Als ich über den Gang zu meinem Raum lief, kam mir Anna entgegen. Trotz meiner sonst immer so dominierenden Schüchternheit lächelte ich sie an.
„Wie konntest du eigentlich sehen, dass mein Freund eine Beinprothese hat? Er hat doch so gut versucht, sie unter dem Tisch zu verstecken.“ Ertappt schaute sie mich mit großen Augen an und ich konnte ihre Scham fast selber spüren. Doch feige wie sie war, hatte sie sich ganz schnell wieder gefasst, lächelte ein kleines unechtes Lächeln und lief hoch erhobenen Hauptes an mir vorbei. Schon wieder musste ich Kichern. Wenn das so weiterging, würde ich irgendwann noch so ein statisches Grinsen wie Wes bekommen.
Der Rest des Schultages lief wie am Schnürchen und es gab keine weiteren Vorfälle mit Gina oder Anna. Das einzige was noch geschah, war, dass ich den Begriff „kleines dummes Mädchen“ hörte, als ich an Jake und seinen Freunden vorbeilief. Er mochte ja vorneherum ziemlich nett zu mir sein, aber dass er hinter meinem Rücken über mich redete verübelte ich ihm schon ziemlich. Wir kannten einander seit dem Kindegarten und waren als kleine Kinder einmal ziemlich gut miteinander befreundet gewesen. Erst hier auf dem Gymnasium hatte er plötzlich nichts mehr mit mir zu tun haben gewollt, sondern sich nach und nach immer mehr mit Gina und den anderen „coolen“ Leuten angefreundet, während ich unten in der sozialen Ordnung unserer Schule geblieben war. Am Anfang war ich verletzt gewesen, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass er mich nur noch mit seinem Hintern ansah und dass die einzigen Momente in denen er halbwegs nett zu mir war die waren, wenn er mich gegen Gina verteidigte. Vielleicht kam ja in diesen Augenblicken sein schlechtes Gewissen mir gegenüber doch zum Vorschein, falls er so etwas wie ein Gewissen überhaupt besaß. Also kümmerte ich mich nicht weiter um ihn und seine Freunde, sondern schaute auf mein Handy, dass soeben vibriert hatte und mir eine SMS von Wes ankündigte. Neugierig, wie er auf Annas Lügengeschichte reagiert hatte, öffnete ich sie.
Von Wes an mich:
?? Habe ich das richtig verstanden? Anna ist so auf mich abgefahren, dass sie ihrer Freundin erzählt hat, ich sei hässlich, damit die ihr nicht in die Quere kommen kann bei ihrem Versuch sich an mich ranzumachen? J
Amüsiert über seine scherzhafte Reaktion schrieb ich sofort zurück.
Von mir an Wes:
So kann man das natürlich auch verstehen J. Vielleicht sehen wir uns ja heute Nachmittag. Bin bei Cindy. Muss ihr dabei helfen, ein perfektes Outfit für ihren perfekten Hugo zu finden. J
Sicher, dass er erst in einer Stunde oder später antworten würde, steckte ich mein Handy wieder in meine Hosentasche. Doch als ich weitergehen wollte, vibrierte es erneut. Da ich fest davon ausging, dass die SMS nur von Cindy sein konnte, entschloss ich mich, sie erst im Bus zu lesen. Auf dem Weg zum Bus dachte ich darüber nach, wie sehr sich mein Leben innerhalb nur weniger Tage geändert hatte. Ich hatte eine Freundin gefunden, die mich mochte, so wie ich war. Außerdem hatte ich Bekanntschaft mit einem ziemlich interessanten und gut aussehenden Jungen gemacht, der anscheinend auch ganz gerne mit mir befreundet war. Darüber hinaus hatte ich indirekt dafür gesorgt, dass Anna sprachlos war und ich konnte über Ginas Sticheleien lachen, ohne mich davon verunsichern zu lassen. Alles in allem war das doch eine ziemlich gute Ausbeute oder? Da ich so sehr in meine Gedanken vertieft war, registrierte ich nicht, dass ich mich im Bus direkt neben Jake setzte, bis ich merkte, dass er mich anscheinend begrüßt hatte. Denn er lächelte mich etwas unsicher an.
„Hey“, antwortete ich etwas verwirrt, da er sich sonst immer zu cool fühlte um mit mir zu reden. Doch dann merkte ich, dass seine Freunde nicht dabei waren und mir wurde klar, dass er nur vor ihnen den Coolen spielen musste und nicht, wenn er alleine war, so wie jetzt. Da es mich ziemlich sauer machte, dass er dachte, er könnte einfach so mit mir sprechen, wo er mich doch sonst ignorierte, nahm ich schnell meine Kopfhörer raus, setzte sie auf und drehte mich in die ihm entgegengesetzte Richtung. Dann schaute ich auf mein Handy, um Cindys SMS endlich zu lesen. Doch zu meiner Überraschung war sie gar nicht von ihr sondern von Wes. Es geschahen doch noch Zeichen und Wunder. Er hatte mir sofort geantwortet.
Von Wes an mich:
Hör mir auf mit diesem Hugo. Ich kann es nicht haben, wenn meine Schwester sich immer mit diesen Typen trifft, die sie am Ende eh nur ausnutzen wollen. Ich glaub aber nicht, dass wir uns sehen. Treffe mich mit ein paar Freunden zum Musik machen. Bin den ganzen Nachmittag im Tonstudio vom Vater eines Freundes. Richtig cool da. Irgendwann nehme ich dich auf jeden Fall mal mit J
Irgendwie war ich enttäuscht, dass ich Wes heute nicht sehen würde. Aber ich sagte mir, dass ich dazu ja noch genug Gelegenheit haben würde, wenn er mich mal mit in dieses Tonstudio nahm. Das waren doch gute Aussichten.
„Emily, warum ignorierst du mich?“ Jakes Stimme drang dumpf durch den Klang der Musik aus meinen Kopfhörern.
„Diese Frage kann ich direkt an dich zurückgeben, Jake. Du ignorierst mich, seit wir auf dieser Schule sind. Dann brauchst du dich auch nicht zu wundern, dass ich jetzt keine Lust habe, mich mit dir zu unterhalten.“ Zum Glück musste ich jetzt aussteigen, denn ich wusste wirklich nicht, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Es hatte gut getan, die Wahrheit zu sagen, aber ein längeres Gespräch konnte ich mit ihm nun wirklich nicht führen. Also lächelte ich ihm in sein verdutztes Gesicht ließ ihn einfach sitzen ohne seine Antwort abzuwarten. Trotzdem war ich ziemlich verwundert darüber, dass er anscheinend plötzlich Interesse daran hatte, sich mit mir zu unterhalten. Wir hatten schon immer den gleichen Weg nach Hause gehabt und saßen eigentlich immer im selben Bus. Jahrelang hatte er mich nicht beachtet. Warum jetzt?