Die Welt durch die Augen einer Krähe ist aller Farbe beraubt, getränkt in Finsternis und Grau.
Dieser spezifischen Krähe war all das bewusst und noch viel mehr. Sie kannte die Farbe des Himmels, wenn die Sonne in den Horizont sank, sie wusste wie leuchtend grün das Gras glitzerte, wenn der Morgentau darauf lag. Und sie kannte das sündhafte Rot von Blut, vielleicht am besten von allen Farben.
Ihre liebste Farbe, jedoch, war hellblau. Hellblau wie der zerschlissene Umhang der geisterhaften Erscheinung, deren Pfad sie durch die Menschen folgte. Hellblau wie die Augen, die unter der Kapuze hervorblitzten.
Die Gestalt schlängelte sich geschickt durch die Menge, und besäße jemand so scharfe Augen wie die Krähe, hätte er das schimmern von Silber unter ihrem Umhang bemerkt, und das suchende in ihrem Blick.
Da drang der sanfte Klang einer Laute an ihr Ohr. Helle Töne lockten ihr, getragen von der Abendluft, entsprungen aus dem Mund einer Bardin.
,O König der Krähen,
Dein Stolz hat dich verflucht,
O König der Krähen,
Der Wahnsinn dich heimsucht,
Die Sterne bleiben stumm,
Hören nicht deinen Ruf,
O König der Krähen,
Der du Elend bringst,
Und von dunkler Zukunft singst,
Komm jetzt zur Ruh.'
Die Augen der Gestalt wandelten sich von suchend zu zielstrebig.
In diesem Moment stieß die Krähe ein krächzen aus und alle Blicke richteten sich gen Himmel.
Mit fließenden Bewegungen glitt blauer Stoff weiter durch die Masse, genauso wie eine Klinge über die weiche Haut einer Kehle.
Ein Seufzen entwich den Lippen, die zuvor noch die lieblichsten Töne gesponnen hatten, der letzte Laut unscheinbar im Vergleich. Und, wie ein Geist, verschwand die Gestalt genauso wie sie erschienen war - unbemerkt - als die ersten Schreie durch die Luft hallten. Und die Augen der Krähe waren erneut erfüllt von blutrot.
~
Das nächste Mal, als die Krähe die hellblaue Farbe erblickte, war es nicht in einer Menschenmenge, sondern ganz im Gegenteil, in einer verlassenen Seitengasse, weit weg von dem Rummel der großen Straßen.
Weiße Strähnen tanzten im Wind, wie der Schleier einer blutbefleckten Braut.
Und es tauchte die Krähe hinunter in den Abgrund der Straßen und vereinte sich mit dem Grund, sich festkrallend.
,,Das Lied vom König der Krähen, hm.", begann der nachtfarbene Vogel, ohne Worte zu benutzen.
,,Ein seltsamer Zufall.", sagte die Krähe mit tiefer Stimme, die keine Krähe mehr war.
,,Alles hat eine Bedeutung."
Silber fing das Licht, Klinge letztendlich gesäubert von dem Beweis der Tat, heimkehrend unter den Umhang der Gestalt.
,,Die Frage ist, was für eine Bedeutung hat es für dich, Nox?", fragte sie den Mann mit blauschwarzen Haaren wie Krähenfedern. Seine Antwort war ein bitterer Hauch mit einer Prise Traurigkeit. ,,Es ist eine Warnung, dessen Sünden nicht zu wiederholen." Seine Gesichtszüge verdunkelten sich, Schatten zogen über seine elfenhafte Schönheit, gleich dunklen Wolken an einem Sommertag.
Da brach die Wolkendecke auf, nur um einen Himmel ohne Farbe zu offenbaren, ein ausdrucksloses Gesicht, das sagte:
,,Wie auch immer. Der Auftrag ist erfüllt, kehren wir zur Gilde zurück." Die Gestalt schwieg für einen Moment und nickte dann, ihre Kapuze tiefer über ihr alabaster Gesicht ziehend.
,,Ihre Stimme... sie war wunderschön."
Nox warf ihr einen Blick zu. Onyx und Blau verschmolzen zu einem Mahlstrom aus unausgesprochener Emotion.
,,Ja.", war alles was von seinen Lippen fiel.
Da war die Krähe plötzlich wieder eine Krähe und die Gestalt verschwunden, unsichtbar in der Menschenmenge.
Kapitel 1 - Meuchler im Schatten
Die alte Kathedrale lag im Zentrum der Stadt, die Skelette der Häuser sauber abgeschliffen vom eisigen Wind. Die letzte Spur von Zivilisation, bis hinter den Bergen das endlose Eis begann, das sich bis zum Horizont erstreckte.
Lange vergessen war der Name dieser Geisterstadt hoch im Norden des Landes, die sich an jene schneebedeckten Berge schmiegte. Hier gab es nichts weiter als zerbrochener Steinmauern und der Atem längst vergangener Zeiten, der durch die Straßen strich, während das einsame Heulen der Wölfe einen in den Schlaf sang.
Man sagte, dass Geister in diesen Ruinen wandelten, Schatten, Abbilder dessen, was einst existiert hatte.
Solch ein Geist war heute hier, mit Haut weiß wie der Schnee, durch den er schritt, begleitet von einer Gestalt schwarz wie der Tod in einem Mantel gleich dunklen Flügeln.
Der Geist verschmolz mit Schwarz und ein einzelnes Wesen aus Federn und Dunkelheit geschaffen erhob sich in die Luft, zwei Seelen in sich tragend. Und den Augen der Krähe offenbarte sich eine andere Welt: Aus Zerbrochenem wurde ein Ganzes, Illusion enthüllte Wahrheit, und der Schleier lüftete sich. Eine andere Kathedrale blickte nun auf sie herab inmitten der Häuserleichen, falsch und unheilig. Das große runde Glasfenster über dem Eingang war zersplittert, das Abbild des Schutzpatrons Lazarus verzerrt, scharfe Kanten von dem, was einst sein gläserner Körper war, emporragend wie Krallen.
Der Stein hatte die blasse Farbe eines Toten angenommen, als Eis sich auf seiner Oberfläche zum schlafen gelegt hatte.
Ihr Inneres war von Schutt und Trümmern befreit, eine hohe Doppeltür hütete das Geheimnis, das in ihren Tiefen verborgen lag.
Da riss die Verbindung der beiden Bewusstseine wieder als sie eintraten, während sich hinter ihnen die Illusion von neuem webte.
Das Abbild eines Hirschschädels, in das Holz eingeritzt, verschwand mit ihnen, der einzige Hinweis auf die wahre Natur dieses Ortes.
Denn war diese Tür einst der Eingang zu einem Ort der Zuflucht für Pilger und Gläubige gewesen, so war sie nun nichts weiter als der Wegweiser in ein Reich, welches weit weg von Erlösung führte, und in die kalte Dunkelheit zwischen den Sternen, in welcher Tod residierte.
Es war der Sitz der Bruderschaft des Hirsches.
Der größten Assassinengilde der Welt.
,,Willkommen zurück."
Die Stimme strich über Geist's Haut, samtig wie Seide, gesponnen von einer Zunge wie ein zweischneidiges Schwert.
,,Telynn.", erwiderte der Geist, der aus Fleisch und Blut bestand.
Ein Mann stand vor dem Altar, hinter ihm erhob sich der Schädel eines gewaltigen Hirsches, befestigt über einer Reihe von Geweihen wie ein verstörender Totempfahl. Sie umrahmten seine Statur wie ein Heiligenschein, Spitzen getränkt mit getrocknetem Rot.
,,Was verschafft mir die Ehre? Ist etwas vorgefallen?", fuhr der Assassine dann fort.
Es war ungewöhnlich für Telynn, auf jemandes Rückkehr zu warten, hatte er als Großmeister der Gilde doch anderes zu tun. Dementsprechend misstrauisch war Geist nun.
Sein Gegenüber trat in das Licht, das durch das zerbrochene Abbild hereinfiel, die schreckliche Narbe auf seinem Gesicht das Erste, was sich aus dem Schatten schälte.
Der Abdruck einer Hand, mit Feuer getauft, tiefrotes Fleisch wie geronnenes Blut.
Telynn die Bluthand.
Seine Züge verzogen sich zu einem Lächeln, das mehr ein Zähnefletschen war, als ein Zeichen des Wohlwollens.
,,In der Tat, es gab einen... Vorfall der deine Aufmerksamkeit verlangt. Es dreht sich um eine deiner Leute, Maya. Sie hat heute bei Tagesanbruch die Kathedrale verlassen, aus eigenem Antrieb, mit einiger meiner persönlichen Gegenstände, die weder für ihre noch für die Augen der Außenseiter bestimmt sind. Als Kommandant des Geweihs sind deine Untergebenen deine Verantwortung und ich erwarte, dass du sie für ihren Verrat zur Rechenschaft ziehst und mir das, was sie gestohlen hat, zurückbringst.
Du weißt was wir mit Verrätern machen, nicht wahr?"
Die letzten zwei Worte waren fast lautlos, ein Zischen, die Warnung einer Kobra vor dem tödlichen Biss.
Abwesend strich er über einer der Geweihspitzen des schrecklichen Pfahls.
Eine Aura kalter Wut ging von ihm aus, die wie Eiswasser durch seine Venen glitt, sodass Geist beinahe glaubte es durch seine Haut sehen zu können.
,,Es betrübt mich, dich nach einem Auftrag sofort wieder loszuschicken, aber es ist Eile geboten.", fuhr er dann fort.
,,Du hast eine Stunde Zeit. Dann erwarte ich, dass du aufbrichst."
Geist nahm seine Worte kaum wahr.
Eine dunkle Vorahnung hatte sein Herz ergriffen wie eine Kralle, unter deren Fingern es hilflos flatterte, ein Schmetterling mit geknickten Flügeln, der immer verzweifelter wurde.
Maya, was hast du getan?, dachte er.
Sie wussten beide, dass Geist der bessere der beiden Assassinen war, und den Preis den man für Freiheit von der Gilde zahlte.
Maya hatte keine Chance gegen ihn.
Wieso hatte sie es getan?
,,Ja, mein Herr.", erwiderte er.
Stählerne Augen trafen flüchtig auf blaue, eine halb verborgene Vorfreude sich in ihnen widerspiegelnd. Geist wusste, was für ein Vergnügen es ihm bereitete, ihn auf Maya zu hetzen, zuzusehen, wie seine Untergebenen sich zerfleischten wie Bluthunde.
Der Assassine kannte Telynn, kannte ihn von Kindesbeinen an.
Er hatte ihn gelehrt, zu hassen.
Und mit einem Mal wurde aus dem Schmetterling Telynn's Kopf, und Geist stellte sich vor wie die Kralle zudrückte, von schwarzen Vogelfedern bedeckt, bis nur noch gurgelnde Laute aus dessen Mund drangen. Etwas in ihm weidete sich an der Angst in den Augen seines Anführers, dem Knacken seines Schädels. Wie einfach es wäre, ihn zu packen und zu zudrücken, bis diese Zunge keine widerlichen Worte mehr herausbringen konnte, diese Hände keine grausamen Taten mehr begingen.
Ja, es wäre ein leichtes für Geist, hatte er das doch schon unzählige Male getan, wieder und wieder. Doch das war Routine gewesen, antrainiert in langen Jahren, in denen der Hass in ihm heranwuchs wie ein Dornbusch.
Telynn verdiente mehr als den schnellen Tod, den Geist seinen Zielen bereitete.
In seiner Vorstellung löste sich die Kralle von dem Kopf seines Opfers und glitt zu seinen Augen. Kalte Augen waren diese, denen der Anblick von Blut und Leid ein Glänzen verlieh und die fasziniert zusahen, wie das Licht in den Augen anderer erlosch.
Sie waren als erste dran.
Telynn schrie.
,Geist, stop!'
Der Assassine blinzelte.
Nox?
Er sah noch gerade rechtzeitig, wie die Augen der Krähe auf seiner Schulter erlosch, und das Objekt seines Hasses sich nach Atem ringend an dem Altar abstützte. Sein Kopf wies Druckmale auf, seine Augen blutunterlaufen.
,,Geist...", knurrte dieser schwach, aber wutentbrannt. ,,Bei Eovej, was..."
Die Augen der Krähe leuchteten erneut violett auf, und dasselbe passierte mit denen Telynn's.
,Schweig.', befahl Nox.
Der Großmeister rührte sich nicht.
,,Was habe ich-", begann Geist leise, wurde jedoch von der Krähe unterbrochen.
,Ich habe die letzten paar Minuten aus seinem Gedächtnis gelöscht. Geh, bevor er wieder zu sich kommt.'
Ohne ein weiteres Wort trat der Assassine an Telynn vorbei, zerschlissener Umhang flatternd. Mit einem Mal hatte die Angst, die sein Herz zuvor ergriffen hatte, einen anderen Ton angenommen.
Niemand begegnete ihnen auf ihrem Weg zu Geist's Quartier, und er war froh darüber.
Zum einen war er nach dem Vorfall von eben wirklich nicht in der Verfassung dafür.
Und zum anderen fühlte er sich nicht danach, sich den anklagenden Blicken der anderen Mitgliedern des Geweihs auszusetzen.
Denn letztendlich wussten sie alle, was Telynn mit ihm machen würde, wenn er einem Verräter wie Maya Gnade zeigte.
Sein Raum war schlicht, eine Schlafstätte, Tisch und ein Stuhl, mehr als genug wenn man bedachte, dass er hier sowieso nie viel Zeit verbrachte. Er schloss die Tür hinter sich und verweilte eine Zeit lang dort, sich erschöpft dagegen lehnend. Die Krähe glitt von seiner Schulter hinab auf den steinernen Vorsprung unter dem bunten Glasfenster, welches den Raum in ein Kaleidoskop aus bunten Schatten tauchte. Geist löste sich von der Tür, seinen Umhang auf das Bett werfend, und schnürte sein beiges Leinenhemd auf, das mit feinen, aber zahlreichen Blutspritzern besudelt war.
Es glitt von seinen Schultern, zierlich für einen Mann, und seine Brust herab, umwickelt mit Bandagen.
Er drehte sich mit dem Rücken zu der Krähe und wickelte auch diese mit zitternden Händen auf, doch anstatt einer Wunde offenbarte sich nur eine feine, kleine Narbe über zwei sanften Rundungen.
Nox sagte nichts, doch Geist wusste, was ihm auf den Lippen lag.
Zuerst jedoch wischte der Assassine sich den Schweiß und Dreck der Reise von der Haut und wickelte die Bandagen wieder neu um die Brust, sich schließlich ein frisches Hemd überstreifend, während er Gedanken hin - und herwälzte wie ein dickes Buch.
Als Geist äußerlich wieder ein Junge war, drehte sie sich um.
,,Was habe ich getan?", war das erste was sie hauchte. Telynns Schrei rang noch immer in ihren Ohren.
,,Geist, sieh mich an", erklang eine Stimme, melodisch, selbst getränkt mit Besorgnis.
Augen von der Schwärze des Himmels bei Nacht trafen ihre, doch sie sah durch ihn hindurch, in eine für ihn unerreichbare Welt.
,,Das hätte nicht passieren dürfen. Ich darf die Kontrolle nicht verlieren", bemerkte sie leise, und ihre Stimme zitterte unmerklich als sie fortfuhr: ,,Egal, wie aufgewühlt ich bin."
,,Geist."
Sie hörte ihn nicht.
Ihr Blick glitt zu ihren Händen, die noch immer etwas zitterten, und ihre Brauen zogen sich zusammen in Konzentration, oder einer Erinnerung.
,,Mit jedem Tag an dem ich Blut an meinen Händen habe werde ich abgestumpfter, effizienter, routinierter. Ich- Ich weiß, ich bin eine Mörderin, aber ich war niemals grausam."
,,Astea", setzte Nox schließlich nach, diesmal leiser.
Der Geist, der nun einen Namen besaß, hielt endlich inne. Sie spürte, wie die Persona des Assassinen von ihr hinabglitt bei seinem Klang, etwas entblößend, das sie noch nicht bereit war anzusehen.
,,Wer bin ich?", wisperte sie, ein Ausdruck der Verwirrung auf ihrem Gesicht.
Nox sah auf sie herab, der lange schwarze Mantel umschmiegte seine schlanke Statur und ließ ihn noch größer aussehen, wie das Abbild eines Königs, gemeißelt in Stein.
,,Dein Name ist Astea. Du bist kein Geist, kein Werkzeug. Du bist Astea Karan."
Seine Hände umfassten ihre Schultern und Geists Augen schlossen sich, als der rabenhaarige Mann den Hauch eines Kusses auf ihrer Stirn hinterließ.
,,Ich bin hier. Selbst wenn du vergisst, wer du bist, ich werde es nie. Wenn du dich verlierst, werde ich dich einfach erinnern. Ich halte dir den Rücken frei, immer."
Nun, endlich, löste sich die Kralle um ihr Herz und sie konnte wieder atmen, ein Effekt, den Nox schon immer auf sie gehabt hatte.
Genau wie die Präsenz der weißhaarigen Assassine ihn beruhigte, wenn er nachts aus dem Schlaf schreckte, keuchend, verfolgt von den Erinnerungen längst vergangener Tage. Er verlor nie ein Wort darüber, wie er in diesen Nächten wie ein halb verblasstes Gespenst an ihrem Bett stand und ihren Puls mit zitternden Fingern fühlte. Wie sie seinen Namen sagte, wieder und wieder, und ihn festhielt, bis er aus der Schattenwelt auftauchte, die seinen Geist in Besitz genommen hatte.
Sie hatten schon immer so gelebt, aufeinander aufpassend, an diesem Ort, an dem sich Freund und Feind zugleich auf jedes Anzeichen von Schwäche stürzten, wie Hyänen.
Geists Lider flatterten gleich einem einsamen Vogel im Sturm und sie öffnete die Augen.
Der Blick des rabenhaarigen Mannes war sanft, als er murmelte: ,,Es ist okay."
Es stimmte, sie war kein Geist. Sie war nicht gestorben, damals unter den Trümmern dessen, was von der Karan Familie übrig geblieben war.
,,Ich weiß", sagte sie dann leise.
,,Danke, das du mich erneut erinnert hast."
Da klopfte es sacht an der Tür.
Die Härte kehrte in Geists Züge zurück, als sie ihren zerschlissenen Umhang vom Bett nahm und ihn um sich schlang, einen letzten Blick auf Nox werfend.
Sein Gesicht und Körper ertranken in schwarzen Federn, bis kein Fetzen heller Haut mehr übrig blieb.
Sie öffnete die Tür und fand sich Auge in Auge mit einem Gesicht von der Farbe von Gewitterwolken, den typischen hohen, ausgeprägten Wangenknochen und spitzen, waagerechten Ohren.
,,Kommandant Geist."
Der Dunkelelf neigte den Kopf, eine Geste des Respekts, bei der die Talismane in seinen dunklen Haaren aneinander schlugen. Sein Haar war, wie es bei den Nelthal-Zan Brauch war, an der einen Seite abrasiert.
,,Adamas", erwiderte Geist, ihr Ton kühl, ihr Blick jedoch warm.
,,Ich habe eine Nachricht für dich", sagte er ohne Umschweife, eine Aufforderung zur Eile in seinen mandelförmigen Augen.
Die Assassine wusste augenblicklich, worum es ging.
Maya.
Sie fühlte den Stich der Schuld wie ein Messer bei dem Gedanken, dass sie Maya beinahe vergessen hatte, durch den Vorfall mit Telynn.
Und sie fühlte die Last auf ihrer Brust, als sie sich erneut vor Augen führte, dass sie es war, welche die Aufgabe erhalten hatte, Maya zu eliminieren.
Geists professioneller Gesichtsausdruck entgleiste, die Erschöpfung darunter zum Vorschein bringend.
,,Komm herein."
Sie machte Platz für Adamas, der an ihr vorbei trat, der übliche Geruch nach Blut ihm folgend wie ein gehorsames Haustier.
Seine fremdartigen Augen lagen einen Herzschlag zu lange auf Nox in seiner Krähengestalt, seine Pupillen wie ein Amethyst Mond inmitten der Nacht, die sein Augapfel war.
Bis heute konnte Geist nicht einschätzen, wieviel der Dunkelelf wirklich wusste, von Nox, von ihr. Er war schon immer ein Enigma gewesen - etwas, das man seiner Rasse oft zuschrieb.
Sie schätzte sich glücklich, dass er auf ihrer Seite war, zumindest soweit sie das beurteilen konnte.
Adamas war wertvoll als Verbündeter und furchterregend als Feind.
Losgelöst von jeglicher Emotion war er pure Effizienz ohne Gewissen oder Reue - das, was Geist Angst hatte eines Tages zu werden.
Sie waren vor langer Zeit einmal die einzigen beiden Kandidaten für die Führungsposition des Geweihs, der Elite der Bruderschaft, gewesen. Damals hatte Geist Adamas im Zweikampf besiegt, im jungen Alter von vierzehn, ihr Körper durch die Luft wirbelnd wie eine Schwalbe, Zwillingsdolche blitzend.
Sie hatten sie ein Wunderkind genannt, während sie nachts schreiend aus dem Schlaf hochgefahren war, Albträume von Innereien und Blut und Tod an ihr klebend wie Blutegel.
Eines Tages hatte Adamas vor ihrer Tür gestanden, genau wie heute, mit einem Talisman, in den eine seraphische Rune eingeritzt war, ähnlich denen, die er ins Haar geflochten trug.
Gegen die Albträume.
Wieso tust du das?, hatte sie gefragt.
Du erinnerst mich an meine Tochter, hatte er nur gesagt, sich umgedreht und war gegangen.
Und tatsächlich, die Momente, wenn sie nachts aus dem Schlaf schreckte, wurden seltener und seltener, bis sie schließlich ganz stoppten.
Eine seltsame Art von Freundschaft hatte sich mit der Zeit zwischen den zweien entwickelt, so weit das möglich war, mit jemandem der keine Emotionen besaß. Er war einer der wenigen, vor denen Geist nicht ständig auf der Hut sein musste.
Die andere Person war Maya.
,,Sag es mir, Adamas. Ist Maya bei dir gewesen? Ist die Nachricht von ihr?"
Geist wusste die Antwort auf ihre Frage schon, bevor sie diese überhaupt beendete.
Der Nelthal-Zan schien für einen Moment etwas abzuwägen, dann antwortete er: ,,Korrekt. Sie schien sehr unruhig, gehetzt fast. Und wie es sich herausstellte, hatte sie auch allen Grund dazu."
Geists Augen weiteten sich.
,,Was könnte bloß in diesen Dokumenten stehen, das sie ihr Leben dafür riskiert?", murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrem Gegenüber.
Wortlos reichte Adamas ihr ein eingerolltes Pergament, die Seiten beschrieben mit Mayas schwunghafter, sauberer Handschrift.
Geist strich es glatt, ihr Blick fieberhaft über die Zeilen gleitend.
Maya sprach von einer Entdeckung, welche das Potenzial hatte, die Grundfesten der Bruderschaft zu erschüttern, nein, die der ganzen Welt. Wären ihre Worte nicht triefend vor Ernst gewesen, hätte Geist beinahe geglaubt, sie würde übertreiben.
Doch sie kannte Maya, stark und hell leuchtend wie Feuer.
Sie war mutig geworden, waghalsig fast.
Etwas, das ihr solch eine Furcht einflößte - Geist schauderte unwillkürlich.
Der Rest der Nachricht endete mit den Worten ,Komm zu dem Ort, an dem wir sie begraben haben. Ich werde auf dich warten.'
,Sie versucht nicht, wegzulaufen', hallte Nox' Stimme in Geists Kopf wieder, mit einer Spur von Traurigkeit darin.
,Mit fliegenden Fahnen untergehen. Das ist es also, wozu sie sich entschieden hat.'
Die Assassine ließ Mayas Nachricht sinken, ihre Faust so fest um das eingerollte Pergament geschlossen, dass es verkrumpelte.
,,Ich breche sofort auf. Und wenn ich zurückkomme, werde ich es beenden."
Geists Ton war hart, knapp und klar, wie eine Sense, geführt über Gras.
Sie würde nicht weinen.
Wenn Telynn tot vor ihr lag, dann - und erst dann - würde sie es sich erlauben um Maya zu weinen.
Nun war es Adamas, der schweigend beiseite trat und sie schritt an ihm vorbei, Augen wie blaues Feuer. Jedoch nicht bevor er sie am Arm zurückhielt und leise sagte:
,,Ich stehe zu dir, Karcazan. Wir werden es gemeinsam beenden."
Ihre Blicke vereinigten sich und schließlich nickte Geist, die Härte in ihren Zügen ein wenig weicher. ,,Danke."
Das Wort hing noch in der Luft, lange nachdem der Saum ihres zerschlissenen Umhangs schon um die Ecke verschwunden war.