleine Wort in meinen Gedanken nach und ich fühlte ein unglaubliches Glücksgefühl.
Am Abend saß ich bei der ersten Wache am Feuer, für das die anderen uns jetzt wenigstens genug Holz überließen, als die Tür der Kontrollpunkthütte aufschwang und Luca ans Feuer trat.
„Was willst du?“, ich schaute ihn herausfordernd an. „Uns das Holz doch wieder wegnehmen?“
Er schüttelte den Kopf. „Nee. Ich hab die Nase voll von den Weibern da drinnen. Morgen gehen wir ohne die weiter“, verkündete er dann und setzte sich auf die andere Seite des Feuers.
„'Wir'? Du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass wir mit dir noch irgendwo hingehen! Wenn es nach dir gegangen wäre, wären wir hier draußen erfroren. Außerdem werden wir Sukira nicht mit denen alleine lassen!“, hielt ich wütend dagegen. Der hatte sie ja wohl nicht mehr alle.
„Dann soll sie halt mitkommen. Wenn sie mithalten kann“, entgegnete er stumpf.
„Was ist da drinnen passiert, hm? Woher der plötzliche Sinneswandel?“, fragte ich misstrauisch. Das schien doch alles sehr seltsam. Er war viel zu ruhig und viel zu wenig herablassend. Vor allem Sukira gegenüber. Hatten die Mädchen ihn beleidigt oder warum wollte er jetzt doch weg von denen?
„Geht dich 'nen Scheißdreck an“, zischte er mir zu. „Wollt ihr das Wintertraining bestehen oder nicht?“
Da traf er einen wunden Punkt. Wenn das so weiter ging, dann würden wir das Zeitlimit gerade so einhalten. Wenn noch etwas dazwischen kam, würden wir durchfallen.
„Wollen wir schon. Aber ich kann das nicht alleine entscheiden. Du wirst morgen die anderen fragen müssen“, erklärte ich. Ich hatte eigentlich überhaupt keinen Bock mit dem Arsch mitzugehen, aber er hatte schon recht, was die Zeit anging.
„Nicht morgen, jetzt. Weck sie auf“, verlangte er.
„Weck sie selber, Arschloch!“
Er schaute mich einen Moment genervt an, stand dann auf und ging zum Zelt herüber. „Aufwachen, ihr Schnarchnasen“, meinte er und rüttelte von außen am Zelt. Empörte Laute waren zu hören, dann machte Fan den Reißverschluss von innen auf.
„Was willst du denn?!“, fuhr er Luca an, als er ihn erkannte. Hinter ihm steckte Bari den Kopf durch die Öffnung. Sukira blieb im Inneren verborgen.
„Wir gehen morgen zu fünft weiter. Eure Freundin kann mitkommen. Das ist eure einzige Möglichkeit, das Training zu bestehen“, erklärte Luca kalt und wartete auf eine Antwort.
„Vergiss es, du Arschloch. Aki, was soll der Scheiß?“, meinte Bari jetzt verwirrt und schaute mich wütend an.
„Denk mal drüber nach. Ich hab genauso wenig Bock darauf, mich mit ihm zusammenzuschließen, aber andererseits wollten wir in den dritten Jahrgang. Wir können uns das nicht leisten, durchzufallen“, erklärte ich genervt.
Fan schien einen Moment zu überlegen und nickte dann. „Da hast du auch wieder recht.“ Er seufzte, ihm schien die Entscheidung auch schwerzufallen. „Aber Sukira kommt mit.“
„Wenn sie mithalten kann“, schränkte Luca ein.
„Nein. Sie kommt mit, ohne wenn und aber“, protestierte ich fest. Meine Freunde nickten.
Jetzt war Luca dran mit seufzen. „Gut. Sie kommt mit. Aber wir gehen trotzdem so schnell wie sie kann.“
Dann ging er zurück in die Hütte und holte seine Sachen.
„Vergiss es. Du pennst nicht im Zelt. Kannst dich hier ans Feuer legen“, warnte ich ihn gleich vor. Er warf mir einen genervten, fragenden Blick zu. „Sukira ist da drinnen. Wir vertrauen dir nicht. Also kommst du auch nicht ins Zelt“, erklärte ich knapp.
„Aber deinen beiden Kumpels vertraust du“, grinste er abfällig.
„Mit meinem Leben“, antwortete ich ernst. Damit war die Sache für mich erledigt. Ich hatte keinen Bock mit dem zu reden. Sollte er versuchen, ins Zelt zu kommen, würden wir ihn aufhalten, das war alles, was wir beide voneinander wissen mussten. Zu meiner Erleichterung packte er ohne ein weiteres Wort seinen Schlafsack aus und legte sich in sicherem Abstand zum Feuer hin.
ZORA Tag 7, Sonntag, 13.12.
Vorsichtig tippte ich Arisa im Schlafsack neben mir an, um zu sehen, ob sie schon wach war. Leise und vorsichtig öffnete sie den Reißverschluss und drückte meine Hand, als Zeichen, dass sie verstanden hatte. Ich stand vorsichtig aus der Hocke auf und ging zum Eingang des Zeltes. Nytra, die draußen am Feuer gesessen hatte, grinste und kam dann zu mir herüber. Als wir alle im Zelt waren, stellten wir uns um Tanyas Schlafsack herum auf und ich zählte leise von drei herunter.
„Alles Gute zum 14. Geburtstag!“, riefen wir alle laut, woraufhin Tanya erschrocken die Augen aufriss und uns anstarrte, als hätten wir den Verstand verloren. Nachdem sie verstanden hatte, was vor sich ging und wir uns vom Lachen erholt hatten, lächelte sie uns mit roten Wangen an.
„Das habt ihr euch gemerkt?“, fragte sie und strich sich verlegen die Haare aus dem Gesicht.
„Klar, haben wir uns das gemerkt! Wir sind doch Freundinnen!“, grinste ich selbstverständlich zurück. Arisa neben mir nickte fröhlich und auch Nytra nickte einmal mit einem kleinen Lächeln.
„Danke, Leute. Echt“, Tanya sah so aus, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde, was absolut untypisch für sie war. Naja, am Geburtstag nicht Zuhause zu sein, konnte wohl selbst bei ihr für Heimweh sorgen...
„So, als Geburtstagskind brauchst du dich heute um nichts zu kümmern, wir machen jetzt Frühstück, du kannst einfach rauskommen, wenn du fertig bist“, beeilte ich mich zu sagen und scheuchte daraufhin die anderen beiden vor mir aus dem Zelt.
„'Wir machen Frühstück'?“, zitierte Nytra mit hochgezogener Augenbraue. „Du meinst wohl eher, wir brechen 'ne neue Packung der Rationen an...“
Sie kramte eines der flachen quadratischen Pakete, das etwa so lang wie mein Unterarm war, aus ihrem Rucksack und riss es an der vorgesehenen Stelle auf. Darin befand sich etwas, das so ähnlich aussah wie Brot, nur dass es sehr trocken war und schnell satt machte. Ich hatte so etwas vor dem Training noch nie gesehen und war noch immer fasziniert.
„Frühstück ist Frühstück“, erklärte Arisa und brach sich ein Stück ab.
Nytra reichte auch mir ein Stück herüber, ich setzte mich zu den beiden und wartete auf Tanya, die nach wenigen Minuten schließlich aus dem Zelt kam. Als jeder etwas hatte, aßen wir schnell, da wir heute natürlich auch wieder eine gewisse Strecke zurücklegen mussten.
Das Brotgemisch der Rationen hatte einen angenehmen leicht süßlichen Geschmack und ich muss zugeben, ich hätte gerne mehr gegessen als mir zustand. Aber das war Appetit, kein Hunger, deshalb hielt ich mich zurück. Wir mussten schließlich etwas aufsparen, falls wir doch mehr als zehn Tage brauchten. Und so blieb auch heute ein kleines Stück übrig, das wir zu den anderen in die Verpackung der ersten Ration zurücklegten.
„So, wie weit müssen wir heute?“, fragte Nytra dann, nachdem wir alles wieder eingepackt hatten und abmarschbereit waren.
„Wir können versuchen wieder zwei Punkte zu schaffen, wenn ihr euch das zutraut“, erklärte Arisa und deutete auf die Karte. Ich hatte zwar keine Ahnung, wo wir auf dieser Karte waren, aber auch ich erkannte, dass die zwei Punkte, auf die sie gezeigt hatte, nicht sooo weit auseinander zu liegen schienen. Also nickte ich und tat so, als hätte ich verstanden.
„Also ich hätte Lust drauf“, erklärte Tanya und schaute dann zu Nytra herüber.
„Wenn du's schaffst, schaff ich's auch“, grinste die zurück. „Glaub nicht, du kannst mich abhängen, nur weil du jetzt ein Jahr älter bist.“ Die Provokationen zwischen den beiden waren nach und nach weniger aggressiv geworden und waren heute eher eine positive Rivalität, die beiden gut tat.
„Da hast du die Antwort. Also, los geht's“, verkündete ich lächelnd und klopfte Arisa auf die Schulter, während ich los stapfte.
„Ähm... Zora? Falsche Richtung“, rief sie mir dann hinterher und nach einem kurzen Lachanfall konnten wir dann endlich wirklich aufbrechen.
Am Abend erreichten wir unseren zweiten Punkt des Tages, der insgesamt schon unser neunter war. Obwohl wir alle furchtbar müde waren und der Weg heute doch etwas anstrengender war, als wir gedacht hatten, war die Stimmung doch gut.
Ich sammelte unser Plättchen ein, während Arisa unsere Flaschen auffüllte und Tanya und Nytra schon in die Hütte gingen. Kurz darauf war Nytras lautes Lachen zu hören, in das sich vertraute männliche Stimmen mischten. Sofort schlug mein Herz schneller. Das hatte nach Keiros Zimmer geklungen.
Mit Mühe beherrschte ich mich und ging ruhig zur Hütte herüber. Und ja, darin saßen die Jungs am Feuer und hatten seltsamerweise auch schon Schlafsäcke in der Hütte ausgebreitet. Das irritierte mich dann schon ein bisschen, schließlich war es meines Wissens nach nicht vorgesehen, dass die Zweitklässler auch hier draußen schliefen.
„Hey, Leute“, grinste ich zur Begrüßung und deutete dann auf die Schlafsäcke. „Was soll das denn werden?“
„Hey, Zora“, antwortete Keiro zuerst auf meine Begrüßung und für einen Moment nahm ich nichts anderes wahr als sein Lächeln.
„Wir pennen heute hier, wonach sieht's denn aus“, antwortete Jiro dann auf meine Frage und lehnte sich entspannt zurück.
„Und wer hat das erlaubt?“, fragte Tanya etwas skeptisch. Auch wenn ich sicher war, dass sie sich innerlich sehr freute, dass Naro auch da war.
„Wir würden es jetzt nicht mehr rechtzeitig zur Akademie zurück schaffen, bevor das Tor zu ist. In solchen Fällen ist es auch den Zweitklässlern erlaubt, hier draußen zu übernachten. Deswegen haben wir ja auch unsere Schlafsäcke mit“, erklärte Naro und lächelte wie immer.
„Was ist denn hier los?“, platzte auf einmal Arisa herein und schaute sich verwundert um.
„Hey, Arisa, hör dir das an! Die Jungs schlafen heute auch hier“, fasste Nytra die Situation fröhlich zusammen.
Arisa schien nicht ganz so glücklich darüber zu sein. Seit ihrem Streit mit Zeo hatte sie sich auch von den anderen Jungs ein bisschen zurückgezogen, da man die fünf meistens nur zusammen antraf. Da heute jedoch so gut wie keine Chance bestand, dass Zeo auch noch hier auftauchen würde, war das eigentlich die perfekte Gelegenheit für sie, doch wieder mit ihnen zu reden.
Ich stupste ihr leicht in die Seite und sagte leise: „Hey, jetzt mach doch nicht so ein Gesicht. Es sind nur die vier, die sind doch in Ordnung. Und dann noch passend zu Tanyas Geburtstag.“ Ich zwinkerte ihr verschwörerisch zu und sie musste dann doch lächeln.
Unglücklicherweise war ich allerdings wohl doch zu laut gewesen, da Gawen auf einmal grinsend nachfragte: „Tanyas Geburtstag? Warum wissen wir denn davon gar nichts?“
„Was? Tanya hat Geburtstag?!“, wiederholte Jiro überrascht.
„Na, dann herzlichen Glückwunsch“, gratulierte Naro souverän und hielt ihr die Hand hin. Eindeutig verlegen und knallrot ergriff Tanya seine Hand vorsichtig, nur um dann in eine feste Umarmung gerissen zu werden. „Dann hat es ja doch etwas Gutes, dass wir heute Nacht hier draußen festsitzen“, grinste er dann.
„Ja... danke für die Glückwünsche“, murmelte Tanya leise, als er sie endlich losgelassen hatte. Ich muss zugeben, dass ich in dem Moment ein wenig neidisch war, doch nachdem die anderen Jungs ihr auch jeder auf seine Weise gratuliert hatten und alle unsere Sachen ausgepackt hatten, machten wir es uns am Feuer gemütlich. Und da kam dann Keiro auch wieder zu mir herüber und ich kuschelte mich dankbar an ihn.
Nytra grinste mir zwar wissend zu, doch das war mir egal. Ich war froh über seine Nähe und egal, was sie sich einbildete, er hatte mich damals in der Tür doch nur auf die Wange geküsst. Ich hätte zwar gegen etwas mehr nichts einzuwenden gehabt, hatte mich aber auch nicht getraut, selbst die Initiative zu ergreifen. Ich mochte ihn einfach echt gerne, da wollte ich ihn nicht verlieren, indem ich zu schnell war...
Die Jungs berichteten uns ein bisschen davon, wie das Wintertraining bis jetzt bei ihnen gelaufen war, aber das war langweilig. Die meiste Zeit mussten sie echt nur Feuerholz zu irgendwelchen Hütten bringen. Die Zimmer, die sie beobachtet hatten, waren alle nicht zu weit vom Weg abgekommen, sodass es darüber auch nichts zu erzählen gab.
„Wisst ihr denn was von den anderen Zimmern? Habt ihr schon irgendwen getroffen?“, hakte Nytra dann wieder nach. Sie machte sich wahrscheinlich immer noch Sorgen um Sukira... Das war irgendwie süß, weil es so gar nicht zu ihr passte. 'Vielleicht... vielleicht hatte sie sich deshalb nie für die Jungs interessiert...', dachte ich plötzlich. Vielleicht empfand sie ja für Sukira mehr als Freundschaft?
Die Jungs warfen sich besorgte Blicke zu, was mich etwas verunsicherte. Gawens Blick zuckte kurz zu Naro, der fast unmerklich den Kopf schüttelte.
„Also wir haben einige Zimmer getroffen. Das Zimmer von Dorina, Annika, Inaga und dieser Sala, zum Beispiel. Denen ging es ganz gut, auch wenn die ungewöhnlich langsam unterwegs waren“, grinste Jiro dann, als wollte er ablenken.
„Die haben wir vor ein paar Tagen auch noch gesehen... Und sonst?“, fragte Arisa nach, damit Nytra nicht noch einmal nachfragen musste.
„Zeos Zimmer kam ganz zügig voran, die müssten bald wieder zurück sein“, antwortete Gawen, ohne nachzudenken. Sofort verzog Arisa das Gesicht und wirkte wieder wütend. Naro boxte seinem Freund leicht in die Seite, als er das bemerkte und erst jetzt bemerkte Gawen seinen Fehler. „Oh... äh... tut mir leid, Arisa... Ähm... Das Zimmer von Klaris haben wir aber auch getroffen. Also denen ging es auch gut“, meinte er dann mit einem Blick auf mich und versuchte scheinbar das Thema zu wechseln.
„Aber Sukira habt ihr nicht gesehen, oder?“, hakte ich jetzt nochmal nach. Ihre Blicke am Anfang waren mir komisch vorgekommen und allem Anschein nach waren sie nicht auf die Situation mit Arisa und Zeo bezogen gewesen.
Einen Moment herrschte Stille, ehe Naro den Kopf schüttelte und sagte: „Nein, haben wir leider nicht.“ Er klang zwar ernst, doch ich hatte trotzdem das Gefühl, dass er log.
„Ach, sie macht das bestimmt ganz gut“, sagte Keiro tröstlich und drückte mich kurz und unauffällig, als wollte er mir versichern, dass alles in Ordnung sei.
„Ja, bestimmt“, stimmte auch Tanya zu.