INAGA Tag 8, Montag
„Och, nö... Müssen wir ausgerechnet in euch reinlaufen“, motzte ich genervt. Die anderen aus meiner Gruppe wirkten in etwa genauso begeistert wie ich. Wir näherten uns gerade unserem achten Kontrollpunkt, als wir erkannten, dass Rileys Zimmer schon vor uns dort angekommen war. Ausgerechnet dieser kleine, hochnäsige Idiot.
„Weißt du, Inaga, das seh ich ganz genauso. Gut für uns, dass wir gleich weiter können, sobald wir unsere Flaschen ein letztes Mal aufgefüllt haben“, rief Riley nicht weniger genervt als ich zurück.
„Was soll das heißen, 'ein letztes Mal'?“, fragte Sala verwundert.
„Na genau das, was er gesagt hat“, Vil verdrehte genervt die Augen. Er war mindestens genauso ein arrogantes kleines Aas wie Riley. Mann, war ich froh, dass sie die letzten waren, die ihre Flaschen noch füllen mussten.
„Die meinen, sie müssten damit angeben, dass das hier ihr letzter Kontrollpunkt war. Die müssen jetzt nur noch zur Akademie zurück“, erklärte Dorina und klang auch etwas genervt. Annika beschränkte sich darauf, die Jungs böse anzublicken, während sie unseren Marker holen ging.
„Na dann, euch Lahmärschen noch eine gute Reise. Zwei Tage habt ihr noch, aber ich glaube, das schafft ihr nicht mehr. Naja, kommen halt nur die Besten in den Dritten Jahrgang, so wie wir“, rief Riley uns noch zu, als sie sich endlich verzogen.
Ich wartete, bis sie außer Sicht- und Hörweite waren, ehe ich meiner Wut freien Lauf ließ. „Diese Vollidioten! Als ob es ihnen irgendwas bringt, auf uns herum zu hacken. Wir sind gar keine Konkurrenz für die, weil wir unsere eigenen Plätze erkämpfen müssen!“ Ich seufzte kurz. „Wir sollten einander unterstützen, darum geht es doch. Das ist doch auch der Sinn des Dritten Jahrgangs, oder nicht? Er soll eine geschlossene Einheit darstellen. Das kann mit solchen Leuten aber nie funktionieren...“
„Da hast du wohl recht“, stimmte Annika mir zu und hielt mir den Marker hin. „Wenigstens haben sie so viel Anstand, dass sie nicht an unserem Marker herum gepfuscht haben.“
„Die sind zu ehrgeizig, um sich für so einen Mist disqualifizieren zu lassen“, meinte Dorina kopfschüttelnd.
„Wir können uns noch so sehr darüber ärgern, wie blöd die gerade waren, aber ich denke, das beste, was wir jetzt tun können, ist einen Zahn zuzulegen und ihnen zu beweisen, dass wir es doch rechtzeitig schaffen...“, meinte Sala dann überraschenderweise.
Wobei, so überraschend war das gar nicht. Die war genauso krampfhaft ehrgeizig wie die Jungs... Ich seufzte nochmal. Wo sollte das nur hinführen? Ein Dritter Jahrgang, in dem die Hälfte der Schüler sich am liebsten gegenseitig umbringen würde?
„Da hast du recht“, ich verkniff mir das 'ausnahmsweise', es hätte nicht zu meiner offiziellen Rolle gepasst. „Also los, lasst uns die Flaschen auffüllen, Essen können wir gleich im Laufen“, wies ich an und wir machten uns bereit.
Auf dem Weg zum nächsten Punkt schaute ich mir nochmal die Karte an. Letztes Jahr wäre es unmöglich gewesen, dass eine Gruppe schon nach acht Tagen an allen Punkten gewesen war. Als ich den Weg mit den Augen nachfuhr, kam ich zu dem Schluss, dass die Gesamtstrecke dieses Jahr ein ganzes Stück kürzer war.
War unser Jahrgang etwa wirklich so schlecht, dass man uns die Sache so erleichtern musste? Scheinbar schien Granik sich Sorgen um den Dritten Jahrgang zu machen, wenn er so etwas zuließ. Nur wer beide Durchgänge des Wintertrainings bestand, konnte in den Dritten Jahrgang aufgenommen werden... Vielleicht lag es aber auch an den Prüfern. Letztes Jahr bei Finja, der Schinderin, hätte es so etwas nicht gegeben. Damals war ich nur knapp durchgekommen... Nur um hinterher alles absichtlich in den Sand setzen zu müssen...
Und damit war ich wieder bei Riley. Ausgerechnet den mussten die mir dann dazu schicken... Ich verstand immer noch nicht, was das Ganze sollte. Wir hätten auch in unterschiedlichen Jahrgängen nicht zusammenarbeiten können... Ich verdrehte die Augen und ging ein wenig schneller. Jetzt musste ich halt ein weiteres Jahr mein Bestes geben. Konnte sich nur auszahlen, ein Jahr länger zu trainieren.
ZEO Tag 11, Donnerstag
Genüsslich streckte ich mich noch einmal richtig aus. Der Blick auf die Uhr verriet, dass es erst halb sieben war. Also noch eine halbe Stunde bis ich aufstehen würde. Offiziell lief das Wintertraining noch, deshalb waren der Weckdienst, der Unterricht und das Training ausgesetzt, sodass wir praktisch ein paar freie Tage hatten. Da konnte man wunderbar tun und lassen, was man wollte. Erinnerte mich an die Zeit vor der Akademie...
Das Bett war wunderbar warm, das Zimmer dunkel und ich hörte den leisen Atem meiner Mitbewohner, die natürlich die Chance nutzten, ausschlafen zu können. Die Aussicht auf noch etwas mehr Schlaf war zwar äußerst verlockend, doch ich war es einfach gewohnt, früh aufzustehen.
Außerdem war ich neugierig, wer wohl die Nacht über angekommen war oder jetzt am frühen Morgen ankommen würde. Die meisten Mädchenzimmer fehlten leider immer noch, weshalb es momentan auch einfach unendlich langweilig in der Akademie war. Klar, mit den Jungs unter sich zu sein, war zwar auch mal gut, aber es gab halt nichts mehr zum angucken...
Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu Arisa, was mir meine schöne Laune restlos verdarb. Warum musste das alles so kompliziert sein... Klar, ich hatte dafür gesorgt, dass sie herkommen konnte, aber das war ja auch nötig gewesen. Was nicht nötig war, war ihre neue komplizierte Art... Als Kind hatte sie immer zu mir aufgesehen und mir bedingungslos vertraut.
Ich lachte bitter auf. Andererseits war es auch ein gutes Zeichen, dass sie das nicht mehr tat. Das bedeutete wenigstens, dass sie weder dumm noch so extrem naiv war. Sie hatte einen eigenen Verstand und Charakter entwickelt und das sollte mich stolz machen... aber irgendwie machte das alles nur kompliziert.
Wütend richtete ich mich auf und entschied, mich doch jetzt schon anzuziehen. Bewegung würde mich hoffentlich von diesen Gedanken ablenken. Es brachte schließlich nichts, darüber weiter nachzudenken. Sie war nicht hier und klären konnte ich die ganze Sache eh nicht. Ich konnte nur hoffen, dass sie mir irgendwann wieder vergeben würde und wir einfach wieder so weiter machen konnten, wie vorher. Vielleicht sollte ich mir was für Neujahr überlegen, das sie milde stimmen könnte...
Gut, dass die anderen nicht wussten, was mir gerade durch den Kopf ging, sie hätten mich gnadenlos aufgezogen. Und von Leuten aufgezogen zu werden, die zwei Jahre jünger waren als man selbst, wäre einfach zu peinlich... So wie diese ganzen Gedanken überhaupt. Konnte mir doch scheißegal sein, was in Arisa vor sich ging. War es nur dummerweise nicht...
Im Speisesaal war alles still. Ich glaube, außer unserem Zimmer, waren eh nur drei oder vier andere schon wieder da. Und die Älteren waren auch noch unterwegs. Ich hoffte, die Lehrer hätten auf den Vorrat geachtet, damit wir wenigstens ein bisschen was zu Essen hatten, während die Älteren nicht kochten. Zum Glück fand ich in der Küche noch ein paar Rationenpakete. Ich schnappte mir eins und nahm es mit nach draußen.
Draußen auf dem Hof warteten Risa und Andra auf die Ankunft weiterer Schüler und die Drittklässler schippten den Schnee von den Dächern und aus dem offen stehenden Tor, obwohl immer neuer vom Himmel fiel. Ich setzte meine Kapuze auf und ging zu den Lehrerinnen hinüber. Es war amüsant zu wissen, dass sie nur zwei bzw. drei Jahre älter waren als ich selbst.
„Morgen“, grüßte ich kurz. „Schon irgendwer zurück gekommen?“
„Morgen“, erwiderte Risa den Gruß kurz, schaute aber weiter zum Tor herüber. „Noch nicht, aber die Drittklässler haben vorhin gemeldet, dass eine Gruppe auf's Tor zukommt. Bin mal gespannt, wer das ist.“
„Heute Nacht sind Zimmer 3-a und 4-a von den Mädchen zurück gekommen. Außerdem noch Zimmer 1-a von den Jungs“, fügte Andra hinzu und schaute schüchtern zu mir hoch. Manchmal tat sie mir fast schon leid. Sie schien noch viel zu unreif für ihre Position.
„Na, dann wollen wir mal sehen, wer jetzt kommt“, grinste ich und biss ein Stück von der Ration ab.
„Was hast du da? Rationen?“, Risa fuhr mit funkelnden Augen zu mir herum. „Brich mir mal bitte ein kleines Stück ab!“
„Risa!“, fuhr Andra sie missbilligend an.
„Was denn? Ich hab Hunger, ich hab noch nichts gegessen“, erklärte die Ältere schmollend.
„Du weißt, dass du immer bei mir vorbeischauen kannst... Ich würde dir gerne was zum Frühstück machen und mit dir zusammen essen“, schmollte die Jüngere zurück.
„Jaaaa... aber du kannst dich nicht immer so an mich klammern, Andra“, erklärte die Ältere vermeintlich streng, doch sie hatte einen Moment gebraucht, um sich die Antwort zu überlegen.
„Ich mache mir nur Sorgen. Wenn ich mich nicht um dich kümmern würde, würdest du bei deinen Kochkünsten noch verhungern...“, gab dann die Jüngere überraschend schlagfertig zurück. Ich grinste in mich hinein, das war gut zu wissen.
„Ach, Schwachsinn. Hey, großer Junge, jetzt gib schon was ab“, motzte Risa jetzt mich wieder an, um das Thema zu wechseln. Da sie wahrscheinlich sonst keine Ruhe gegeben hätte und ich wissen wollte, wer kam, brach ich ihr ein kleines Stück ab und gab es ihr. Und dann warteten wir.
Als ich erkannte, wer da kam, wünschte ich mir, ich hätte mich einfach nochmal umgedreht und weitergeschlafen. Andererseits fühlte ich mich unfassbar erleichtert und das ärgerte mich noch mehr. Doch ich schluckte all diese dämlichen Emotionen runter und setzte mein bestes Lächeln auf.
„Arisa!“, rief ich aus Leibeskräften. „Ich hab dich vermisst!“
Risa neben mir hielt sich die Ohren zu und warf mir einen genervten Blick zu. „Junge, nicht so laut am frühen Morgen...“
Auch Andra seufzte und trug dann etwas auf einem Blatt ein. „Na, spätestens jetzt sind alle wach und haben mitbekommen, wer da kommt...“
Ich musste Lachen, als ich mir Arisas halb schmollenden, halb wütenden Gesichtsausdruck vorstellte. Ich genoss es noch immer viel zu sehr, sie so zu sehen, daran hatten die paar Jahre nichts ändern können...
Als die vier schließlich bei uns ankamen, würdigte sie mich jedoch keines Blickes. Nytra grinste mich zwar an und flüsterte mir zu: „Sie war vorhin trotzdem so sauer wie immer“, aber das machte es auch nicht wirklich besser. Die Situation zwischen uns beiden war immer noch angespannt und sie schien immer noch davon überzeugt, mich zu ignorieren.
„So, Zimmer 2-b Mädchen ist auch wieder da... Marker sind komplett, Zeitlimit eingehalten. Sieht gut aus. Die Ergebnisse werden Sonntagabend verkündet, bis dahin sollten alle wieder da sein“, erklärte Andra mit einem Lächeln.
Tanya und Nytra strahlten sich einen Moment an, während Arisa immer noch demonstrativ in eine andere Richtung schaute und Zora etwas müde gähnte. Dann schien Nytra jedoch etwas einzufallen und sie beugte sich zu Risa vor.
„Ist Zimmer 4-b von den Mädchen schon wieder da?!“, fragte sie beinahe verzweifelt. Ich überlegte, wessen Zimmer das sein sollte, doch mir fiel beim besten Willen nichts ein...
„Nein, sie sind noch nicht wieder da“, antwortete Risa ernst. Dann lächelte sie breit und zwinkerte ihr zu. „Du brauchst dir aber wahrscheinlich keine Sorgen zu machen, Sukira packt das schon.“
Nytra lächelte zwar etwas beruhigt zurück, schien aber immer noch besorgt. Jetzt verstand ich es so langsam. Sukira war die Kleine, mit der Nytra und Tanya trainierten. Sie schien ihr wohl echt am Herzen zu liegen... Das war irgendwie süß, auch wenn ich diesen Gedanken ihr gegenüber niemals aussprechen dürfte. Ich hoffte, dass sie sich um Arisa ebenso sorgen würde und war froh, dass sie eine so gute Freundin in ihrem Umfeld hatte.
„Hey, Grinsebacke, was ist so witzig?“, fragend schaute mich Nytra aus ihren grünen Augen an. „Arisa ist längst abgezogen, die ist wohl immer noch pissig auf dich“, erklärte sie dann und schaute ihrer Freundin hinterher, die mit den anderen beiden Mädchen schon auf das Wohngebäude zuging.
„Ach, nicht so wichtig. Ich bin froh, dass ihr heile wieder angekommen seid“, lächelte ich ihr zu.
Sie warf mir einen abschätzigen Blick zu, grinste dann und verkündete mit erhobenen Schultern: „Du bist so ein Idiot... Sieh zu, dass du das schnell in Ordnung bringst.“ Danach drehte sie sich um und folgte ihren Zimmergenossinnen.
'Wenn ich könnte, würde ich es so machen... Wenn ich könnte...', dachte ich noch bitter, als ich ihnen hinterher schaute.
NYTRA Tag 12, Freitag
Als ich am Morgen irgendwann aufwachte, hieß es nur, Sukira sei wieder da. Aber angeblich war sie nicht mit ihrem eigenen Zimmer gekommen, sondern mit dem Jungszimmer von Aki. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich sie sofort zur Rede gestellt, was passiert wäre, doch die anderen hielten mich davon ab.
Arisa erklärte mir, Sukira hätte heute Morgen schon dem Leiter davon berichten müssen und sie seien die ganze Nacht unterwegs gewesen, sodass sie jetzt erst mal ihre wohlverdiente Ruhe genießen solle. Gut, das konnte ich nachvollziehen. Ich hatte den gestrigen Tag nach unserer Ankunft auch erst einmal komplett verschlafen.
Trotzdem machte ich mir Sorgen. Da schien ja irgendwas extrem falsch gelaufen zu sein, wenn Sukira nicht mit ihrem eigenen Zimmer kam. Ich kannte die anderen Mädchen aus ihrem Zimmer zwar nicht gut, aber ich hatte schon mitbekommen, dass die fünf immer zusammen hingen und wohl auch aus eher reichen Familien stammten.
Meine Gedanken drehten sich im Kreis, was den anderen auf Dauer auf die Nerven ging, doch ich konnte nichts dagegen tun. Ich versuchte, mich abzulenken und ging in den Speisesaal. Da war jedoch niemand, den ich mochte, also ging ich nach draußen. Risa und Andra saßen immer noch herum und starrten zum Tor, ob noch neue Schüler kämen. Damit konnte man sich auch nicht ablenken und Risa hätte jetzt bestimmt keine Zeit, mit mir allein zu sprechen...
Also entschloss ich mich, ein wenig um den Schulhof zu wandern. Die Zeit würde dadurch zwar nicht schneller vergehen, aber immerhin tat ich so etwas für meine Muskeln. Obwohl die von den letzten Tagen noch etwas schmerzten... Egal, was blieb mir anderes übrig?
Also zog ich meine Runden um den Hof. Risa und Andra schauten zwar zwischendurch zu mir herüber, aber das war mir egal. Ich überlegte immer noch, was wohl passiert sein konnte... Bestimmt hatten diese dreckigen Schlampen auf Sukira rumgehackt. Der Gedanke machte mich rasend. Sukira hatte so etwas nicht verdient, sie hatte es nicht verdient, scheiße behandelt zu werden. Sie war ein vernünftiges, liebes Mädchen aus einer guten Familie... Sie war hübsch und klug und mädchenhaft und zurückhaltend und alles, was man nur irgendwie erwarten konnte. Warum also, sollte man sie schlecht behandeln? Mit welcher Begründung? Das wollte einfach nicht in meinen Kopf...
Ich blieb stehen und schaute hoch. Meine Füße hatten mich unbewusst vor die Fenster des Mädchentraktes getragen. In unserem Zimmer saß Arisa, die mir vorsichtig zuwinkte. Ich erwiderte den Gruß kurz und wandte mich dann entschlossen nach rechts. Mit einem Blick vergewisserte ich mich, dass die beiden Lehrerinnen gerade nicht auf mich achteten, dann klopfte ich vorsichtig vor Sukiras Fenster.
Schneller als erwartet, tauchte ein blasses Gesicht auf der anderen Seite der Scheibe auf. Sukiras sonst honigfarbenes Haar wirkte stumpf, unter den Augen hatte sie tiefe Ringe. Es tat mir weh, sie so zu sehen und das machte mich gleich wieder wütend. Doch sie lächelte glücklich, als sie mich erkannte und öffnete schnell das Fenster.
„Nytra-“, begann sie, doch ich legte einen Finger an die Lippen und streckte ihr meine Hand hin.
„Schnell, hilf mir hoch, bevor die was merken. Du wirst krank, wenn du zu lange im Fenster stehst!“, befahl ich ihr praktisch, schaute schnell nochmal zu Risa und kletterte dann mit ihrer Hilfe durchs Fenster ins Zimmer.
„Nytra, was-“, setzte Sukira erneut an. Ihre Stimme klang etwas kratzig, wahrscheinlich hatte sie sich schon erkältet.
„Erst muss das Fenster zu“, unterbrach ich sie wieder, schloss das Fenster schnell und bedeutete ihr, sich auf einen der Stühle zu setzen. Ich setzte mich ihr gegenüber hin und schaute sie stumm an. Als sie keine Anstalten machte, noch einmal anzufangen, erklärte ich: „Du kannst jetzt sprechen. Ich werde dich nicht nochmal unterbrechen. Tut mir leid.“
Einen Moment schaute sie mich perplex an, dann lächelte sie. „Dankeschön“, sie musste sich kurz räuspern. Jap, klang definitiv nach einer Erkältung. „Was machst du hier?“
Ich zog eine Augenbraue hoch und schaute sie zweifelnd an. „Was ich hier mache? Mich um meine Freundin kümmern, der scheinbar irgendwas schlimmes passiert ist. Und die sich dazu noch erkältet hat.“
„Dann hast du schon davon gehört...“, etwas verlegen schaute sie weg. „Tut mir leid, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber es geht mir gut. Abgesehen von der Erkältung zumindest.“ Mit einem gekünstelten Lächeln versuchte sie, die Situation aufzulockern, aber danach war mir jetzt nicht.
„Sukira, was ist passiert? Mir sagt hier keiner was genaues“, fragte ich ernst.
Eine Weile schwieg sie und schien zu überlegen, was sie sagen sollte. Es schien ihr schwer zu fallen, was dafür sorgte, dass sich meine nur schwer unterdrückte Wut mit jeder Sekunde steigerte.
„Du wirst nicht locker lassen, bis du es weißt, hm?“, vermutete sie letztendlich und lächelte schief. „Also... naja. Die anderen Mädchen aus meinem Zimmer waren fies zu mir und wollten mich nicht mit ihnen in der Hütte schlafen lassen. Also haben die Jungs mich mit in ihr Zelt genommen. Das ging die ersten paar Nächte so, aber dann ging es Luca zu langsam und er bestand darauf, dass die Zimmer sich trennen. Aki und die anderen haben aber protestiert und gesagt, dass sie das nur machen, wenn ich mitkommen dürfte, da sie mich nicht mit den anderen allein lassen wollten. Also hat Luca zugestimmt und wir sind zu fünft weiter gegangen... Aber du brauchst dir keine Sorgen machen, die Jungs waren alle sehr lieb und es ist auch nichts schlechtes passiert.“
Sie schaute mich entschuldigend an, während ich versuchte, mich zu beherrschen. Ich musste mich zunächst auf die Fakten konzentrieren, damit meine Wut nicht aus mir herausbrach. Fakt war, dass ich den Jungs dankbar sein konnte, dass sie sich um sie gekümmert hatten. Fakt war, dass Sukira so gut wie unbeschadet wieder hier angekommen war. Fakt war, dass diese Drecksweiber aus ihrem Zimmer wirklich abgrundtief schlecht waren. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich sie alle am liebsten umbringen würde.
„Nytra, bitte... Sei ihnen nicht böse. Es ist ja alles gut gegangen...“, bat Sukira da und schaute mir flehend in die Augen.
„Du hättest sterben können, ist dir das eigentlich klar?“, fragte ich mit eisiger Ruhe. „Wenn die Jungs nicht so nett gewesen wären, wärst du jetzt tot. Erfroren, irgendwo da draußen. Dann wäre alles vorbei und ich hätte dich nie wieder gesehen.“ Ich schaute ihr fest in die Augen, selbst den Tränen nahe und wunderte mich, warum sie das denn nicht verstand.
Sie schaute mich an und sagte: „Das weiß ich, Nytra. Und ich bin froh, dass es nicht so gekommen ist und dass du so denkst. Aber ganz so schlimm war es ja nicht. Es war ja nur das gleiche wie immer...“
Und dann tat sie etwas, das mich noch lange verfolgen würde. Sie senkte den Blick und lächelte. Es war ein kleines, feines, tragisches, trauriges Lächeln, hinter dem der Gedanke steckte, dass es unvermeidlich sei, dass man sie so behandelte. Dass sie das vielleicht sogar verdient hatte. Und das sie machtlos war, etwas dagegen zu unternehmen.
Aus einem plötzlichen Impuls heraus, beugte ich mich vor und drückte sie fest an mich. Überrascht, doch ohne etwas zu sagen, drückte sie mich dankbar zurück und einen Moment lang saßen wir einfach so da und gaben einander Halt. Doch dann ballten sich meine Hände zu Fäusten und die angestaute Wut kochte wieder hoch.
„Du solltest dich hinlegen und etwas schlafen. Du musst schließlich schnell wieder gesund werden“, sagte ich und löste mich vorsichtig von ihr. Dann stand ich auf, während sie mich noch mit großen Augen anschaute.
„Nytra... Bitte tu den anderen nichts, wenn sie wiederkommen, ja? Das würde dir mehr schaden als ihnen...“, bat sie noch einmal besorgt.
Ich erwiderte ihren Blick und erklärte: „Ich würde nie etwas tun, das du nicht willst. Aber wenn sie hier nochmal sowas abziehen, dann werde ich dich beschützen.“
„Du solltest nicht auf das hören, was die sagen... Du bist besser als sie alle zusammen“, fügte ich beim Hinausgehen noch hinzu. Dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss und ich stand auf dem stillen Flur.
Ich fühlte mich absolut dreckig. Einerseits war ich immer noch erschöpft, aber andererseits fühlte ich mich, als würde ich gleich vor Wut platzen, wenn ich sie nicht irgendwie herausließe. Ich musste mich zwingen, einigermaßen normal zu atmen. Mein Blick fiel auf die Wand und ich wusste, dass die Idee blöd war, doch in meinem haltlosen Zustand schlug ich mit meiner rechten Faust einmal fest zu.
Die Wand zeigte sich unbeeindruckt, lediglich ein paar kleine Flecken Blut von meinen aufgeplatzten Knöcheln blieb zurück. Der Schmerz in meiner Hand vertrieb jedoch die Wut und hatte sein Ziel somit erreicht, sodass ich mich langsam beruhigen konnte. Es blieb ein dumpfes Pochen, sowohl in meinem Inneren als auch in meiner Hand, während ich mich langsam zu unserem Zimmer schleppte.
Dort ignorierte ich Arisas Fragen, kletterte auf mein Bett und drehte mich zur Wand. Ich wollte jetzt mit niemandem reden. Ich wollte jetzt niemanden mehr sehen. Ich wollte einfach nur meine Ruhe und vergessen und dass der Schmerz und dieser Tag aufhörten. Denn es war einer der Tage, die mich daran erinnerten, warum ich diese Welt so sehr hasste.
ARISA Sonntag
Der nächtliche Winterwind war eiskalt. Die Kälte in meinem Gesicht erinnerte mich an unseren nächtlichen Marsch vor ein paar Tagen. Nytra und Tanya hatten unbedingt früh morgens schon ankommen wollen und so hatten wir nur wenige Stunden gerastet, anstatt die Nacht durchzuschlafen.
Wartend schaute ich nach oben, der Himmel war vollkommen klar, was es noch etwas kälter machte. Die Sterne funkelten kalt von oben herab, während der kleinere der beiden Monde alles in ein silbriges Licht tauchte. Auf den Dächern lauschte der Dritte Jahrgang mit seinen Lehrern neugierig.
Schließlich öffnete sich die Tür des Lehrergebäudes und Leiter Granik trat heraus auf den Hof. Die Verkündung der Ergebnisse hatte eigentlich schon früher stattfinden sollen, doch Sukiras Zimmer war erst um 19 Uhr vom zweiten Jahrgang zurückgebracht worden. Sukira selbst durfte bei dem Jungszimmer stehen, das sie mitgenommen hatte. Ich war froh, dass es ihr bis auf eine leichte Erkältung gut ging, doch ich sorgte mich um Nytra.
Diese starrte jetzt schon wütend zu den anderen Mädchen herüber und ich wollte mir nicht ausmalen, was wohl passieren würde, wenn wir wieder ins Wohngebäude hinein durften. Mein Blick fiel auf ihre verbundene rechte Hand. Hoffentlich würde das sie erst einmal aufhalten.
Tanya hatte meinen Blick bemerkt und lächelte mir mitfühlend zu. Die Ärmste musste sich noch mehr in der Verantwortung fühlen, schließlich war sie die Jahrgangssprecherin. Ich seufzte. Und wieder gab es nur Ärger... War das außerhalb des Tals wohl normal? Ich konnte mich mit diesem Gedanken immer noch nicht richtig anfreunden.
Der Leiter stellte sich gemeinsam mit den Lehrern der ersten beiden Jahrgänge vor uns auf. Er räusperte sich und begann zu sprechen. „Liebe Schüler und Schülerinnen, ich gratuliere euch schon jetzt dazu, dass ihr das Wintertraining hinter euch gebracht habt. Frau Risa Kazu wird euch nun verkünden, wie die einzelnen Zimmer abgeschnitten haben. Danach werde ich noch einmal eine kleine Ansprache halten müssen, der Grund für diese ist den Betreffenden bereits bekannt.
Risa, bitte.“ Er trat ein Stück zurück und Risa trat stattdessen vor.
„Kommen wir zur Verkündung der einzelnen Ergebnisse. Zimmer 1-a Mädchen: zehn Tage, sieben Stunden. Bestanden. Zimmer 1-a Jungen: acht Tage, 23 Stunden. Bestanden. Zimmer 1-b Mädchen: zehn Tage, drei Stunden. Bestanden.“
Lächelnd schaute ich zu Inaga und den andern herüber, die stolz vor sich hin grinsten und sich leise abklatschten. Dann schaute ich schnell wieder nach vorne, um zuzuhören.
„Zimmer 1-b Jungen mit Sukira Tranner: zehn Tage, 22 Stunden. Bestanden.“
Froh schaute ich zu den Jungs herüber, die Sukira in ihre Mitte genommen hatten. Sie strahlte etwas verlegen, während sie von Bari, Aki und Fan beinahe belagert wurde. Nur Luca schien sich nicht richtig zu freuen, aber der Kerl war eh seltsam. Wahrscheinlich war es ihm nicht schnell genug gegangen. Ich erinnerte mich daran, wie fies er zu Tanya gewesen war und wunderte mich, dass er bei der Aktion mit Sukira mitgemacht hatte...
Über meinen Grübeleien vergaß ich einen Moment, aufzupassen. Nytra tippte mir jedoch vorsichtig auf die Schulter, grinste mich breit an und deutete nach vorne. Verwundert schaute ich hin und bekam so wieder mit, was gesagt wurde.
„Zimmer 2-a Jungen: acht Tage, sechs Stunden. Bestanden. Zimmer 2-b Mädchen: neun Tage, 23 Stunden. Bestanden.“
Nytra hatte mich zwar wahrscheinlich wieder mit Zeo ärgern wollen, doch an den verschwendete ich jetzt keinen Gedanken. Risa hatte gerade verkündet, dass wir bestanden hatten! Unser Zimmer hatte es wirklich geschafft. Klar, hatten wir gewusst, dass wir alles richtig gemacht hatten, aber es dann so noch einmal vor allen zu hören, war doch etwas anderes.
Zora entfuhr ein kurzer freudiger Aufschrei, bevor Tanya ihr schnell verlegen den Mund zuhielt. Nytra brach darüber jedoch in schallendes Gelächter aus, sodass sich für einen Moment alle Blicke auf uns richteten. Tanya schien das sehr unangenehm, doch sie musste wie ich trotzdem glücklich lächeln. Mit einem leichten Schlag in die Seite sorgte ich dafür, dass Nytra die Klappe hielt und Risa fuhr nach einem letzten amüsierten Blick in unsere Richtung fort.
„Hey, das hätte nicht so fest sein müssen“, flüsterte Nytra mir ein bisschen beleidigt zu und rieb sich die Stelle, an der ich sie getroffen hatte.
„Du hättest nicht so laut sein müssen“, gab ich schmunzelnd zurück. Es war klar, dass sie simulierte, ich hatte sie nicht fest geschlagen.
„Laut sein liegt halt in meiner Natur“, grinste sie. Dann machte sie große Augen. „Krass, hast du zugehört?“
„Was?“, fragte ich verwirrt, ich hatte natürlich nicht mehr zugehört.
„Zimmer 3-b sowohl von den Mädchen als auch von den Jungs sind durchgefallen!“, flüsterte sie aufgeregt.
„Was?!“, jetzt schaute auch ich aufgeregt wieder nach vorne.
„Zimmer 4-a Jungen: sieben Tage 21 Stunden. Bestanden. Zimmer 4-b Mädchen: 13 Tage, 10 Stunden. Durchgefallen.“
„Na, das war ja keine Überraschung...“, meinte Nytra mit einem wütenden Blick in Richtung des Zimmers.
Ich bekam noch mit, dass das letzte Jungszimmer auch bestanden hatte, dann verstummte Risa einen Moment.
„Im ersten Jahrgang sind also insgesamt ein Jungenzimmer und drei Mädchenzimmer durchgefallen. Das heißt, bei den Jungen gibt es nun sechs Anwärter weniger auf einen Platz im dritten Jahrgang. Bei den Mädchen sind es insgesamt sogar 17, da es in Zimmer 4-b eine Ausnahme gibt. Bis auf Zimmer 4-b ist es den durchgefallenen Schülern möglich, den ersten Jahrgang nächstes Jahr zu wiederholen. Entsprechende Bitten tragt ihr bitte mir vor, ich werde sie an Herrn Granik weiterleiten.“
Nach diesen erschreckenden Worten trat sie zurück. Uns war zwar vorher klar gewesen, dass man das Wintertraining bestehen musste, um in den Dritten Jahrgang kommen zu können, doch dass dabei so viele so schnell ausscheiden würden... Von 40 Mädchen fielen jetzt 17 raus. Dazu kamen noch zwei Abbrecherinnen vom Anfang... Auf die 16 Plätze kamen schon jetzt nur noch 21 Anwärterinnen. Zog man noch die ab, die vielleicht gar nicht wollten, wurde es echt eng. Gut, dass Zora mit mir das Rechnen geübt hatte, sonst wäre mir das jetzt gar nicht so schnell aufgefallen. Und Nytras Aufregung konnte ich jetzt auch verstehen. Tanyas und ihre Chancen waren gerade um einiges besser geworden.
„Bevor wir die Ergebnisse des zweiten Jahrgangs verkünden, kommt meine zuvor angekündigte Ansprache. Diese richtet sich hauptsächlich an Zimmer 4-b der Mädchen, doch auch alle anderen Schüler sollten sie sich noch einmal zu Herzen nehmen.“
Er holte tief Luft und seufzte einmal. „Zimmer 4-b hat sich während des Wintertrainings äußerst asozialen Verhaltens schuldig gemacht. Ein Mitglied des Zimmers, dessen Namen ihr wahrscheinlich bereits mitbekommen habt, wurde vom Rest des Zimmers ausgegrenzt. Dies ging soweit, dass die anderen fünf in Kauf genommen hätten, dass das Mädchen nachts draußen in der Kälte ohne Feuer oder Zelt, erfroren wäre.
Als Konsequenz aus diesem Verhalten, werden die fünf betreffenden Schülerinnen zum Wohl der restlichen Schülerschaft von allen zukünftigen Gruppenübungen ausgeschlossen. Dazu gehört auch das Wintertraining im nächsten Jahr. Darüber hinaus ist es ihnen nicht erlaubt, den Jahrgang zu wiederholen.“
Er verstummte und schaute jetzt scharf in die Richtung des angesprochenen Zimmers. „Ihr seid nur um Haaresbreite einem Schulverweis entkommen. Solltet ihr auch nur ein weiteres Mal negativ auffallen, wird der Verweis ohne weitere Ermahnung erfolgen.“
Er wandte den Blick wieder uns anderen zu und seine zuvor schneidende Stimme wurde wieder weicher. „An dieser Stelle, nach diesem Wort der Warnung, will ich noch einmal ein positives Beispiel hervorheben. Das Jungszimmer 1-b, das das Mädchen aus 4-b bei sich aufnahm hat sich vorbildlich verhalten. Ich möchte euch hiermit meinen persönlichen Dank aussprechen, da ihr einmal mehr unter Beweis gestellt habt, nach welchen Grundsätzen die Akademie sich richtet.
Wir alle sind ebenbürtig. Wir sind auf einander angewiesen und vertrauen einander. Und wir unterstützen einander, wenn nötig. Wir lassen niemanden hängen und wir schließen niemanden aus, aus keinem Grund.“
Er schaute noch einmal von einem zum anderen und trat dann zurück. Amaya und Jim, die sich während der zwei Wochen um den zweiten Jahrgang gekümmert hatten, sprachen noch einmal Lob für die Zweitklässler aus, doch wirklich durchfallen konnte man bei ihrem Training eigentlich nicht, weshalb es nicht viel zu sagen gab.
Nachdem die Lehrer fertig waren, konnten wir endlich wieder ins Gebäude zurück. Ich musste gähnen und blieb so einen Moment länger draußen stehen. Wieder fiel mein Blick auf die Sterne. Das Sternbild des 'Rades der Zeit', das aus zehn beinahe kreisförmig angeordneten Sternen bestand, war auch hier gut zu sehen. Man sah es hier, wie im Tal, nur im Winter, hatte Risa mir erzählt.
„Luca, warte mal kurz!“, hörte ich da Sukira leise rufen. Ohne sich auch nur umzusehen, verschwand Luca jedoch im Wohngebäude und so blieb Sukira etwas ratlos zurück. Ich ging zu ihr herüber und schaute sie verwundert an.
„Was war das denn?“
Sie seufzte und zuckte dann die Schultern. „Ich wollte mich noch bei ihm bedanken, dazu bin ich noch nicht gekommen. Er hat mich ein Stück getragen, als ich wegen der Erkältung zu schwach war...“, erklärte sie etwas verlegen.
„Hmhm... Ich dachte, du magst Elin?“, ich konnte es mir nicht verkneifen, sie ein bisschen zu ärgern. Nytras schlechter Einfluss musste abfärben.
„Ach, nicht du auch noch!“, schmollte sie und schaute mich böse an. „Reicht schon, wenn Nytra mich immer damit aufzieht... Ich wollte mich wirklich nur bedanken, weil sich das so gehört.“
„Mach dir nichts draus“, lächelte ich dann. „Vielleicht ist es ihm ja peinlich. Er weiß sicher auch so, dass du ihm dankbar bist.“
„Ja, vielleicht...“, murmelte sie nachdenklich und schaute in Richtung der Tür.
„Kommt ihr zwei?“, rief da ausgerechnet Elin, der die Tür noch aufhielt. Erst jetzt fiel mir auf, dass wir die letzten waren, die noch draußen standen.
Ich pikste Sukira leicht in die Seite und zwinkerte ihr zu: „Na, das passt ja gut. Vielleicht will er dir noch gratulieren. Soll ich euch allein lassen?“
„Sicher, dass du Arisa bist? Du verhältst dich sehr wie Nytra...“, entgegnete Sukira nur etwas misstrauisch.
„Ist ihr schlechter Einfluss. Na, komm. Ich bin müde und will ins Bett...“, grinste ich versöhnlich und ging auf die Tür zu.
„Ich auch... Auch wenn ich ein wenig Angst habe“, gab Sukira leise zu und ich blieb vor Schreck beinahe stehen. Das hatte ich in meinem ganzen Freudentaumel und der Müdigkeit schon fast wieder vergessen. Doch dann gingen wir durch die Tür und wurden von Elin angehalten.
„Sukira, ich wollte-“, begann er, unterbrach sich dann jedoch und wurde ein wenig rot. Nach einer kurzen Pause hatte er sich gefasst und sagte: „Also erst einmal wollte ich dir gratulieren, dass du bestanden hast. Und dann wollte ich fragen, ob du möchtest, dass ich dich zum Zimmer bringe...“ In dem Moment fiel ihm auf, wie das klang und er wurde erneut rot. „Also, ich meine, in meiner Funktion als Jahrgangssprecher...“, stammelte er verlegen und schien sich sehr unwohl zu fühlen.
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, doch Sukira neben mir brach in ein wunderschönes, glockenhelles Lachen aus. Einen Moment schauten wir sie verunsichert an, doch dann beruhigte sie sich und schaute ihn entschuldigend an. Dabei wurde auch sie rot und mir fiel einmal mehr auf, dass sie wirklich sehr hübsch war.
„Tut mir leid, Elin. Ich wollte nicht über dich lachen, aber du wirktest so nervös, wie ich mich gerade fühle...“, erklärte sie und schaute verlegen zur Seite. „Das fand ich sehr befreiend...“
„Also?“, hakte ich nach, um ihm eine weitere Peinlichkeit zu ersparen.
Einen Moment schaute Sukira mich verwirrt an, dann fiel es ihr wieder ein. „Ach ja, das Angebot... Wenn es dir nichts ausmacht. Aber es wäre mir lieber, wenn ich erst kurz mit ihnen allein sprechen dürfte. Ich will sie nicht gleich wieder gegen mich aufbringen...“, bei diesen Worten wirkte sie schon wieder so niedergeschlagen, dass ich sie am liebsten in den Arm genommen hätte.
„Klar, kein Problem“, nickte Elin noch, dann machten wir uns zu dritt auf den Weg. Vor Zimmer 4-b tobte natürlich schon das Chaos.
„Ihr habt gehört, was der Leiter gesagt hat, leistet euch noch einmal so 'ne Scheiße und ihr fliegt. Und davor bekommt ihr nochmal 'ne richtige Abreibung von mir“, giftete das Chaos namens Nytra gerade und starrte Todesblicke in Richtung der Tür.
Auf dem oberen Flur hatten sich bereits einige Schaulustige eingefunden und auch unten waren noch einige Türen geöffnet. Gerade öffnete sich unsere Zimmertür und Tanya trat heraus, wahrscheinlich weil auch sie als Jahrgangssprecherin für Ruhe sorgen wollte. Im ersten Moment schien sie von Elins Anwesenheit überrascht, doch dann lächelte sie erfreut.
„Kümmerst du dich ausnahmsweise darum? Dann sorge ich dafür, dass hier unten alle schlafen gehen.“
„Ich kümmer mich um die hier oben“, rief Mascha uns zwinkernd zu, scheinbar hatte sie zugehört.
„Dankeschön“, lächelte Tanya zur älteren Jahrgangssprecherin hinauf und ging dann von Zimmer zu Zimmer.
Ich zögerte kurz, ob ich auch schon zu Bett gehen sollte, entschloss mich dann jedoch, erst einmal Nytra einzufangen. Bevor das noch größeres Theater gab. An der Wand zu meiner Rechten prangten noch immer die Blutflecken.
„Nytra, bitte...“, sagte Sukira in einem leicht ermahnenden Ton.
Die angesprochene schaute sie kurz ärgerlich an. „Schon gut. Ich habe nichts getan und habe es auch nicht vor“, erklärte sie dann ernst. „Na, Arisa, kommst du, mich einfangen?“ Sie grinste jetzt wieder wie üblich und kam auf mich zu.
„Jap. Komm, lass uns ins Bett gehen, wir sind beide müde“, versuchte ich, ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken. Sie jetzt auf die ganze Sache anzusprechen würde nichts bringen, Zurechtweisungen erst recht nicht. Deswegen war es auch gut, dass Tanya das nicht übernahm.
„Gut, dann schlaf gut, Sukira“, sie drückte das kleinere Mädchen schnell einmal an sich, ehe sie mit mir in Richtung unseres Zimmers ging.
DIE LEITUNG
„Streit, Sabotage, Ausgrenzung von Zimmernachbarn... Das ist ein Armutszeugnis für diese Stufe“, fasste Raiga wütend zusammen, während er durch Waros Büro lief. Dieser beobachtete den Jüngeren von seinem Schreibtisch aus und lehnte sich dann erschöpft zurück.
„Da hast du wohl recht. So schlimm ist es noch nie gewesen, aber so wissen wir wenigstens sicher, wen wir ausschließen können.“ Er runzelte die Stirn. Das lief mal wieder alles nicht gut.
„Du musst nur aufpassen, dass dir dann überhaupt noch Schüler übrig bleiben. Jetzt bleiben nur noch 21 Mädchen übrig. Ich habe es dir schon einmal gesagt, wir sollten uns mehr darum kümmern, nützliche, vernünftige Schüler zu haben“, beharrte Raiga und stützte sich auf dem Schreibtisch ab.
„Und wie sollen wir den ganzen Spaß hier dann finanzieren?“, fragte Waro scharf und funkelte Raiga aus dunklen Augen an. „Wir brauchen das Geld der reichen Familien. Noch können wir uns nicht vollständig selbst versorgen und bis dahin sind wir darauf angewiesen. Ich weiß, dass dir das alles so nicht passt, aber mir erscheint es als vernünftigster Weg. Je mehr Leute wir haben, die wir auf die Suche schicken können, desto schneller werden wir etwas finden.“
„Wir wissen nicht mal, was genau wir suchen. Wo wir gerade beim Suchen sind, hast du schon Ersatz für die drei Abbrecher gefunden?“, wechselte Raiga dann das Thema, bevor Waro ihn für seine Einwände wieder hinauswarf.
„Wir haben da zwei äußerst interessante Anfragen bekommen. Ein Junge und ein Mädchen. Er ist zwar eigentlich etwas zu alt, aber sie wollen nur zusammen kommen. Sie sollen erstaunliches Talent besitzen“, antwortete War, durch die Ablenkung ein wenig milder gestimmt.
„Klingt nicht schlecht. Aber 'Anfragen'? Hinterher ist das wieder nur ein Schwindel ihrer reichen Eltern“, gab Raiga zu bedenken.
„Nein, es ist keine Anfrage in dem Sinne. Die beiden haben selbst angefragt und haben sich in Zweigstelle 7 wohl bereits bewiesen. Jenna hat ihr Talent bestätigt. Deiner ehemaligen Klassenkameradin wirst du ja wohl noch glauben, oder?“, entgegnete Waro, den die ständigen Einwände schon wieder zu nerven begannen.
„Dann müssen sie wohl wirklich was können. Aber was ist mit der anderen Stelle? Uns fehlt noch ein Mädchen“, blieb Raiga unklugerweise dran.
„Noch ist genug Zeit. Du kannst dich ja selbst mal umhören, scheinbar hältst du dich selbst ja für kompetenter als mich, was die Auswahl angeht“, erklärte Waro scharf.
„So etwas würde ich mir nie anmaßen“, wies Raiga den Vorwurf wenig demütig zurück. „Ich fürchte nur manchmal, dass du bei deinem kleinen Spielchen hier, das eigentliche Ziel vergisst.“
„Raiga!“ Waros Stimme war drohend geworden.
„Schon gut, ich verschwinde schon“, die Hände erhoben, floh der Jüngere aus dem Büro und schloss schnell die Tür hinter sich.
„Ich glaube, du hast das Ziel bis heute nicht verstanden...“, murmelte Waro noch leise, ehe er sich daran machte, weiter mögliche Anfragen durchzusehen.