ARISA
„Und darum halten wir auch hier an der Akademie jedes Jahr ein Erntedankfest ab“, beendete Risa gerade ihre Erklärung. Sie hatte uns heute, am Montagmorgen verkündet, das der Vormittagsunterricht diese Woche anders ablaufen würde, da wir das Erntedankfest der Akademie vorbereiten würden, welches am Freitag stattfinden würde.
Ich war hin und weg von der Idee. Ich hatte das Erntedankfest im Tal immer besonders geliebt. Es wurde alles geschmückt und es gab so viel gutes Essen wie man nur in sich hinein stopfen konnte. Und obwohl ich nie gehungert hatte, war das doch etwas besonderes. Außerdem gab es Geschenke, vor allem für uns Kinder. Das würde hier vielleicht wegfallen, aber ich freute mich trotzdem nicht weniger.
Die meisten aus der Klasse schienen so zu empfinden wie ich, doch Nytra neben mir wirkte alles andere als begeistert.
„Freust du dich denn gar nicht?“, fragte ich verwundert.
Sie zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Ich mache mir nicht viel aus solchen Festen“, erklärte sie. Sie schien einen Moment zu überlegen und gab dann zu: „Ich war aber auch noch nie bei einem.“
„Was?!“, entfuhr es mir unabsichtlich laut, sodass ich einen genervten Blick von Risa erntete. Ich lächelte entschuldigend und verfiel dann in einen verschwörerischen Flüsterton. „Du warst noch nie bei einem Erntedankfest? Gab es so etwas bei euch nicht? Das kann ich mir ja gar nicht vorstellen!“ Ich war wirklich schockiert.
„Ich war aber auch noch nie bei einem...“, flüsterte Sukira, die neben Nytra saß. Ich schaute die beiden an, als hätten sie gerade verkündet, sie kämen von den Monden.
„Mach da doch jetzt nicht so eine große Sache draus“, grinste Nytra verlegen. „Wir reden da später drüber. Risa hat uns jetzt gerade auf dem Schirm.“ Tatsächlich ließ sie uns nicht aus den Augen, sodass ich schnell wieder nach vorne schaute.
Risa erklärte, dass der zweite Jahrgang sich um das Essen kümmern würde, demnach waren wir für die Dekorationen zuständig. Dafür würden wir heute anfangen Blätter zu sammeln, die wir dann in den nächsten Tagen trocknen würden.
Nachdem alle ihre Jacken geholt hatten, traf sich die ganze Klasse draußen, um gemeinsam durch das Tor der Akademie zu gehen. Risa meldete uns bei den Drittklässlern, die zu beiden Seiten Wache hielten ab, und machte sich dann mit uns auf den Weg in ein nahe gelegenes Waldstück.
Dort sammelten wir dann bis etwa zehn Uhr Blätter, bauten einen riesigen Laubhaufen, in den natürlich jeder einmal reinspringen musste und alberten überhaupt viel herum. Die Vorfreude machte uns ausgelassen und es war mal was anderes, als immer drinnen zu sitzen.
Letztendlich wurde es aber doch Zeit, zur Akademie zurückzugehen. Dort führte Risa uns zu einer Tür in der Ostseite der Mauer, zwischen Lehrer- und Schülergebäude. Dahinter befand sich ein länglicher Raum direkt in der Mauer. Risa schaltete das Licht ein und ließ uns hineingehen. „Das ist der Dekorationsraum. Hier bewahren wir alles mögliche an Material auf, das wir für Feste benutzen“, erklärte sie. Neugierig schaute ich mich um. Hier gab es alles mögliche an Werkzeugen, von denen ich gar nicht wusste, wofür man sie alle benutzen sollte, in einer Ecke lagerten weiße Steine, in einer anderen dünnes Holz. Auf einem Regal sah ich Gläser mit Pinseln und vielen bunten Farben stehen und an den Wänden hingen verschieden große Sägen.
Risa ging zu einem Tisch hinüber auf dem ein paar glatte Matten aus eng verwobenen, sehr dünnen Fasern lagen. „So, jetzt legen wir die Blätter hier auf die Matten. Passt auf, dass jedes Blatt einzeln liegt. Wenn eine Matte voll ist, legt eine neue Matte drüber.“ Die Matten waren jedoch groß und wir hatten gar nicht so viele Blätter gesammelt, sodass wir nur drei füllten. Das sah irgendwie noch etwas jämmerlich aus, die Mischung aus Matten und Blättern war gerade so hoch wie meine Fingerspitze. „Das ist aber ein bisschen wenig, oder?“, wandte da ein Junge aus der Klasse ein.
Risa lachte und sagte: „Keine Sorge. Die anderen Klassen gehen auch noch Blätter sammeln. Dann sollten wir bis Freitag genug haben. Außerdem machen wir ja auch noch andere schöne Sachen.“
„Machen wir auch was mit den Farben?“, fragte ich gespannt. Bei uns im Dorf gab es keine richtigen Farben. Zumindest nicht so bunte. Wir Kinder hatten zwar manchmal Kohle zum Malen benutzt oder Erde und Sand, aber richtige Farben waren teuer und konnten nur in größeren Städten gekauft werden. Deswegen hatte es mich so überrascht, an der Akademie welche zu sehen.
Zu meiner Enttäuschung schüttelte Risa jedoch den Kopf. „Das tut mir leid, aber die Farben sind zu wertvoll dafür. Sie dürfen nur in ganz seltenen Ausnahmefällen benutzt werden.“ Ich hatte mir schon so etwas gedacht, trotzdem war es ein wenig traurig.
Risa und ein paar andere Schüler legten dann noch einen großen, flachen Stein, der in etwa die Ausmaße der Matten hatte, auf den Stapel, der die Blätter durch sein Gewicht platt pressen würde. Danach gingen wir wieder ins Gebäude zurück und Risa erzählte uns noch etwas über die Bedeutung der Erntedankfeste und ließ uns ein paar Wörter dazu schreiben. Dann war auch schon Zeit für das Mittagessen.
ZORA
Am Dienstag war meine Klasse dran, im Wald Blätter sammeln zu gehen. Ich genoss es, mir auch morgens schon die Beine vertreten zu können. Das stundenlange Sitzen im Klassenraum machte mir keinen wirklichen Spaß. Wir entdeckten die Überreste des Laubhaufens der A und bauten direkt daneben einen größeren, um hinterher damit angeben zu können.
Auch ich war beeindruckt vom Dekorationsraum, den Arisa, Nytra und Sukira mir schon beschrieben hatten. Ich fragte mich, ob wir wohl auch noch mit den anderen Sachen arbeiten durften. Ich hätte zu gerne etwas aus den schmalen Holzplatten ausgesägt oder etwas geschnitzt. Leider tauschten wir jedoch erst mal nur die Blätter der A gegen unsere aus und sammelten diese auf einem Tisch.
Dann fragte Hiko jedoch zum Glück, wer sich denn mit Holzarbeiten auskannte und Lust hätte, etwas zu machen. Sofort meldete ich mich freiwillig. Ich freute mich zwar mindestens so sehr auf das Fest wie Arisa, aber bisher waren die Vorbereitungen eher langweilig gewesen. Gestern hatten wir den ganzen Morgen damit verbracht, darüber zu reden, wie und warum wir das Fest überhaupt feierten und ein paar neue Wörter dazu zu lernen. Dann hatten wir alle aufschreiben müssen, wie wir Zuhause feierten oder was wir uns für das Fest wünschten und wer wollte, hatte das vorlesen können. Alles in allem also, an sich ganz schön, für mich aber zu wenig praktisch.
Wir hatten noch zwei Stunden Zeit, in denen wir einiges zustande brachten. Hiko und Dorina, die ziemlich gut zeichnen konnte, malten verschiedene Dinge auf, die zur Jahreszeit passten, die die anderen dann aussägten. Ich schnitzte in der Zeit einen etwa faustgroßen Kürbis mit grimmigem Gesicht. Den konnte man zwar nicht so gut aushöhlen wie die echten Zuhause, doch ich fand, dass er mir ganz gut gelungen war.
Stolz präsentierte ich diesen beim Mittagessen den anderen. Die staunten nicht schlecht. Nytra und Arisa waren neidisch, weil sie heute nur Bildchen aus Papier für die Fenster im Klassenraum gemacht hatten. Die Jungs hatten auf einmal einen riesigen Respekt vor mir, da die meisten Mädchen, die sie kannten, scheinbar nie zu so etwas fähig gewesen wären. Das rief dann natürlich Inaga auf den Plan, die grinsend erklärte, die meisten Akademie-Mädchen seien jedoch anders als diese 'meisten' Mädchen. Tanya stimmte ihr zwar heftig zu, doch ich sah das alles nicht so eng. Jeder hatte seine eigenen Interessen und das war vollkommen in Ordnung.
Am Nachmittag hatten wir noch normales Training. Der langsam wieder einsetzende Muskelkater machte mich froh, dass wir am Freitag keinen normalen Unterricht und kein Training hatten. Stattdessen würden wir morgens zu Ende dekorieren und am Nachmittag würde im Speisesaal die große Feier mit dem Festessen stattfinden. Mein Magen knurrte, wenn ich nur daran dachte...
TANYA
Die C war mittwochs damit dran, einen Ausflug zu machen und den Dekorationsraum zu benutzen. Zumindest wären wir das gewesen, hätte Raiga nicht erklärt, dass er das Blätter sammeln lieber Andra Kazu und der D überließ. Wenigstens in den Dekorationsraum gingen wir. In den letzten beiden Tagen hatten wir fast ganz normalen Unterricht gemacht. Zwar beschäftigten sich sowohl die Texte, als auch die Rechenaufgaben mit dem Thema Erntedank, doch so richtig an Dekorationen gearbeitet hatten wir noch nicht. Ich schloss daraus, dass Raiga so wenig für diese Zeitverschwendung übrig hatte, wie ich.
Es ging mir gar nicht um das Erntedankfest selbst, das war meiner Meinung nach eine sehr schöne Idee, die auch den Zusammenhalt im Jahrgang und auch zwischen dem ersten und zweiten Jahrgang stärken würde. Aber eine ganze Woche damit zu verschwenden, Dekorationen zu machen, die man später wegschmeißen würde, das war einfach nur unmöglich. Da könnten wir besser weiter Unterricht machen wie bisher.
Leider sah das der Großteil meiner Klasse nicht so und damit sie wenigstens etwas von der ganzen Sache hatten und sich nicht ganz so ungerecht behandelt fühlten, hatte Raiga sich wohl gedacht, dass wir wenigstens den Dekorationsraum nutzen könnten. Dort wurden wir in Gruppen aufgeteilt, die sich relativ frei überlegen durften, was sie machen wollten. Es musste nur irgendwie mit dem Erntedankfest zu tun haben.
Ich hielt mich so gut wie möglich raus und versuchte, mir meine Langeweile nicht zu sehr anmerken zu lassen, scheiterte damit jedoch scheinbar kläglich.
„Du siehst aus, als ob du überhaupt keinen Bock hättest“, grinste Annika mich an, als ich ihr dabei zuschaute, wie sie etwas mit Kohle auf ein Brett zeichnete.
„Ist es so offensichtlich?“, grinste ich verzweifelt zurück. „Ich bin froh, wenn dieser Vormittag vorbei ist...“
„Freust du dich denn gar nicht auf das Fest?“, sie klang ein wenig enttäuscht, was mich etwas aus der Bahn warf. Aus einem unbestimmten, aber heftigen Gefühl heraus, wollte ich nicht, dass sie enttäuscht von mir war.
„Doch, natürlich. Das wird bestimmt ganz toll“, sagte ich schnell. Zu schnell, ihrem zweifelnden Blick nach zu urteilen. „Hey, ich meine das ernst. Ich freue mich wirklich auf Freitag, aber dieses ganze dekorieren interessiert mich halt einfach nicht, weißt du? Ich habe kein Händchen dafür und würde lieber wieder Unterricht machen.“
Das schien als Erklärung akzeptabel zu sein und so lächelte sie mich wieder an. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich ihre blau-violetten Augen wieder aufleuchten sah. Mittlerweile erinnerte sie mich nicht mehr so sehr an Erika, sondern war mir als eigene Person wichtig geworden. „Was heißt hier, du hättest kein Händchen dafür! Versuch es doch erst einmal. Du hast doch noch gar nichts gemacht“, grinste sie und hielt mir ihr Brett und die Kohle hin.
„Vergiss es. Ich kann überhaupt nicht zeichnen“, grinste ich abwehrend.
„Kann gar nicht sein, du hast doch so eine schöne Schrift. Komm, wir machen etwas zusammen“, schlug sie dann vor und nahm meine Hand. Ich musste die Kohle festhalten, während sie mit mir zusammen ganz schnell einen Apfel skizzierte. Mit Schattierungen und allem... Beeindruckt schaute ich an, was wir da zustande gebracht hatten.
„So und jetzt du. Braucht auch nicht ganz so gut werden, denk einfach daran, wie ich es gerade gemacht habe“, lächelte sie. Ich nickte. So schwer hatte das gar nicht ausgesehen und ich wusste ja noch wie es ging. Also tat ich mein bestes, ihre Bewegungen nachzuahmen... und scheiterte auf ganzer Linie. Verzweifelt schaute ich Annika an.
„Guuuut...“, sagte diese gedehnt. „Ich hätte dir glauben sollen. Ich habe keine Ahnung, wie du das hingekriegt hast...“ Sie grinste schief. Dann schien sie jedoch zu überlegen. Sie sprang auf und holte ein neues Brett und ein zweites Stück Kohle.
„Annika, ich glaube nicht, dass es Sinn macht, es noch mal zu versuchen. Du hast doch gesehen, dass ich es wirklich nicht kann...“, protestierte ich schwach.
„Also zu erst einmal klingt das aber mal so gar nicht nach der Tanya, die ich kenne und die bis zum Umfallen das Laufen übt, obwohl sie es nicht kann. Beim Zeichnen ist es genauso. Nur Übung macht den Meister“, wies sie mich zurecht. Ich seufzte, da sie recht hatte und beschloss, mich meinem Schicksal zu ergeben. „Andererseits sollst du es jetzt auch gar nicht nochmal versuchen. Da kriegen wir nur Ärger mit Raiga, wenn wir die ganzen Bretter zum üben nehmen. Wie wäre es, wenn du stattdessen einfach versuchst, etwas zu schreiben?“
Ich schaute sie verwundert an. Auf die Idee war ich noch gar nicht gekommen. „Was soll ich denn schreiben?“
Sie schlug mir leicht die Fingerknöchel vor die Stirn. „Sag mal, ist dein Kopf auf einmal hohl geworden? Ein bisschen was überlegen kannst du dir ja wohl selber“, grinste sie und machte sich dann daran, auf dem anderen Blatt zu retten, was noch zu retten war.
Ich schaute erst mal eine ganze Weile nur auf das Brett vor mir und dachte nach, was ich denn jetzt schreiben sollte. Einen ganzen Satz? Ein Wort? Es musste ja was mit Erntedank zu tun haben, kam mir dann in den Sinn.
Kreativ wie ich (nicht) war, schrieb ich also das Wort 'Erntedankfest' auf das Holz. Das schien mit seinen dünnen Strichen jedoch etwas mager auf der breiten Fläche, sodass ich einfach anfing die Striche nach uns nach zu verbreitern und ein paar Schnörkel hinzuzufügen. Ich konzentrierte mich so sehr darauf, dass ich gar nicht mehr merkte wie die Zeit verging. Erst als Annika mir meinen Namen fast ins Ohr schrie, kam ich wieder in der Realität an.
„Tut mir leid, aber ich wollte dich nicht anstoßen, sonst hättest du dich vielleicht vermalt“, erklärte sie. „Raiga hat gesagt, wir sollen jetzt aufräumen. In zehn Minuten gibt es Mittagessen.“
Ich hatte nichts davon mitbekommen. Das wiederum hatte Raiga jedoch gemerkt. Er kam zu uns herüber und fragte ungewohnt humorvoll: „Na, worauf hast du dich denn da so konzentriert, dass du mich nicht einmal mehr hören konntest?“ Ich zeigte ihm das Holzstück und er zog anerkennend die Augenbrauen in die Höhe. „Das ist aber echt gut geworden“, lächelte er. Dann ging er weiter und schaute nach den anderen Schülern.
„Da hat er recht. Vor allem dafür, dass du am Anfang keine Lust hattest, ist das echt gut geworden“, stimmte Annika nachdenklich zu. Stolz schaute ich mir mein Werk noch einmal selbst an und fand, dass die beiden wirklich recht hatten. In breiten, kunstvollen Buchstaben stand das Wort da.
Zufrieden präsentierte ich wie Zora am Tag zuvor mein Werk am Mittagstisch. Arisa uns Zora beglückwünschten mich, während Nytras grüne Augen vor Neid funkelten. Doch auch sie gab zu, dass es 'nicht schlecht' sei. Die Jungs waren heute zu fertig, um groß zu reagieren, die Lehrer hatten den zweiten Jahrgang den ganzen Vormittag durch den Wald gehetzt, um Pilze zu sammeln. Dabei wurde natürlich ihr Wissen über essbare und giftige auf die Probe gestellt und so mancher hatte eine schlechte Note und Zusatzhausaufgaben bekommen.
INAGA
Gelangweilt streckte ich mich. Der Unterricht des ersten Jahrgangs war beim zweiten Mal echt noch schlimmer. Zum gefühlt tausendsten Mal verwünschte ich die Umstände, die mich gezwungen hatten, zu wiederholen. Jetzt saß ich hier, umgeben von Kindern im Unterricht einer Frau ohne Durchsetzungsvermögen. Die neuen Mitschüler in meiner Klasse waren auch nicht sonderlich interessant und in meinem Zimmer war Sala... Ich hätte an diesem Morgen echt kotzen können.
Die dumme Zicke hatte heute wieder Ärger gemacht, weil ich ihr 'Kunstwerk' aus Raigas gestrigem Bastelunterricht ein Stückchen an die Seite gestellt hatte. Sie hatte es auf der Fensterbank platziert, sodass man das eine Fenster nicht mehr aufmachen konnte. Das war natürlich hochgradig unpraktisch, weswegen ich es auf ihren Schreibtisch gestellt hatte. Gestern Abend hatte sie es nicht mehr bemerkt, heute morgen machte sie mir eine Szene, von wegen, ich dürfe ihre Sachen nicht anfassen.
Dann hatte sie einen minutenlangen Heulkrampf bekommen, weil das hier ja doch alles so schrecklich war und wir einfach an ihre Sachen gingen und Viererzimmer ja so furchtbar waren und sie sooo viel lieber Zuhause wäre, vor allem jetzt zum Erntedankfest. Dorina und ich hatten uns unfassbar bemühen müssen, um sie dann irgendwie wieder zu beruhigen. Ich stöhnte leise, bei der Erinnerung daran.
Ich beneidete Annika, die sich einfach raushalten konnte, doch meine Rolle war die, der fürsorglichen älteren Mitschülerin, die schon zum zweiten Mal der Jahrgangssprecherin half und sich mit der ganzen Stufe verstehen musste. Es wäre sicher sinnvoller gewesen, in der 2A zu bleiben, die unter Amaya jetzt bestimmt unzählige Tricks lernte, einfacher an Informationen zu kommen.
„Hey, was ist denn los?“, fragte Amelie besorgt. Sie saß neben mir und war ein ganz nettes Mädchen. Sie schien auch ganz gut zu sein. Vielleicht würde sie auch in den dritten Jahrgang kommen. „Irgendwie bist du heute nicht ganz du selbst...“, murmelte sie und schaute mich aus großen rosaroten Augen an.
Ich lächelte etwas müde. „So fühle ich mich auch. Ich weiß auch nicht, was los ist... Vielleicht nur Mädchenkram, weißt du?“
Sie verstand sofort, nickte und stellte keine weiteren Fragen. Die meisten Nare hier waren so was von verklemmt. Wenn man nur was in der Richtung andeutete, verstummten sie und man hatte seine Ruhe. Ich vermisste die offenen Gespräche Zuhause...
Ich spürte einen intensiven Blick auf mir und schaute mich um. Rileys blaue Augen verfolgten jede meiner Bewegungen und Gefühlsregungen. Dämlicher Kleiner, meinte der, er müsse mich überwachen? Dem würde ich gleich eine kleine Abreibung verpassen. Wenigstens das hatte ich mir beibehalten können. Ich durfte auch hier, nach Belieben die Jungs fertig machen.
Andra erklärte nämlich jetzt, dass wir heute in den Wald gehen würden. Keine große Überraschung, da die anderen Klassen das zuvor schon getan hatten. Wir hatten in den letzten Tagen schon im Klassenraum Dekorationen gebastelt, weil Andra wahrscheinlich ahnte, dass sie heute mit uns nichts mehr schaffen würde. Ich zollte ihr ironischen Respekt dafür, dass sie erkannt hatte, dass sie heute keine Kontrolle mehr über uns haben würde, sobald wir das Tor der Akademie verließen.
Oder besser gesagt, ab jetzt sofort. Sobald sie gesagt hatte, wir dürften unsere Sachen holen, sprang die Klasse, angeführt von den frechsten Jungs, auf und rannte aus dem Klassenraum. Das verlief nicht im Mindesten geordnet und war von ihr auch so nicht erlaubt worden, war uns aber egal.
Durch meine Vorbildposition, war ich gezwungen, zu warten, bis sie uns erlaubte, zu gehen. Mit mir warteten nur noch etwa fünf oder sechs andere, die schon etwas reifer oder einfach ruhiger waren. Andra wirkte mal wieder am Boden zerstört und sah aus, als würde sie gleich einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich seufzte innerlich auf.
„Andra, dürfen wir dann gehen?“, hakte ich nach. Die anderen waren mitten in ihrem Satz aufgesprungen, den sie dann nicht zu Ende gesprochen hatte.
Sie schaute mich erschreckt an. „Was? Äh, ja, natürlich! Geht eure Jacken holen...“
Sie ging mit uns nach draußen auf den Flur, auf dem uns das Unheil in der vertrauten Form Raigas bereits erwartete. Seine gelben Augen glühten fast in dem schmalen Lichtstrahl, der durch den Spalt der geöffneten Tür des Klassenraums der C fiel. Selbst mir wurde mulmig, als ich diesen Blick sah, obwohl ich wusste, dass er sich nicht gegen mich richtete. Der Typ war wirklich gefährlich, auch wenn die meisten das noch gar nicht ahnten.
„Andra Kazu“, wandte er sich an die Lehrerin, die zitternd vor ihm stehen blieb. Wir machten, dass wir möglichst leise und schnell wegkamen. Die Standpauke, die folgte, wollte keiner von uns miterleben.
Als ich an der Tür von der A vorbei kam, nickte ich kurz Risa zu, die besorgt den Flur hinunter schaute und seufzend beobachtete, wie ihre Schwester belehrt wurde. Sie nickte kurz zurück, in ihren Augen stand Trauer, doch das Lächeln, dass sie mir schenkte, drückte Respekt dafür aus, dass wir Andra das Leben wenigstens nicht auch noch schwer machten.
Ich bekam ganz kurz ein schlechtes Gewissen, dass ich das nur aus einer Pflicht und nicht aus Überzeugung tat, doch das Ergebnis war ja dasselbe. Außerdem hätte sie sicher auch Verständnis für mich gehabt, wenn ich mich so verhalten hätte, wie ich normalerweise war. Schließlich hatte sie auch etwas für Nytra über und die war mir eigentlich charakterlich am nächsten.
Nachdem ich meine Jacke geholt hatte, traf ich vor dem Tor auf den Rest meiner Klasse, die sich dort in einer großen Gruppe sammelte. Das Tor stand zwar offen, wurde aber vom dritten Jahrgang versperrt. Mit gezückten Waffen standen sie vor den unruhigen, diskutierenden Schülern. Das Spektakel war lächerlich und gefährlich, würde ihnen aber eine gute Lehre sein.
Andra kam erst jetzt aus Richtung des Gebäudes angestiefelt. Trotz roter Augen, die eindeutig belegten, dass sie geweint hatte, hatte sie einen ungewöhnlich entschlossenen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie bahnte sich einen Weg durch die Schülergruppe und stellte sich vor die Drittklässler.
„Ruhe jetzt!“, schrie sie mit zitternder Stimme. Erstaunt über dieses ungewohnte Verhalten, verstummten die meisten wirklich. „Ich habe gesagt, Ruhe!“, versuchte sie es noch einmal, um auch den Rest leise zu bekommen. Die Drittklässler mit ihren Waffen traten auf einen Wink einen Schritt näher heran. Das ließ den Rest verstummen.
„Sooo, das sieht doch besser aus“, kam eine herablassende Stimme von oben. Mit einem Sprung landete Finja Poll, deren Gruppe scheinbar jetzt für das Tor zuständig war, hinter den Drittklässlern, die sich sofort entspannten und die Waffen wegsteckten. Sie war eine große Frau mit halblangen, wilden blonden Haaren, die sie grundsätzlich offen trug. Auf ihrem Rücken hing ein Schwert, das für eine normale Frau zu schwer wäre. „Wer macht hier Ärger vor meinem Tor?“, fragte sie dann scharf und packte den Griff.
„Klasse 1D“, antwortete Andra fest. Ich sah die Wut in ihren Augen. „Wir wollten eigentlich raus in den Wald Blätter sammeln. Meine Klasse scheint jedoch andere Pläne zu haben. Ich werde mich jetzt darum kümmern“, erklärte sie dann.
Finja, die wahrscheinlich ahnte, dass es nicht gut wäre, Andras neu gefundenes Durchsetzungsvermögen in Frage zu stellen, nickte und schwieg. Sie ließ die Hand wieder an ihre Seite sinken, wirkte jedoch alles andere als entspannt.
„So, ihr denkt also nach zwei Monaten immer noch, dass ihr mir auf der Nase herum tanzen könnt, hm? Das heute war jetzt einmal zu viel. Ich bin vielleicht nicht wie Raiga oder Finja hier hinter mir. Aber ich bin trotz allem eine Respektsperson für euch.
Ich wäre heute mit euch nach da draußen gegangen und ihr hättet einen schönen Vormittag haben können. So geht das jedoch nicht. Es werden jetzt alle Schüler außer Inaga, Amelie, Milan, Maria und Bari, die sich vorbildlich verhalten haben, auf ihre Zimmer gehen. Für den Rest des Tages habt ihr Zimmerarrest. Wer nicht bis 10 Uhr morgen früh eine schriftliche Entschuldigung abgegeben hat, ist vom Erntedankfest am Nachmittag ausgeschlossen“, erklärte sie kalt.
„Die Schüler des dritten Jahrgangs werden kontrollieren, ob der Zimmerarrest eingehalten wird“, fügte Finja unterstützend hinzu und lächelte bedrohlich. „Sollte denen jemand auffallen, werden sie mich holen. Und ich glaube nicht, dass ihr das wollt...“ Sie ließ den Blick einmal über die Gruppe schweifen. Es herrschte eine eisige Stille. Finja wollte man nicht zum Feind haben... das wusste ich noch von letztem Jahr. Ich hatte sie mit den damaligen Zweitklässlern erlebt.
„Ihr könnt dann gehen. Verschwindet, bevor ich euch Beine mache!“, stieß sie noch einmal drohend hervor, als alle wie angefroren stehen geblieben waren. Schneller als Andra noch irgendwas sagen konnte, waren die anderen auch schon im Gebäude verschwunden.
„Respektloser Haufen...“, murmelte Finja dann und legte Andra mitfühlend eine Hand auf die Schulter. Sie seufzte und wirkte auf einmal überhaupt nicht mehr bedrohlich. „Alles in Ordnung mit dir? Hast bestimmt wieder was von Raiga zu hören bekommen, hm?“, lächelte sie schief.
„Ach, ist schon gut. Er meint es ja auch nur gut mit mir. Aber ich weiß trotzdem nicht, ob ich das hier wirklich schaffen kann...“, gab Andra zu, die scheinbar vollkommen vergessen hatte, dass wir noch da waren und jedes Wort mithörten.
„Du musst dich ein bisschen mehr anstrengen, das ist wohl wahr. Aber es sind deine ersten zwei Monate. Du hast bei mir gelernt, auch wenn du damals nicht im dritten Jahrgang warst. Solange deine Kampffähigkeiten nicht eingerostet sind, werden die früher oder später schon lernen, Respekt vor dir zu haben. Notfalls bin ich auch immer bereit, dir die Erinnerung aufzufrischen“, grinste Finja dann wieder breit und verschlagen.
„Ich denke, das wird nicht nötig sein“, antwortete Andra mit einem beinahe ängstlichen Lächeln. Dann schienen wir ihr doch wieder einzufallen und sie sagte schnell: „Außerdem muss ich jetzt auch mit den anderen in den Wald. Das war schließlich so geplant und ein paar Blätter zum Dekorieren brauchen wir auch noch...“
Finja lachte laut und ging aus dem Weg. „Ja,ja... War ja nur ein Angebot. Macht's gut, wir sehen uns dann morgen Nachmittag“, sagte sie noch und ging dann an uns vorbei auf den Schulhof.
„So... dann gehen wir jetzt schön in den Wald. Es tut mir leid, dass ich die anderen so schwer bestrafen muss, aber so geht das nun einmal nicht. Wer hier an der Akademie bleiben will, muss Respekt mitbringen oder ihn lernen. Wer dazu nicht bereit ist, muss gehen“, erklärte sie nachdenklich und ging dann voran. Sie hatte da vollkommen recht, deswegen sagte auch keiner von uns etwas dazu.
NYTRA
Der Vorfall mit der D war auch am Freitag noch das Thema an der ganzen Akademie. Während die ersten ihre Entschuldigungen schon geschrieben und abgegeben hatten, sahen andere es überhaupt nicht ein, sich zu entschuldigen, sondern fühlten sich noch ungerecht behandelt, dass sie für eine so kleine Sache so schwer bestraft würden.
Wann immer ich etwas in der Art hörte, musste ich mich zurückhalten, um nicht die Augen zu verdrehen. Ein bisschen Zimmerarrest und eine schriftliche Entschuldigung war keine schwere Bestrafung. Es war lächerlich und wirklich kindisch. So wie dieser ganze Vorfall. Selbst ich wusste, dass es bei dieser Sache um etwas viel größeres ging, als die Sache am Donnerstag.
Die Klasse hatte einfach keinen Respekt vor Andra, obwohl diese sich im Vergleich zu ihrer Schwester mehr Mühe gab. Doch Risa hatte eben mehr Durchsetzungsvermögen und hatte von Anfang an klar gemacht, dass sie das Sagen hatte. Andra hatte sie Laufen lassen, bis es nicht mehr ging und musste eben jetzt durchgreifen. Und darüber beschwerten die sich jetzt... Diesmal konnte ich das Augenrollen nicht unterdrücken.
„Was ist los?“, fragte Sukira verwundert. Wir waren eigentlich gerade dabei den Speisesaal zu dekorieren und es herrschte trotz gestern eine ausgelassene Vorfreude.
„Ach, nicht so wichtig“, grinste ich. Ich hatte keine Lust jetzt wieder davon anzufangen, wir hatten gestern schon beim Mittag- und Abendessen darüber geredet und beschlossen heute nicht mehr daran zu denken. Heute fand das Erntedankfest statt und alle waren sich scheinbar einig, dass es ein wunderschöner Tag werden würde. Ich war mir da zwar nicht so sicher, doch ich wollte es ihnen nicht kaputt machen.
„Na, wenn du meinst“, lächelte Sukira dann und streckte sich nach einem hohen Haken, an den sie ein kleines, aus Holz ausgesägtes Ährenbündel, dass an einer Schnur befestigt war, hängen wollte. Ich wollte ihr helfen, aber auch ich kam nicht ganz dran. Da kam Arisa, die neben uns ebenfalls etwas aufgehangen hatte und hatte komischerweise kein Problem mit dem aufhängen.
Ich schaute sie verwundert an. Als sie an die Akademie gekommen war, war sie doch noch kleiner gewesen als ich? „Sag mal, bist du gewachsen?!“, fragte ich fassungslos.
Arisa wirkte jetzt ebenfalls verwundert, schaute an sich herunter und dann zu mir. „Scheint so. Wo ist das Problem?“, fragte sie und lächelte.
„Sukira, guck mal, wer ist größer?“ Ich stellte mich an Arisas Rücken und versuchte mich innerlich so weit zu strecken wie möglich, obwohl mir natürlich klar war, dass das keinen Sinn hatte.
„Arisa ist größer als du. Wenn auch nur ein ganz winziges bisschen“, verkündete Sukira dann und schaute mich schüchtern an.
„Wann ist das denn passiert?“, fragte ich gespielt verzweifelt. „Wie kann man denn in zwei Monaten so viel wachsen?“
„Na, in unserem Alter wächst man noch so schnell. Du wächst bestimmt auch noch, Sukira“, lächelte Arisa dann verschmitzt. Ich glaube, sie freute sich darüber, dass sie gewachsen war.
„Und was ist mit mir?“, fragte ich dann, da sie nur Sukira angesprochen hatte.
„Du bleibst am besten einfach so wie du bist, Nytra. Dann brauche ich mich auch nicht mehr von dir ärgern lassen...“, grinste sie fies.
„Ach ja? Und wie willst du das verhindern?“, fragte ich ein wenig beleidigt.
„Na, jetzt musst du aufpassen, was du sagst. Sonst spuck ich dir auf deinen kleinen Kopf“, sie streckte mir die Zunge raus.
„So viel größer bist du ja nun noch nicht!“, motzte ich sie an. Dann brachen wir alle drei in lautes Lachen aus.
„Was ist denn hier los?“, fragte Inaga grinsend und kam zu uns herüber.
„Ach, Nytra ist nur frustriert, dass Arisa jetzt größer ist als sie“, grinste Sukira.
„Ach, wirklich? Na, mich werdet ihr so schnell nicht einholen“, entgegnete Inaga schadenfroh, sie war noch immer ein ganzes Stück größer als wir drei.
„Du bist ja auch zwei Jahre älter!“, wandte ich empört ein.
„Tja, das heißt dann wohl, dass das noch ein paar Jahre so bleiben wird“, jetzt streckte auch sie mir die Zunge raus.
„Hey, Mädels! Weniger quatschen, mehr Sachen aufhängen, wir wollen es doch für nachher schön haben!“, rief Tanya zu uns hinüber.
Ich hätte es zwar nicht erwartet, doch der Nachmittag wurde wirklich noch unglaublich schön. Gegen 16 Uhr fanden sich alle Erst- und Zweitklässler und ihre Lehrer im Speisesaal ein. Die Drittklässler kümmerten sich ausnahmsweise darum, dass das Essen, das die Zweiten vorbereitet hatten, zu Ende gekocht oder noch einmal erwärmt und dann verteilt wurde.
Es gab verschiedene Suppen, einen wunderbaren Eintopf, selbst gemachte Nudeln, unzählige Soßen und sogar für jeden, der wollte ein großes Stück Braten. Als wir eigentlich schon dachten, das Essen sei vorbei und uns alle eigentlich zu voll gestopft hatten, um noch irgendetwas runter zu bekommen, gab es noch eine Überraschung. Die Zweitklässler hatten als Nachtisch noch unzählige süße, kleine Apfelkuchen gebacken. Trotz voller Bäuche machten wir uns noch glücklich darüber her, normalerweise gab es schließlich sehr selten etwas süßes, geschweige denn Kuchen.
„Wenn ihr mir nun eure Aufmerksamkeit schenken würdet“, hallte dann die Stimme des Leiters durch die Halle. „Zunächst einmal hoffe ich, dass es euch allen gut geschmeckt hat und ihr satt geworden seid.“ Er lächelte amüsiert, was ihn mal wieder sympathisch wirken ließ.
„Des Weiteren hoffe ich, dass ihr diese gesamte Woche, die ja mal anders ablief, als der gewöhnliche Unterricht, auch genossen habt. Diese Woche mit dem Erntedankfest soll ein Geschenk der Akademie für euch Schüler sein. Eine entspannte, schöne Woche, gekrönt mit einem gemeinsamen Fest, um sich nicht ganz so vergessen und allein zu fühlen, auch wenn man vielleicht weit weg von Zuhause ist.
Für einige von euch ist das schließlich immer noch schwer, vor allem zu dieser Zeit. Die Tage sind kurz, dunkel und kalt, da vermisst man schon mal sein warmes, geborgenes Zuhause. Doch das ist es, was ich mit dieser Woche deutlich machen will. Die Akademie kann zwar niemals euer eigenes Zuhause mit eurer Familie ersetzen, aber auch hier gibt es Wärme und Geborgenheit.
Wir wissen, dass wir oft viel von euch verlangen, wenn ihr von morgens bis abends lernt und bei Wind und Wetter trainieren müsst. So ist dieses 'Erntedankfest', auch ein Fest, um euch unseren Dank auszudrücken. So, wie wir uns bei einem normalen Erntedankfest für die Ernte bedanken und dafür, dass die Erde ihr Bestes tut, um diese hervorzubringen, bedanken wir uns heute auch bei euch Schülern dafür, dass ihr jeden Tag euer Bestes gebt.“
Er machte eine Pause und ließ diese Worte ein wenig wirken. In der Halle war es unheimlich still. Mich beeindruckte es tief, mir hatte noch nie jemand für so etwas gedankt. Irgendwie fühlte ich mich aber auch unwohl, weil es eigentlich zu viel des Guten war. Schließlich war das, was wir leisteten doch selbstverständlich, oder etwa doch nicht? Ich schaute zu den Tischen, die leer geblieben waren, da sich ein paar Schüler wirklich geweigert hatten, sich zu entschuldigen.
„In einigen Dörfern und Städten gibt es jedoch noch eine weitere Tradition zum Erntedankfest. Und zwar bekommen die Kinder Geschenke. Auch diese Tradition haben wir hier übernommen.
Alle neuen Schüler des ersten Jahrgangs erhalten einen dicken Winterschlafsack. Sie mögen euch jetzt noch etwas groß erscheinen, doch dafür könnt ihr ihn auch noch benutzen, wenn ihr irgendwann erwachsen seid.
Alle Schüler des zweiten Jahrgangs dürfen sich in der Waffenkammer der Akademie eine eigene Waffe auswählen. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass ihr verantwortungsvoll mit diesen umgeht. Sollte irgendjemand negativ auffallen, droht ein Schulverweis und wir werden euch die Waffe natürlich wieder wegnehmen. Auch wenn ich nicht davon ausgehe, dass es dazu kommen muss.
Für diejenigen, die wiederholen haben sich die jeweiligen Klassenlehrer etwas ausgedacht, das ihr stattdessen gut gebrauchen könnt.“
Als er eine weitere Pause machte, begannen natürlich alle wie wild zu tuscheln. Arisa und Zora strahlten über das ganze Gesicht und auch Tanya und Sukira freuten sich sichtlich, wenn auch deutlich verhaltener. Für die beiden war das wahrscheinlich auch nicht wirklich etwas besonderes. Ich freute mich ehrlich gesagt kaum. Ich war es gewohnt, was materielle Dinge anging, alles zu bekommen, das ich wollte. Das einzige, was auch in mir ein wenig Vorfreude auslöste, war der Gedanke, dass wir nächstes Jahr dann auch unsere eigenen Waffen bekommen würden.
Der Leiter nickte nacheinander zwei Drittklässlern zu, die sich an den Türen zu den Wohnbereichen aufgestellt hatten. Auf dieses Signal hin öffneten sie die Türen und die letzten Schüler der Klasse D betraten den Speisesaal. Sofort eroberte eine angespannte Stille die Halle.
„Schüler der 1D. Ich habe gehört, was gestern vorgefallen ist. Ich habe auch gehört, dass ihr eine Chance bekommen hattet, euch rechtzeitig vor dem Fest zu entschuldigen. Ihr, die ihr jetzt hier steht, habt diese Chance verstreichen lassen. Wenn ich allein entscheiden würde, wäret ihr alle schon gestern von der Akademie verwiesen worden.“
Seine Stimme war schneidend, der Blick eisig. Dann seufzte er tief und fuhr fort: „Ihr habt es einzig und allein der Milde eurer Lehrerin, die ihr so schamlos ausgenutzt habt, zu verdanken, dass ihr bleiben dürft. Sie hat sich trotz eures Verhaltens für euch eingesetzt. Ich würde euch also raten, euch erkenntlich zu zeigen.
Trotzdem soll dies die letzte Verwarnung für euch sein. Derartiger Ungehorsam, sowie sture Uneinsichtigkeit werden an dieser Akademie nicht toleriert. Sollte einer von euch auch nur ein weiteres Mal negativ auffallen, wird derjenige mit sofortiger Wirkung von der Akademie verwiesen. Ich hoffe, ich habe mich klar und deutlich ausgedrückt. Habt ihr das verstanden?“
Kollektives 'Ja' von den circa 8 Jungs und Mädchen, die zumindest teilweise schuldbewusst in der Tür standen. Einige von ihnen wirkten jedoch immer noch uneinsichtig. Ich schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf. So dumm konnte man doch nicht sein. Na, die würden schon sehen.
„Das wäre dann alles von unserer Seite. Genießt den Rest des Abends“, lächelte er dann und verließ mit den anderen Lehrern zusammen den Speisesaal.
Die Drittklässler sammelten die Teller ein und spülten, während die Schüler der jüngeren Klassen sich teilweise auf die Zimmer zurückzog.
„Das gab ganz schön Stress, hm?“, meinte Naro, der mit den anderen älteren Jungs zu uns herüber kam.
„Das kannst du wohl laut sagen. Und es ist so lächerlich. Am schlimmsten ist, dass einige von denen echt so dumm sind, dass weder Finjas noch Waros Drohungen wirken...“, stöhnte Inaga so genervt, wie sie normalerweise nur von Sala sprach.
„Was?! Also dann ist denen echt nicht mehr zu helfen. Ich meine Waro wirkt ja wenigstens die meiste Zeit eher nett und gutmütig, aber wer vor Finja keinen Respekt hat, der ist nicht zu retten...“, auch Gawen schüttelte nur noch den Kopf.
„Wer ist Finja?“, fragte ich dann verwirrt. Ich hatte den Namen noch nie gehört.
„Finja Poll, Lehrerin der 3-3. Ihr habt Glück, dass sie dieses Jahr eine dritte Klasse hat. Wir kennen sie noch von letztem Jahr vom Training mit den damaligen zweiten. Die Frau ist echt eine Marke für sich...“, grinste Jiro und klang beinahe verängstigt.
„Im Training erwartet sie mehr als Raiga und ist dabei mindestens doppelt so sadistisch wie Risa im Unterricht“, erklärte Zeo dann, sodass ich es mir vorstellen könnte. Gut, das klang echt grausam.
„Außerdem ist sie bedrohlicher als Amaya je sein könnte“, fügte Inaga noch hinzu. Ich glaube, in diesem Moment wünschte sich jeder aus meinem Zimmer, ihr niemals über den Weg zu laufen. So langsam war ich doch davon überzeugt, dass mindestens die Hälfte der Lehrer an dieser Schule nicht normal war.
„Das klingt echt heftig. Aber sie hatten ja jetzt zwei Chancen. Wer es jetzt immer noch nicht versteht, der ist selber Schuld“, erklärte Zora dann nochmal.
„Meint ihr, die bekommen trotzdem auch die Schlafsäcke? Ich meine für das Wintertraining nächsten Monat werden wir die ja definitiv brauchen...“, fragte Sukira dann unsicher.
„Ich denke mal, die Akademie wird sie ihnen leihen. Alles andere wäre unverantwortlich. Aber sie werden kein Geschenk bekommen, das hätten sie auch wirklich nicht verdient“, meinte Tanya dann. Naro nickte zustimmend, woraufhin sie ihn dankbar und stolz ansah. Wahrscheinlich froh darüber, dass sie als Klassensprecherin die richtigen Schlüsse gezogen hatte.
„Das Wintertraining, hm? Das wird noch schlimm... Im ersten Jahr ist das so scheiße...“, maulte Zeo jetzt.
„Wärst du nicht sitzen geblieben, müsstest du es nicht nochmal machen“, entgegnete Arisa schnippisch. Sie schien mal wieder sauer auf ihn zu sein, auch wenn ich dieses Mal leider nicht wusste, warum. Dann wandte sie sich jedoch plötzlich in meine Richtung und fragte: „Sag mal, Nytra, wie hat es dir denn jetzt eigentlich gefallen?“
Völlig überrumpelt schaute ich sie einen Moment stumm an. „Ähm... ganz gut, denke ich. Es war echt schön mit dem ganzen Essen und dem Dekorieren und so...“, stammelte ich irgendwas positives zusammen, um nicht meine wahren, negativeren Gedanken auszusprechen. Ich wusste ja, dass sie sich sehr gefreut hatte und wollte es ihr nicht kaputt machen. Für sie schien das ja so etwas wie der Höhepunkt des Jahres zu sein. Ich hatte es wirklich ganz schön gefunden, aber bei weitem nicht so toll, wie sie.
„Und du, Sukira?“, fragte sie dann jedoch schon begeistert weiter. Meine Antwort war wohl gut genug gewesen. Innerlich atmete ich auf.
„Ich fand es großartig. Es war so schön mit allen so viel zu Essen und vor allem die Rede des Leiters hat mich beeindruckt“, lächelte Sukira breit. Sofort begannen alle, darüber zu reden, was er alles gesagt hatte und natürlich auch wieder über die Geschenke.
Mir wurde das alles ein bisschen zu viel, sodass ich mich ziemlich früh zurückzog und ins Bett ging. Morgen war schließlich Samstag, da musste ich wieder früh aufstehen. Außerdem würde ich mich bei den anderen nur schlecht fühlen, weil ich ihre Freude nicht teilen konnte.
'Weil du ein undankbares kleines Scheusal bist', hallten die vertrauten Worte in meinem Kopf wider. Ich machte das Licht aus und drehte mich zur Wand. Wie lange es wohl dauern würde, bis ich ein besserer Nare würde? Aber vielleicht hatte sie ja auch recht gehabt und ich war von Grund auf schlecht...