„Oh hey, was machst du denn hier?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen und die Situation aufzulockern.
„Gute Frage. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht so genau. Ich war bei einem Kumpel und der meinte hier wäre eine coole Party, auf der wir uns mal umschauen sollten.“ Er zeigte auf den blonden Typen, mit dem sich Linda immer noch unterhielt.
„Als er das Fass entdeckt hat, wollte er nicht mehr gehen und mittlerweile weiß er wahrscheinlich gar nicht mehr, dass ich mit ihm hier bin, so zu wie der ist.“
„Dem Mädchen, mit dem er spricht gehört das Haus hier. Sie feiert heute ihren 16. Geburtstag“, schrie ich gegen die immer lauter werdende Musik an. Das Lied, dass gerade lief erreichte wohl in diesem Moment seinen Höhepunkt.
„16 erst? Hätte sie älter geschätzt. Wie alt bist du eigentlich?“
„Ich bin auch 16.“, sagte ich nun etwas leiser, da sich das Lied wieder etwas beruhigt hatte.
„Ich bin gerade 19 geworden.“ Er grinste mich schon wieder so blöd an. Unsicher, was ich darauf antworten sollte, fragte ich ihn einfach das, was mir schon die ganze Zeit auf der Zunge gelegen hatte.
„Warum hast du dich eigentlich nicht mehr bei mir gemeldet? Oder wolltest du meine Nummer nur so zum Spaß haben?“ Mit dieser Frage hatte er anscheinend nicht gerechnet. Ich wollte gerade einen Rückzieher machen, als er über die wieder lauter gewordene Musik hinweg brüllte.
„Ist eine ziemlich blöde Geschichte. Aber ich denke du musst mir deine Nummer noch einmal geben. Ich habe sie nämlich sozusagen verloren.“ Jetzt wurde er rot. Trotzdem konnte ich es mir nicht nehmen, das einzig Logische zu fragen.
„Wie soll das denn gehen? Ich habe sie dir doch in dein Telefon eingespeichert.“ Herausfordernd starrte ich zu ihm hoch. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so etwas konnte, jemanden so anzugucken. Anscheinend machte ihn das nervös, was mich wunderte, denn sonst war er ja immer der Meister des Pokerface oder besser gesagt des Pokergrinsens.
„Also äh das ist mir jetzt etwas peinlich, aber wenn du es unbedingt wissen willst sage ich es dir. Äh also mein Telefon äh das ist mir direkt als ich vom Schwimmbad wieder zu Hause war in die Toilette gefallen und ich habe naja es erst nicht gemerkt und jetzt…“ Bevor er weitersprechen konnte unterbrach ich ihn, denn die Einzelheiten wollte ich nun wirklich nicht wissen.
„Also funktioniert es nicht mehr?“, erleichtert und dankend blickte er mich an und war schon wieder ganz der Alte als er antwortete.
„Ja genau. Es ist kaputt. Ich habe zwar schon ein Ersatzhandy, aber deine Nummer war ja in dem alten eingespeichert. Ich war richtig erleichtert, als ich dich eben entdeckt habe. Ich dachte schon ich müsste ab jetzt jeden Tag ins Schwimmbad gehen, um dich wiederzufinden.“ Und er grinste schon wieder. Dieses Mal konnte ich aber nicht anders und grinste einfach zurück. Ich war überglücklich. Dieser Kerl interessierte sich anscheinend wirklich für mich.
„Hast du Lust kurz mit mir vor die Tür zu gehen? Mir ist das hier alles zu voll und zu laut. Ich glaube ich werde langsam zu alt für solche Hausparties.“, fragte er mich, wartete aber meine Antwort nicht ab, sondern nahm meine Hand und zog mich zur Haustür. Draußen angekommen, wollte ich meine Hand wieder wegziehen, doch er ließ sie nicht los. Irgendwie war es ein komisches Gefühl, seine Hand zu halten. Oder es war einfach nur ungewohnt. Erleichtert holte er tief Luft und fing an mit seiner freien Hand mit seinem Schlüssel zu spielen. Als ich das silberne Ding erblickte, wurde mir schlagartig schlecht.
„Scheiße! Mist! Nein, was mache ich denn jetzt?“, rief ich laut aus und riss meine Hand los, um mir die Haare zu raufen.
„Was ist denn los?“, fragte er besorgt.
„Ich bin so blöd! Ich habe meinen Schlüssel zu Hause liegen gelassen und meine Eltern sind das ganze Wochenende über weg. Niemand hat einen Ersatzschlüssel. Oh nein! Was soll ich denn jetzt machen?“ Zu allem Überfluss fing ich jetzt auch noch an zu heulen. Wes strich mir unbeholfen über den Rücken, während meine kleine Welt gerade dabei war unterzugehen. Ich würde das ganze Wochenende lang auf der Straße verbringen müssen. Und ich hatte noch nicht einmal Geld dabei. Ich war so damit beschäftigt, mir auszumalen, was jetzt auf mich zukommen würde, dass ich gar nicht merkte, wie Wes wieder anfing mit mir zu sprechen. Er fragte wohl schon zum zweiten Mal, als ich endlich wieder so gefasst war, dass ich hören konnte, was er sagte.
„Du kannst mit zu mir kommen.“ Er hatte wohl meinen entsetzten Blick bemerkt, denn sofort fügte er eine Erklärung hinzu.
„Nein, keine Angst. Ich habe eine kleine Schwester. Die ist auch 16. Du könntest bei ihr schlafen.“ Er strich mir immer noch besorgt über den Rücken. Dankend sah ich ihn an, aber dieses Angebot konnte ich natürlich nicht annehmen. Ich kannte ihn ja gar nicht. Also brach ich nun endgültig in Tränen aus.
„Wes, danke, dass ist echt lieb. Aber woher soll ich wissen, dass du mich nicht anlügst und gleich in deinem Auto vergewaltigst?“ Ich meinte es ernst, doch er nahm es anscheinend als Witz auf, denn alles, was er darauf antwortete war:
„Ganz einfach. Ich bin mit dem Motorrad hier. Darauf wird das etwas schwierig werden. Außerdem würden uns dann alle sehen. Hey, jetzt guck doch nicht so böse. Du kommst jetzt mit mir mit. Cindy wird sich freuen. Sie beschwert sich am laufenden Band, dass sie nur zwei Brüder hat und keine Schwester. Und meinen Eltern macht es sowieso nichts aus, wenn wir Freunde mitbringen. Die freuen sich dann, dass sie nicht die einzigen sind, die Cindy und mich aushalten müssen.“ Aufmunternd lächelte – ja er lächelte wirklich, das war kein Grinsen – er mir zu und streckte mir seine Hand entgegen. Irgendwie konnte ich nicht anders als sie zu nehmen und mich von ihm zu seinem Motorrad führen zu lassen. Dass die Party noch gar nicht vorbei war, hatte er wohl völlig vergessen. Aber das war mir jetzt nur recht. Ich hatte keine Lust von Linda, Gina oder anderen, wie Wes sie nannte, „Barbiepuppen“ in diesem Zustand gesehen zu werden. Im Endeffekt war es ja auch egal, was ich machte. Ich hatte die Wahl, Wes zu vertrauen, oder auf der Straße zu bleiben. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass mir was passierte bei Wes noch geringer, als hier draußen. Also ließ ich ihn mir ohne Widerrede den Helm, den er unter dem Sitz hervorgeholt hatte, anziehen und schwang mich dann etwas unbeholfen hinter ihm auf das Motorrad.