ARISA
Vor dem Fenster jagte der Wind die Wolken über den Himmel. Es war immer noch kalt, doch die Natur hatte dem Winter den Kampf angesagt und langsam aber sicher eroberte sich das lebendige Grün seinen Platz in der Welt zurück. In der Welt Narega, über die wir heute zum ersten Mal etwas richtiges lernen würden, das weit über das bisschen hinaus ging, das wir vorher schon mal irgendwo gehört hatten.
Unsere Welt hieß 'Narega', was in der antiken Sprache, die vor etwa 4000 Jahren gesprochen worden war, 'Welt der Nare' bedeutete. Unsere heutige Sprache hatte sich vermutlich aus dieser entwickelt, doch einige Bedeutungen waren über die Jahrtausende hinweg verloren gegangen. Es gab heute nur noch eine Sprache auf ganz Narega, oder zumindest in dem Teil der Welt, über den die Akademie Daten hatte.
Die Akademie selbst, obwohl erst 1502 offiziell gegründet, spielte nämlich eine große Rolle dabei, überhaupt Informationen über die Vergangenheit zu beschaffen. Seit die Zeit des Friedens, also unserer heutige Zeitrechnung vor 1516 Jahren begonnen hatte, gab es schließlich keine zentralen Organisationen mehr.
Vor der Zeit des Friedens war es nämlich so gewesen, dass sich die Nare jahrtausendelang gegenseitig bekriegt hatten. Zunächst in kleinen Verbänden von Dörfern oder Städten, später in sogenannten 'Staaten', die von einer zentralen Organisation, der 'Regierung', geführt wurden. Diese 'Staaten' waren die Heimat von vielen Millionen Nare gewesen, die in den Kriegen ausgelöscht wurden, nur weil ihre 'Regierung' beschlossen hatte, dass sie mit einem anderen 'Staat' Krieg führen sollten. Aus welchen Gründen das auch immer gewesen sein mochte.
Diese Kriege, deren Ausmaß immer größer wurde, führten schließlich dazu, dass nur noch wenige Nare übrig blieben. Dazu kamen noch die Umweltschäden durch die immer vernichtenderen Waffen, die dafür sorgten, dass die Lebenserwartung der damaligen Nare bis auf 50 Jahre absank. Unsere heutige Lebenserwartung betrug schon wieder 100 Jahre.
In dieser Zeit des Grauens, schlossen sich die Überlebenden zusammen und bestimmten neue Regeln, damit sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen würde. Zentrale Organisationen sollte es nie wieder geben, damit nie wieder so viele Nare in einen Konflikt verwickelt würden. Es wurde bestimmt, dass man von nun an wieder in kleineren Gruppen zusammenleben sollte. Und dass jede dieser Gruppen sich aus den Angelegenheiten anderer heraushalten sollte. Zusätzlich vernichtete man sicherheitshalber das Wissen über die Herstellung der Waffen der antiken Nare, die für einen Großteil der Zerstörung verantwortlich waren.
Aus diesen Regeln war unsere heutige Welt erwachsen, in der es die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Städten gab. Man wusste nicht viel von der Welt außerhalb seines Dorfes oder seiner Stadt und die meisten lebten und starben ohne je einen Fuß außerhalb der eigenen Grenzen zu setzen. Die Art der Verwaltung, sowie das Aufstellen von Regeln waren jeder Stadt selbst überlassen. So kam es, dass in einigen Städten akkurat festgehalten wurde, wer in ihr lebte und es in anderen nicht mal eine Schule gab.
Darum war es auch schwierig überhaupt an Informationen zu kommen. Es gab keine zentrale Stelle, die welche sammelte und genau diese Wissenslücke wollte die Akademie ausfüllen. Zu unserer Zeit war es zwar zum Glück noch so, dass beinahe jedes Kind mit den erschreckenden Geschichten über die Zeit des Krieges und dem Wunsch nach Frieden aufwuchs, aber wenn der Schrecken einmal verloren ginge, würde uns nichts mehr davon abhalten, die Vergangenheit zu wiederholen.
'Wenn wir die Vergangenheit vergessen, wird sie zu unserer Zukunft', diesen Spruch hatte Lumina schon immer wiederholt, wenn sie Zeo und mir von der Vergangenheit erzählt hatte. Er fiel mir jetzt wieder ein, als ich Risa zuhörte, die uns von all diesen Dingen berichtete.
Die Akademie selbst, hatte jetzt noch eine Aufgabe dazubekommen, von der ich vorher nichts gewusst hatte. Ihr erstes Ziel, das natürlich offensichtlich war, war die Verbreitung von Wissen durch die Möglichkeit, dass hier jeder Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Das zweite, für mich bisher nicht so offensichtliche, war das Erlernen von grundlegenden Fähigkeiten, wie Kochen, Nähen und Pflanzenkunde, sowie das Zusammenleben in einer festen Gruppe. Deshalb waren wir im Schülergebäude praktisch auf uns allein gestellt, damit wir lernten, vernünftig miteinander umzugehen. Wer das nicht konnte, wurde der Akademie verwiesen.
Das dritte Ziel, dass die Akademie verfolgte, die Informationsbeschaffung, brachte jetzt auch einen neuen Aspekt in die Aufgaben der bereits bekannten Späher. Sie wanderten durch das Gebiet der Akademie und unterhielten sich mit den Bewohnern der Städte, um einerseits neue Schüler, aber andererseits auch neue Informationen zu finden. Außerdem suchten sie auch immer nach Überbleibseln der alten Zeit vor den Kriegen, die vielleicht neue Informationen über die damalige Zeit bringen könnten.
Diese Aufgabe und Motivation war keine Erfindung der Akademie, sondern ging auf den Grundgedanken einer Gruppe zurück, der Waro Granik, Gründer und Leiter der Akademie, angehört hatte. Nachdem die Gruppe sich jedoch aus persönlichen Gründen aufgelöst hatte, gründete Waro die Akademie, um den Gedanken trotzdem fortzuführen.
Zu diesem Zweck gab es die Haupteinrichtung, sowie mittlerweile 10 Zweigstellen in weiter entfernten Gebieten. Schließlich mussten die meisten Schüler zu Fuß gehen und wenn sie dafür länger als 3 Wochen brauchten, lohnte es sich für sie nicht, die großen Ferien zu haben. Und diese waren sowohl eine verdiente Abwechslung für die Schüler, als auch eine notwendige Maßnahme zur Erntezeit.
Ein Unterschied zwischen der Haupteinrichtung und den Zweigstellen bestand in der Anzahl der Schüler. In unserer Haupteinrichtung waren es 196 in drei Jahrgängen, in den Zweigstellen nur 80 Schüler in nur zwei Jahrgängen. Der zweite Unterschied war, dass es nur in der Haupteinrichtung einen dritten Jahrgang gab, dafür gab es die weiteren Ausbildungen als Späher oder Lehrer oder in verschiedenen Handwerken nur in den Zweigstellen.
Das Gebiet der Akademie und ihrer Zweigstellen umfasste zu diesem Zeitpunkt bereits etwa 100.000 Quadratkilometer. Auf diesem Gebiet lebten vermutlich etwa 400.000 Nare, genau konnte man das ja nicht feststellen. Aber das war auf jeden Fall eine unvorstellbar große Zahl, vor allem, wenn man bedachte, dass vor 1516 Jahren nur noch 200.000 Nare überhaupt überlebt hatten.
Die Umwelt hatte sich in den letzten 1500 Jahren größtenteils wieder erholt, zumindest soweit das in unserem Gebiet erkennbar war. Es gab zwar noch Orte, wie unser Tal zum Beispiel, an denen man die unvorstellbare Zerstörungskraft der antiken Waffen ablesen konnte, aber man wusste von keinen Auswirkungen auf die Gesundheit.
Es war das erste Mal, dass ich hörte, dass unser Tal etwas mit den antiken Kriegen zu tun hatte. Risa zog es als aktuelles Beispiel, da ja Zeo und ich beide dorther kamen, heran, um die ganze Sache zu verdeutlichen. So gab es neben dem Tal noch vier andere 'Krater', wie die Akademie sie nannte, auf dem uns bekannten Gebiet.
Diese 'Krater' waren riesige, unnatürliche, kreisförmige Vertiefungen, die vor der Zeit des Friedens durch den Einschlag unglaublich schwerer, großer Dinge entstanden sein mussten. In etwa so, wie wenn man einen Ball auf aufgeweichten Boden fallen ließ, nur in sehr, sehr viel größeren Maßen.
Ich dachte an das Tal und daran, wie riesig das was auch immer gewesen sein musste, dass ein so großes Loch in den Boden gerissen hatte... Es war faszinierend, so etwas über sein Zuhause zu erfahren, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich alles richtig verstand.
Risa erzählte und erklärte noch ein paar andere Sachen, aber nichts davon machte mehr so einen Eindruck auf mich, wie diese Geschichte über mein eigenes Zuhause. Das würde ich unbedingt Lumina erzählen müssen, wenn ich nach Hause kam.
Dieser Gedanke brachte mich wiederum darauf, dass ich immer noch nicht mit Zeo darüber gesprochen hatte, dass ich ihn in den Ferien wieder dorthin zurück bringen wollte. Ich schaute zu ihm herüber und sah genervt, dass er mal wieder eingeschlafen war. Typisch für diesen Idioten, da hatten wir schon die Möglichkeit wirklich was zu lernen und er schlief. Na ja, ich passte jetzt gerade auch nicht mehr wirklich auf, deshalb musste ich ihm das ausnahmsweise nachsehen.
„Also der Anfang war ja echt interessant, aber jetzt zieht es sich langsam“, murmelte da Nytra von links und legte den Kopf auf den Tisch, ihre übliche Unterrichtshaltung.
„Ein bisschen“, stimmte ich leise und vorsichtig zu. Ich wollte nicht, dass Risa auf uns aufmerksam wurde, denn dann würde es Ärger geben oder sie würde mit irgendwas nach uns werfen...
„Psssst“, machte Sukira da vorsichtig hinter Akis Rücken her und schaute uns nervös an. „Ihr wollt doch nicht, dass sie-“
„Dass ich was?“, schnitt da Risas scharf gewordene Stimme durch den Raum. Sukira quiekte erschreckt auf, während Nytra und ich schnell die Köpfe wieder nach vorne wandten. Nur Zeo, der Blödmann schlief weiter, als sei nichts gewesen.
„Ähhh... dass sie... ihren Unterricht unterbrechen müssen, nur weil wir versuchen, Zeo aufzuwecken...“, stammelte Nytra sich eine Ausrede zusammen und schaute unsicher, ob Risa mit dieser einverstanden war.
Diese verengte die Augen und lächelte uns dann zuckersüß falsch an. „Wie lieb von euch, dass ihr euch solche Sorgen um meinen Unterricht macht.“ Blitzschnell verschwand das falsche Lächeln und ihr eiskalter Blick, den sie vor allem Zeo gegenüber oft rausholte, kam zum Vorschein. „Ich bin aber durchaus selbst dazu in der Lage, mich um undankbare, lernfaule Schüler zu kümmern“, erklärte sie drohend und klappte ihr, doch etwas dickes Buch zu, an dem sie sich orientiert hatte. Ohne Vorwarnung sauste dieses auf Zeos Kopf hinab.
„Aua!“, mit einem empörten, aber nicht wirklich verletzten Laut, sprangen seine Augen auf und er schaute sich suchend und ein wenig wütend um. Als er Risas Blick begegnete, zuckte er ertappt zusammen und sein wütender Gesichtsausdruck wurde zu einem verlegenen Lächeln. „Ach, Risa... Ist schon Schluss?“, fragte er hoffnungsvoll.
„Noch lange nicht!“, gab Risa genervt zurück. „Ich erwarte, dass du von jetzt an zuhörst, sonst gebe ich dir einen Test über diese Stunde. Du weißt, dass du dieses Jahr bestehen musst“, drohte sie ausnahmsweise mit seinen Noten. Das machte sie nicht oft, eigentlich nur, wenn wir wirklich etwas wichtiges lernten.
„Alles klar, kapiert!“, gab er betont eifrig zurück und atmete hörbar auf, als sie sich umdrehte und wieder vorne an die Tafel ging.
„Geschieht dir recht!“, zischte ich ihm zu. Er war wirklich ein Schwachkopf! Ich wollte nicht, dass er dieses Jahr wieder durchfiel, denn dann würde er die Akademie verlassen müssen und ich würde ihn wieder verlieren. Außerdem konnte ich ihn dann nicht zu Lumina bringen, da er ja dann gar keine Ferien hätte, sondern bestimmt wieder einfach verschwinden würde.
„Tut mir leid, ich musste Arisa, Sukira und mich retten“, erklärte Nytra flüsternd. Wir achteten jetzt darauf, während des Flüsterns trotzdem nach vorne zu sehen, damit nicht wieder etwas passierte.
„Mach das das nächste Mal auf Kosten von wem anders!“, motzte Zeo leise zurück. „Es ist verdammt langweilig, sich den Mist zwei Mal anhören zu müssen... Hat sie schon von den Kratern erzählt?“
„Ja, sag bloß, das wusstest du schon?“, flüsterte ich überrascht.
„Klar, die erzählen jedes Jahr ungefähr das gleiche“, erklärte er.
„Wenn du dir die Sachen nicht zweimal anhören willst, hättest du nicht sitzen bleiben sollen!“, warf jetzt Aki von seiner anderen Seite aus ein. „Und wir sollten jetzt leise sein, sonst sitzen wir nächstes Jahr wieder hier!“
Die Warnung war zwar etwas übertrieben, zog aber. Also strengten wir uns an, den Rest des Unterrichts zuzuhören.
Risa erzählte noch etwas über verschiedene Städte in Reichweite der Akademie und wie sie sich unterschieden, aber das interessierte mich nicht wirklich. Ich würde ja keine davon jemals zu Gesicht bekommen, darum musste ich das auch nicht wissen. Und in einem Test würde so etwas nur als Strafe dran kommen... Die einzigen bei denen ich wirklich zuhörte, waren die Heimatstädte von Zora und Tanya, da ich die Namen erkannte.
Was ich noch interessant fand, war das Meer. Risa erklärte, dass es so etwas wie ein großer See war, nur sehr viel größer und mit Wasser, das salzig schmeckte und das man nicht trinken konnte. Das klang unvorstellbar. Ich meine, salziges Wasser konnte ich mir ja noch vorstellen, aber einen See, der soweit reichte, wie ich sehen konnte? So etwas konnte ich mir nicht vorstellen. Das hätte ich gerne mal in Wirklichkeit gesehen. Ich erinnerte mich daran, dass Sukira aus einer Stadt am Meer kam und beschloss, sie danach zu fragen.
Risa beendete die Stunde mit einem Hinweis darauf, dass wir heute Abend 'fallende Sterne' sehen könnten und sich darum alle Klassen um 21:30 noch einmal auf dem Schulhof treffen würden.
„'Fallende Sterne'? Was soll das denn sein?“, fragte Nytra skeptisch.
„Keine Ahnung.“ Ich zuckte die Schultern und schaute die anderen an, ob einer vielleicht eine Erklärung hatte.
„Na, Sternschnuppen“, grinste Zeo. „Hier nennen sie die scheinbar fallende Sterne. Passt ja auch irgendwie.“
„Achso!“ Sternschnuppen hatte ich schon öfter mit Lumina zusammen gesehen und bestimmt auch mal mit Zeo, auch wenn ich mich daran nicht wirklich erinnerte. Die Möglichkeit, welche zu sehen, gab es jedes Jahr ein paar Mal, aber ich hatte ganz vergessen, dass es schon wieder eine der Zeiten war.
„Kann mir das einer erklären?“, fragte Nytra etwas genervt.
„Siehst du heute Abend schon, ist etwas wirklich schönes, aber man muss es gesehen haben, um es verstehen zu können“, erklärte ich notdürftig. 'Fallende Sterne' klang mit ja etwas zu bedrohlich für etwas so schönes und ich wollte nicht, dass sie womöglich Angst davor bekam. Obwohl es wahrscheinlich, abgesehen von anderen Nare, nicht vieles gab, vor dem Nytra sich fürchtete. Das war mir erst jetzt so wirklich klar geworden, Nytra hatte einfach große Angst vor anderen, das erklärte auch ihre Nervosität beim Training und ihre unsicheren Momente.
„Hallo? Arisa?“ Sie wedelte mit einer Hand vor meinen Augen herum. „Alles in Ordnung da drinnen?“ Besorgt zog sie eine Augenbraue hoch, doch ich schaute sie nur stumm an. Dass mir dieser Gedanke erst jetzt gekommen war... Na ja, vor mir schien sie allerdings keine Angst zu haben, deswegen grinste ich sie schließlich an.
Ich hakte mich bei ihr ein und verkündete: „Alles bestens, komm, lass uns essen gehen.“
Sie schaute mich zwar einen Moment irritiert an, schüttelte dann lachend den Kopf, als habe sie es aufgegeben, sich über mich zu wundern und schritt dann mit mir aus dem Klassenraum.
„Aber teilweise war das ja echt interessant, was Risa da alles erzählt hat“, gab sie auf dem Weg zum Schülergebäude zu.
„Ich fand's eher einschläfernd“, maulte Zeo, der uns ungefragt gefolgt war.
„Nur teilweise? Ich fand alles interessant!“ Sukira schaute und etwas verwundert an. „Stellt euch das doch nur mal vor, all diese verschiedenen Orte und Leute und so viele unbekannte Dinge, ist das nicht faszinierend?“
„Jaaa, total faszinierend“, äffte Nytra sie grinsend nach. „Ich präsentiere Ihnen: Arisa und Zeo, ein paar echte Kraterbewohner!“, grinste sie dann und machte eine große, deutende Geste vor uns her.
„Lass den Blödsinn. Ist doch gar nichts besonderes. Du hast doch gehört, dass es noch mindestens vier weitere Krater alleine auf diesem Gebiet gibt. Da gibt es bestimmt auch Städte und Dörfer. Außerdem sieht es da heute genau so aus, wie überall sonst auch“, wandte ich ein bisschen genervt ein. Ich wollte auf keinen Fall die Aufmerksamkeit der anderen auf mich ziehen, schon gar nicht für so einen Quatsch.
„Na ja, ich finde, es ist schon etwas besonderes“, erklärte Sukira ernsthaft, etwas beleidigt wegen Nytras Albernheit. Wir erreichten den Speisesaal.
„Kann man zumindest immer mit angeben. 'Hey, ich kenne echte Kraterbewohner!'“, zog Nytra weiter alles ins Lächerliche.
„Zu blöd, dass keiner außerhalb der Akademie überhaupt weiß, was ein 'Krater' ist. Und selbst wenn du es erklärst, wird dir sowieso keiner glauben“, wandte jetzt Tanya ein, die schon vor uns drinnen gewesen war und gerade mit einem Tablett voll Essen an uns vorbei ging.
Nytra bedachte sie nur mit einem genervten Blick und streckte ihr hinter ihrem Rücken die Zunge raus. Momentan herrschte zwischen den beiden wieder eisiges Schweigen, da sie sich mal wieder wegen des Trainings oder sonst was in die Haare gekriegt hatten. Manchmal war es wirklich anstrengend mit den beiden zusammen zu leben... Ich seufzte leise.
„Mach dir nichts draus, ich find's schön, etwas mit dir gemeinsam zu haben“, grinste mich da auch noch Zeo an. Ohne hinzuschauen schlug ich ihm fest in die Seite.
„Wie schön für dich.“
Wir holten uns auch etwas zu essen und setzten uns dann an unsere üblichen Plätze. Da mir die anderen heute etwas auf den Geist gingen, wandte ich mich an Sukira, um sie nach dem Meer auszufragen.
„Das Meer? Ja, das konnte ich von meinem Zimmer aus sehen. Ich bin nie bis ganz da unten hin gekommen, weil meine Mutter uns verboten hat, das Haus zu verlassen, es sei denn es gab einen großen Anlass, aber... ich kann dir zumindest das erzählen, was ich weiß“, bot sie glücklich an.
Sie hatte sich seit Beginn des Schuljahres und besonders seit Neujahr wirklich verändert. Sie war viel weniger nervös und viel offener. Das freute mich, darum lächelte ich sie glücklich an. „Ja, dann erzähl mir doch bitte davon.“
Sie lächelte fröhlich zurück und überlegte dann einen Moment. „Also, das Meer. Risa hat ja schon gesagt, dass es wie ein großer Teich ist, aber der Vergleich ist noch viel zu klein. Wenn du von oben drauf guckst, was ich ja konnte, dann geht es wirklich soweit wie du gucken kannst. Stell dir vor, alles, was du sehen kannst, sind dunkelblaue Wellen. So sieht das Meer aus.
Morgens, wenn die Sonne aufgeht oder abends, wenn sie untergeht, dann ist es ganz besonders schön. Dann leuchtet es ganz rot und orange und gelb und die Wellen glitzern richtig“, erzählte sie begeistert. „Und am Meer geht immer der Wind. Wenn er direkt vom Meer kam, dann konnte ich es selbst oben an meinem Fenster riechen. Es riecht nach Salz und ein bisschen muffig, aber es ist ein sehr angenehmer Geruch. Wenn man lange genug draußen ist und im salzigen Wind herumläuft, kann man das Salz manchmal sogar auf den Lippen schmecken. Das hat zumindest mein großer Bruder mal erzählt, der durfte nämlich bis ans Meer runter gehen.“
„Das klingt wirklich schön. Aber den Geruch kann ich mir immer noch nicht wirklich vorstellen... Ich würde es irgendwann gerne selbst sehen“, gestand ich sehnsüchtig. 'Das Meer', das klang alles wirklich wunderbar.
„Weißt du, was ich gerne mal riechen würde? Eine richtige Blumenwiese. Hier um die Akademie herum gibt es ja nur Gras und Zuhause hatten wir nur einzelne Blumen, um die sich die Gärtner kümmerten. Aber ich möchte mal so eine richtige wilde Blumenwiese riechen“, gab Sukira jetzt zu.
„Dann musst du mich mal in den Ferien besuchen kommen! Blumenwiesen haben wir im Tal in Hülle und Fülle. Am schönsten sind sie, wenn der Sommer gerade erst anfängt, dafür werden wir wahrscheinlich etwas zu spät sein, aber sie sind trotzdem toll. Dann packen wir unsere Schlafsäcke und schlafen da oben und morgens sehen wir zu, wie die Sonne zwischen den Bergen aufgeht!“ Die Vorstellung erschien mir wunderschön und weckte ein bisschen das Heimweh, das ich bis jetzt gar nicht wirklich gehabt hatte. Die ersten Blumen würden demnächst anfangen zu blühen und dann würde Fiora schon Kränze und Armbänder und Ketten flechten, während ich noch hier war...
„Wenn ich könnte, dann wäre das bestimmt sehr schön gewesen“, lächelte Sukira dann ein bisschen traurig. „Aber es wird wohl nicht gehen...“ Sie schaute mich entschuldigend an und alle Freude schien vergessen.
„Wegen deiner Familie, hm?“, vermutete ich und schaute sie besorgt an. Dann kam mir eine Idee und ich grinste: „Macht nichts. Irgendwann bist du ja erwachsen und dann kannst du mich ja besuchen kommen. Dann dürfen dir deine Eltern gar nichts mehr vorschreiben!“
Sukira lächelte, aber das Lächeln erreichte ihre Augen nicht ganz. „Bestimmt.“
DIE LEITUNG
Die 'fallenden Sterne' betrachteten die Klassen vom Innenhof der Akademie aus, nach der einführenden Erklärung stand es jedem Schüler frei, zu gehen, wann er wollte. Spätestens zur Nachtruhe würden die Drittklässler die Versammlung auflösen, doch bis dahin sollte jeder die Chance haben, eine Sternschnuppe gesehen zu haben.
„Der 'Fluch der Kire', hm? Dass etwas so zerstörerisches so schön sein kann“, kommentierte Raiga das Vorbeiziehen eines besonders hellen Lichtes.
„Ob heute Nacht wieder welche einschlagen?“, fragte Amaya mit einem bösen Lächeln.
„Freust du dich etwa über den erneuten Untergang unserer Art?“ Raiga klang irritiert, doch der sarkastische Unterton blieb nicht unbemerkt.
„Das werden wir nicht zulassen, das wisst ihr“, mischte Waro sich jetzt ernst ein. Er fand die ganze Sache überhaupt nicht komisch. Er sorgte sich um seine Frau, Mera und den kleinen Merox, ihren Sohn. Vielleicht sollte er die beiden doch hierher an die Akademie holen...
„Klar, klar. Na, den Zehnten haben sie ja jetzt endlich gefangen. Bleibt nur noch der Rest der Drecksbande...“ Raiga schaute mit einem angriffslustigen Blick zum Himmel.
„Wir wissen immer noch nicht, wo der Dritte, der Siebte und der Achte sind“, gab Amaya zu bedenken.
„Der zehnte Stern ist der stärkste. Wenn wir ihn unter unsere Kontrolle bringen, haben wir einen großen Vorteil. Mit den anderen werden wir schon fertig.“ Graniks Stimme duldete keinen Widerspruch.
„Sicher. Dafür brauchen wir nur weiter gute Schüler, die auch kämpfen können. Wie sieht es mit dem nächsten dritten Jahrgang aus? Und was ist eigentlich aus unserer letzten freien Stelle geworden?“, wechselte Raiga schnell das Thema, ehe Waro wieder die Nerven verlor.
„Mit dem nächsten Dritten gibt’s keine Probleme. Wir haben genug Auswahl, auch wenn ein paar ablehnen sollten. Die freie Stelle im ersten ist allerdings interessant. Ich dachte, es wären drei?“ Amaya blickte gespannt zu den beiden Männern auf.
„Oh? Da sind deine Informationen aber ausnahmsweise mal ziemlich veraltet“, stichelte Raiga. „Zwei Stellen sind schon besetzt, uns fehlte zuletzt nur noch ein Mädchen.“
„Wir haben eine, mit großem Potential, nach deinem Geschmack, Raiga“, antwortete Waro ruhig. „Dann haben wir wieder 23 Mädchen, aus denen wir wählen können.“
„16 aus 23?! Mann, was ist das nur für ein Jahrgang“, lachte Amaya wild drauf los. „Vielleicht hättest du doch nicht gleich beide Kazu-Schwestern und Hiko in einen Jahrgang stecken sollen. Raigas Klasse scheint die einzige mit wirklichen Chancen zu sein!“
„Hiko ist zu weich und die beiden anderen zu jung. Kein Wunder, dass die Schüler nichts taugen.“ Raiga zuckte die Schultern.
„Das Problem ist, dass bei den Mädchen gleich drei Sechserzimmer durchgefallen sind. Nächstes Mal müssen wir mit der Verteilung besser aufpassen“, erklärte Waro.
„Oh, die übernehme ich!“, meldete Amaya sich freiwillig. „Das wird ein Spaß, dafür brauch ich dann nur die Unterlagen über die neuen Schüler!“ Sie lächelte ihr böses Lächeln.
„Die würdest du dir so oder so besorgen“, grinste Raiga wissend.
„Bei dir kann ich mich wenigstens auf ordentliche Arbeit verlassen.“
„Wem hattest du die denn dieses Jahr überlassen?“ Raiga überlegte selbst, konnte es aber nicht sicher sagen.
„Kayla, die sollte ja eigentlich wieder eine erste Klasse haben“, antwortete Waro.
Amaya verzog besorgt das Gesicht. „Kayla sollte so etwas aber besser hinbekommen... Ich werd' die nächste Verteilung mit ihr zusammen machen...“
„Da wird sie sich bestimmt freuen. Pass nur auf, dass sie nicht merkt, wie verzweifelt du bist“, stichelte Raiga wieder.
Amaya warf ihm einen beleidigten Blick zu und erklärte: „Das arme Mädchen wartet doch nur auf dich. Ich bitte dich ja schon seit Jahren, ihr endlich zu sagen, dass sie keine Chance hat...“
„Und ich hab es auch jedes Mal getan, wenn sie was wollte. Mehr kann ich auch nicht tun, oder soll ich nur wegen ihrer dummen Schwärmerei die Akademie verlassen?“ In einer gespielt verzweifelten Geste riss er die Arme hoch.
„Na, ich würde dich bestimmt nicht vermissen“, grinste Amaya ihn zuckersüß an.
„Vielleicht solltest du das wirklich tun“, überlegte Waro laut. Das Gezanke hatte ihn auf eine Idee gebracht, was die Sache mit dem Zehnten anging.
„Selbst der Leiter will dich loswerden“, lachte Amaya fies und ihr Lachen hallte durch die Nacht.
Die drei standen noch eine Weile auf dem Balkon der Leiterwohnung und schauten den Vorgängen am Himmel zu. Während Raiga und Amaya sich auf ihre sarkastisch bissige Art über alles mögliche ausließen, sorgte Waro sich um die Zukunft. Es waren wirklich wenige ordentliche Schüler in diesem ersten Jahrgang. Dazu kam noch die Sache mit dem zehnten Stern, die eine neue Gefahr bedeutete. All das würde auf der Versammlung im nächsten Monat geklärt werden müssen. Wenn er jedoch wirklich auf Raiga zählen könnte, wäre das zumindest ein guter Anfang.