Ich schlage die Augen auf und blinzele ins helle Licht. Rauschend fährt der Wind durch die Bäume, die die Haltestelle säumen. Das Gequatsche der anderen Schülerinnen und Schüler dringt nur gedämpft in mein Bewusstsein. Ich senke den Kopf und schaue knapp unter meinen Augenbrauen hindurch nach oben. Das grelle Licht des Virsha, der Lichtquelle, die in der Mitte unserer Welt schwebt, brennt wie meist in meinen Augen. Ich wünsche mich zurück ins Dunkel der Tunnel, in denen wir leben. Ein feiner Schweißfilm bedeckt schon jetzt, nach nur fünf Minuten meinen gesamten Körper.
Der Zug fährt ein und bringt einen frischen Luftzug mit sich. Schnell drängen alle ins klimatisierte Innere. Ob sie es wie ich nur eilig haben, aus der Hitze zu kommen oder ob ihre alltägliche Eile sie dazu antreibt, ist mir immer noch ein Rätsel. Langsam gehe ich durch den Gang, alle anderen haben sich längst einen Platz errant. Ich achte nicht auf die missbilligenden Blicke und suche mir gemütlich eine Bank. Dort setze ich mich ans Fenster und schaue hinaus auf die weite, ewig gleiche Landschaft. Gelbe, grüne, braune Felder, Wiesen... nur unterbrochen durch die unzähligen Flüsse und Seen. Selbst da, wo in einer richtigen Welt der Himmel sein sollte, ist nur dieses Bild zu sehen.
Das ist einer der Gründe, warum ich gemieden werde. Ich glaube daran, dass es eine Welt mit einem blauen Himmel gibt. Und ich weiß, dass das die richtige Welt für mich ist. Denn ich war schon einmal dort. Auch wenn sie es vergessen haben, auch wenn sie es nicht glauben. Ich werde die Welt mit dem blauen Himmel wiedersehen. Das ist es, worauf ich warte. Worauf ich die ganze Zeit warte. Doch in dieser Welt, in der sich nie etwas ändert, ist es schwer an seinen Träumen festzuhalten.
Wir erreichen die Schule. Wieder gibt es ein furchtbares Gedränge, weil alle gleichzeitig hinaus wollen. Keiner kann warten, jeder will der erste sein. Ich warte genervt hinter ihnen. Es hat doch gar keinen Sinn, sich so zu beeilen und zu drängeln. Es war noch genug Zeit, um pünktlich in der Klasse zu sein...
Draußen empfängt mich die vertraute Hitze. Es ist die letzte Woche vor den großen Ferien. Vor unseren letzten großen Ferien. Schüler aller Altersstufen tummeln sich auf dem großen betonnierten Schulhof. Ich passiere das Eisentor und schaue zum riesigen Schulgebäude hinüber. Es ist ein hässlicher Klotz mit einer dunklen Klinkerfassade. Unnahbar, kalt, wenig einladend. Kein Ort, an dem ich sein möchte. Aber der Ort, an dem ich sein muss. Der Ort, an dem ich seit 12 Jahren den Großteil meines Lebens verbracht habe.
Auf dem Spielplatz schreien die Grundschüler fröhlich durcheinander. Ja, sie haben noch keine Sorgen. Sie können noch, ohne nachdenken zu müssen, an ihre Träume glauben. Ein Lächeln schleicht sich auf mein ansonsten eher ausdrucksloses Gesicht. Ja, was würde ich nicht geben, um wieder ein Kind zu sein. Um wieder zehn Jahre alt zu sein... Damals war mein Traum wahr.
„Frau Nakara, trödeln Sie nicht herum. Der Unterricht beginnt gleich; begeben Sie sich bitte rechtzeitig in den Klassenraum“, höre ich Frau Martin hinter mir sagen. Genervt verziehe ich das Gesicht. Ich kann mich mit dem 'Sie' nicht anfreunden. Und von Frau Martin, die mich seit dem ersten Schuljahr kennt, ist es einfach nur lächerlich. Aber sie macht das aus Prinzip...
Seufzend mache ich mich auf den Weg. Mit jedem Schritt kommt der Klotz näher, mit jedem Schritt kommt die Tür, das Maul dieses Monsters näher... Und dann verschluckt es mich. Drinnen ist es kühl und still. Die Flure sind vollgestellt mit Trophäen, die Schüler bei verschiedensten Wettbewerben gewonnen haben. Kunst, Musik, Sport... Ja, die Schule hat schon viele Genies in den verschiedensten Bereichen hervorgebracht. Wütend lächele ich. Das ist ein Tipp von Mia, meiner besten Freundin. 'Wenn du nicht vor Freude lächeln kannst, lächle aus Bosheit.'
Ich vermisse Mia. Aber heute ist Montag und montags kommt sie nie zur Schule. Darum gehe ich jetzt auch allein durch diese Hallen, in denen man sich unweigerlich klein und unbedeutend fühlt. Unser Klassenraum liegt im obersten Stockwerk. Als wollte man uns noch einmal daran erinnern, dass wir die größten, also die ältesten an der Schule sind. Allein bei dem Gedanken, mich allein diese Stufen hinauf zu schleppen, bekomme ich Bauchschmerzen. Das alles ist so erdrückend...
Als ich die Klasse betrete, schaut Katrina kurz missbilligend zu mir herüber. Sie ist unsere Klassensprecherin. Sie wird immer dafür gelobt, wie erwachsen sie doch ist. Und das, obwohl sie vor sieben Jahren ebenfalls dabei war. Aber daran scheint sie sich nicht zu erinnern. Ob sie es wirklich vergessen hat, oder es einfach nur ignoriert, weiß ich nicht...
Ich schaue nur genervt zurück und schüttele wie immer den Kopf. Ich finde es traurig, dass sie sich nicht mehr daran erinnert, dass alles mal anders war. Dass es eine Zeit ohne Druck gab, eine Zeit der Freiheit... Damals waren wir uns einig, dass wir uns dagegen wehren wollten. Heute scheint sie sich diesen Druck zu wünschen...
Kurze Zeit später betritt Frau Martin den Klassenraum und stellt wie jede Woche, fest, dass Mia fehlt. Am Anfang hat sie sich darüber noch aufgeregt, doch mit der Zeit hat man es einfach hingenommen. So wie in dieser Welt alles irgendwann einfach hingenommen wird. Der Druck; Mias Abwesenheit; dass es nur diese eine Welt geben soll... All das sind Tatsachen, die keiner mehr hinterfragt. Ich schaue aus dem Fenster und träume mich hinfort.
Träume von Welten die ganz anders sind als diese. Die mehr sind als diese. Das war schon immer so... diese Welt war mir nie genug gewesen. Ich konnte und wollte nicht glauben, dass diese eintönige, alltägliche Realität alles sein sollte. Nein, ich gab nie die Hoffnung auf, dass da draußen noch etwas größeres wartete. Etwas, das mehr war.
Darum war das Tagträumen auch meine Lieblingsbeschäftigung, wenn Mia nicht in der Nähe war. Außer ihr hatte ich keine wirklichen Freunde. Auch das war immer so gewesen. Natürlich hatte ich als Kind einige lose Freundschaften gehabt, doch diese hatten sich mit den Jahren verloren. Unser Verschwinden vor sieben Jahren hatte auch dazu beigetragen. Denn ich war den anderen vorher schon komisch vorgekommen, doch danach noch viel mehr. Schließlich hatte mich das ganze nur in meinem Traum bestärkt.
Der Unterricht zieht sich bis in den Nachmittag hinein. Davon merken wir jedoch nur etwas, wenn wir auf die Uhr schauen. Die Landschaft da draußen vor dem Fenster ändert sich nie. Nicht im geringsten. Ich schaue auf meine Uhr und zähle die Minuten bis zum Klingeln. Um mich herum bemühen sich die meisten zumindest noch aufmerksam zu wirken. Auch wenn sie sich noch so anstrengen würden, jetzt kann sowieso keiner mehr irgendwas behalten... Die Ferien nahen und wir haben schon stundenlang zugehört.
Als das erlösende Klingeln endlich ertönt, erhebe ich mich stöhnend von meinem Platz. Meine Sachen hatte ich längst zusammengepackt und wieder genervte Blicke von Frau Martin und Katrina geerntet. Zum Glück musste ich nicht alles wieder auspacken und länger bleiben, das hatte die Martin Mia und mir auch schon aufgezwungen. Befreit und irgendwo sogar glücklich mache ich mich auf den Weg zum Zug. Selbst wenn ich hätte länger bleiben müssen, wäre das kein Problem gewesen. Die Züge fahren in Abständen von fünf Minuten.
Zuhause erwartet mich niemand. Mein Vater arbeitet den ganzen Tag und meine Mutter hat sich vor Jahren umgebracht. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten mit ihm. Mit seiner Kontrollsucht, mit seinen Beschimpfungen, mit seinem Schreien... Auch für mich ist das schwer zu ertragen, vor allem die ewige Unzufriedenheit und immer das Gefühl zu haben, man seie eine Enttäuschung... Doch ich würde mich nicht umbringen. Nein. Ich würde davor weglaufen, aber ich würde leben. Dafür hatte ich Mia und dafür hatte ich meinen Traum. Und eines Tages würde ich ihn hinter mir lassen und weit weg gehen.
Doch noch nicht. Noch nicht. Noch muss ich zur Schule. Noch kann er mich kontrollieren. Außer, wenn ich mit Mia zusammen bin. Sie ist das einzige in meinem Leben, mit dem ich mich ihm entziehen kann. Sie ist mein Symbol für Freiheit. Das ist auch ein Grund, warum ich sie so sehr liebe.
Ich suche mir irgendeine Konserve aus dem Schrank und erhitze den Inhalt in der Mikrowelle. Je weniger ich schmutzig mache, desto weniger muss ich hinterher aufräumen, desto geringer ist die Chance, etwas zu vergessen oder zu übersehen. Desto geringer ist die Chance, angeschrien zu werden... Ich nehme das Essen mit in mein Zimmer und stelle den PC an. Seit es kein vernünftiges Fernsehprogramm mehr gibt, schaue ich eben im Internet, was ich will.
So vergeht etwa eine Stunde. Gegen fünf Uhr jedoch, verlasse ich das Haus; in der Hand ein Buch. Ich schlendere durch die verlassenen Tunnel und gehe zum Ausgang. An der Oberfläche angekommen, staune ich mal wieder über die Wärme, die nach den kühlen Tunneln ganz wohltuend erscheint. Doch schon nach wenigen Minuten wird mir heiß. Ich laufe hinüber zu einem Waldstück und klettere auf meinen Lieblingsbaum. Es ist eine alte Eiche, mit dicken Ästen, auf denen man gut sitzen kann. Hier ist es schattig, aber hell genug zum Lesen; hier sucht mich keiner und wer nicht weiß, dass ich hier oben sitze, wird mich nie entdecken.
Ich genieße die Ruhe. Auch die Aussicht ist schön und es geht ein leichter Wind. Das hier ist ein Ort, an dem ich entspannen kann. An dem ich frei bin und keine Angst haben muss. Nach einem kurzen Moment, in dem ich noch einmal den Blick über die Landschaft schweifen lasse, vertiefe ich mich in mein Buch. Ich tauche in diese fremde Welt, die so viel außergewöhnlicher ist als unsere. So gibt es dort einen riesigen See, der 'Meer' genannt wird und Transportmittel, die man 'Schiffe' nennt, mit denen man über Wasser fahren kann. Doch auch hier gibt es keinen blauen Himmel.
Eine Weile kann ich mich fortreißen lassen, dann holt mich der Wecker an meiner Uhr wieder in die Wirklichkeit zurück. Wenn ich nicht Zuhause bin, wenn mein Vater zurückkommt, wird er wieder ausrasten. Dann wird er wieder schreien und ich werde ein schlechtes Gewissen haben. Auch wenn ich es besser weiß. Seine Worte tun trotzdem weh.
Seine Laune ist wie immer schlecht. „Und was hast du heute gemacht?“ 'Dasselbe wie immer...', denke ich mir im Stillen, zucke jedoch nur die Schultern. Ich habe keine Lust zu antworten. Ich weiß, worauf das hier hinausläuft. „Benimm dich mal wie ein Mensch und antworte, wenn dich jemand etwas fragt. Du hast doch sowieso wieder nur den ganzen Tag abgehangen“, sagt er missbilligend. „Wenn du das weißt, warum fragst du dann?!“, presse ich zwischen den Zähnen hervor.
„So redest du nicht mit mir“, bedrohlich ragt er vor mir auf. Mein Herzschlag beschleunigt sich unwillkürlich und ich bin bereit, auf alles zu reagieren. „Du kannst mich mal“, das ist zuviel, ich weiß. Aber ich habe keine Lust, mir das weiterhin bieten zu lassen. Er drängt mich in Richtung des Abstellraumes in der Küche. Dieser ist winzig und es gibt dort kein Entkommen. Alles in mir spannt sich an, als er mich hineinschubst. Gerade rechtzeitig strecke ich die Arme aus und drücke gegen die Tür. Er versucht, sie zuzuhalten und abzuschließen, doch das Holz an den Scharnieren knackt.
Er will nicht riskieren, dass die Tür kaputt geht und gibt nach, sofort stürme ich an ihm vorbei. Raus, weg. Einfach nur weg. Mein Puls rast, ich zittere am ganzen Körper. Die Sekunde, die ich brauche, um die Haustür zu öffnen, bringt mich fast um. Dann bin ich draußen. Ich knalle die Tür zu, so fest ich kann und renne um mein Leben. Das wird er mir nicht verzeihen. Heute nicht mehr. Ich muss zu Mia. Ich weiß, dass sie tagsüber nicht da ist, doch abends kommt sie eigentlich zurück.
Als ich sicher sein kann, dass er mir nicht folgt, gehe ich langsamer. Ich bin aus der Puste, zittere immer noch und auch mein Herzschlag liegt sicher noch über 180. Und dann kommen die Tränen. Die verdammten, unaufhaltsamen Tränen. 'Scheiße... Scheiße!', ist alles, was ich denken kann. Ich kann mich nicht beruhigen. Immer wieder sehe ich die Szene vor mir. Spüre die Panik. Der Abstellraum ist so klein, dass ich darin nicht einmal die Arme zur Seite ausstrecken könnte. Die Vorstellung, auf so engem Raum gefangen zu sein... allein bei dem Gedanken schüttelt es mich.
Mia öffnet mir die Tür beim ersten Klopfen. Sie stellt keine Fragen, schaut mich nur erschreckt an. Zum Glück hatte ich noch Schuhe angehabt. Sonst wäre ich ihm vielleicht nicht entkommen... Diese ziehe ich jetzt aus und Mia fragt: „Hast du Hunger? Ich esse gerade.“ Ich schüttele nur stumm den Kopf. „Iss du ruhig. Darf ich nach oben gehen?“, frage ich leise. Ich bin erschreckt wie schwach meine Stimme klingt. „Klar“, nickt sie und ihr wunderschönes dunkles Haar tanzt um ihren Oberkörper. Sie schließt mich nicht in die Arme, auch wenn ich sehe, dass sie es möchte. Aber sie weiß, dass ich das jetzt nicht ertragen könnte.
Mia hat keine Eltern mehr. Ich weiß nicht, was mit ihnen passiert ist. Das ist auch eine der Sachen, die einfach hingenommen werden. Niemand kümmert sich darum. Irgendwie scheint sie jedoch über die Runden zu kommen. Ihre Wohnung ist nicht groß, sie hat nur einen Raum unten und ein Schlafzimmer oben. Seufzend lege ich mich in das vertraute Bett. Ich habe schon oft bei ihr geschlafen. Das Bettzeug riecht nach Mia. Der Duft hüllt mich ein und langsam aber sicher entspanne ich mich. Als ich beinahe einschlafe, kommt Mia und klettert ebenfalls ins Bett. Sanft schmiegt sie sich von hinten an mich. Ihre Umarmung erscheint mir als etwas so gütiges, dass ich neue Tränen nicht aufhalten kann.
„Schh...“, flüstert sie in mein Ohr. „Ist alles gut. Du bist jetzt hier und hier bist du sicher. Ich beschütze dich. Vergiss, was passiert ist. Vergiss, was auch immer er gesagt hat. Du bist gut, so wie du bist. Lass dir das von niemandem ausreden.“ Ihre Stimme ist ruhig und leise. Ich spüre wie wichtig ihr diese Worte sind. Vorsichtig drehe ich mich zu ihr um und umarme sie. „Danke“, flüstere ich leise. Sie lächelt nur sanft. Ihr stehen wie mir die Tränen in den Augen. Ich lege meine Stirn an ihre und schließe die Augen. Ihre warmen Lippen pressen sich auf meine Wange und sie flüstert: „Schlaf jetzt. Wenn du wieder aufwachst, wird es besser sein.“
Sie bleibt neben mir liegen und wartet bis ich einschlafe.
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Nächstes Kapitel:
2: Rückblick I - Die Welt mit dem blauen Himmel