Nach dem ersten Schrecken über den Fund der gigantischen Salzkruste, die den Drachen über Jahrhunderte bedeckt haben musste, hatte Malucius diese Sorge rigoros beiseite geschoben. Das Untier war nicht hier, war es vielleicht schon lange nicht mehr und die Menschen Belletristicas hielten an einem Märchen fest. Fürchteten sich zu Unrecht vor einer unbewohnten Insel, auf welcher Reichtümer vergammelten, mit denen man Königreiche errichten konnte.
Lächelnd nahm der fahle Mann einen kugelförmigen schwarzen Diamanten hoch und bewunderte ihn. Das Licht der Kristalle brach sich darin und die unendliche Dichte der geschliffenen Facetten schluckte es und ließ es im Inneren funkeln, als hielte der Reaper eine Miniaturgalaxie in seinen Händen. Ihm nutzte das sagenhafte Vermögen in diesem Berg nichts, denn für kein Gold der Welt würden die edelmütigen Helden dieses Landes ihn seines Weges ziehen lassen. Wenn er sie also nicht besiegen konnte, würde er sterben. Und der Reaper wusste nicht, ob ihm dies nicht vielleicht sogar ganz recht war. Doch zuvor würde er so viele von ihnen mitnehmen, wie er konnte. Sie sollten leiden wie er es getan hatte, sollten Einsamkeit und Verzweiflung und Stille erdulden und, selbst wenn sie überlebten, sollte ihnen fortan ein Stück fehlen. Sei es Frieden, ein Körperteil oder ein Stück ihrer Seele.
Die Finger um den Edelstein ballend schob er sich diesen in die Tasche seines Gewandes. Den Drachen würde es nicht mehr kümmern, ob ein Teil fehlte.
»Los, folgen wir diesem Pfad«, knurrte er seiner Feenschar zu, die wie Kinder mit dem Gold spielten, jetzt wo sie sicher sein konnten, dass kein Sturm über sie hereinbrechen würde wegen eines riesigen Untiers. Sie hielten sofort in ihrer Handlung inne und verneigten sich.
Malucius blickte sich um und konnte schließlich am Ende des Weges weitere Eingänge in der Höhle ausmachen. Manche hatten die Ausmaße von Dachshöhlen und wieder andere wirkten so groß, dass selbst ein Drache durch diese würde hindurchgehen können.
Und noch immer war keine Spur des vermaledeiten Kleinkindes zu entdecken. Würde der Bengel nicht schon längst irgendwo sitzen und heulen, weil er Hunger oder die Hosen voll hatte, wenn er hier wäre?
Entschlossen betrat der Reaper einen hohen Gang, doch schon nach wenigen hundert Metern prallte er zurück und hielt seine Feen an.
»Hier kommen wir nicht lang.« Die Hitze in dem unterirdischen Korridor war so drastisch angestiegen, dass sie auf der Haut brannte und das Atmen schwer fiel. Vor ihnen flimmerte es, die Luft schien in Bewegung zu sein und der orangefarbene Feuerschein offenbarte, dass sie direkt an einer Magmakammer angekommen waren. Der See aus kochendem Gestein brodelte und blubberte unheilvoll. An diesem würden sie niemals vorbeikommen, ohne vorher in der glühend heißen Luft verendet zu sein.
»Geht zurück, wir nehmen einen anderen Weg. Hier ist der Junge nicht vorbeigekommen. Blutsauger halten diese Temperaturen nicht aus.«
Die Schattenfeen purzelten zurück und eilig verließen sie den Gang. Selbst Malucius spürte die Erleichterung, als er die kühle Goldkammer wieder betrat und in einen deutlich niedrigeren Korridor einbog. Dieser war eng und an manchen Stellen musste der Reaper sich ducken oder gar durch Wegverengungen quetschen, doch die Temperatur blieb gleich und immer wieder wuchsen diese lumineszierenden Kristalle aus dem Gestein, die alles in geisterhaftes Licht tauchten. Der Pfad stieg spürbar an und es erschien Malucius wie eine kleine Ewigkeit, als sich der muffige und irgendwie metallische Duft des Berges plötzlich veränderte. Er wurde frischer und der Mann konnte einen Luftzug spüren, bevor er sehen konnte, dass die Feen, die vorangegangen waren, aus einer Spalte in der Außenhaut des Vulkans herausfielen.
Rötliches Licht drang in den unterirdischen Gang und Malucius hob reflexartig die Hand an die Augen, als er aus diesem heraustrat. Es dämmerte bereits, der Himmel war magentafarbend und die Sonne, die bereits im Westen stand, beleuchtete die weit unterhalb des Pfades gelegenen kargen Wälder. Alles wirkte wie in Feuer getaucht, doch der Wind auf der Haut war wie eine erfrischende Dusche.
Die Schattenfeen, die kein natürliches Licht vertrugen, drückten sich nahe an die Felswand und wirkten sehr erleichtert darüber, dass die Nacht kurz bevor stand. Auch der Reaper war froh darum. Nach dieser Zeit in der Finsternis war er der Helligkeit gegenüber nicht angetan.
»Folgt dem Pfad«, bestimmte der Mann und die kindgleichen Wesen schoben sich, in die Schatten der Felswand gedrückt, weiter den Weg entlang.
Malucius ließ sich nichts anmerken, doch er hatte das merkwürdige Gefühl, dass er und seine Schattenfeen nicht allein in der Höhe des Vulkans waren. Die Sinne waren durch die anhaltende Stille im Berg geschärft und der Reaper nahm ein Vibrieren wahr, das nicht von den dunklen Feen ausging und auch nicht von diesem Ort selbst. Es war Energie. Lebensenergie.
Malucius betrat die höchste Ebene des Vulkans, spürte die Hitze und konnte den Schwefelgeruch des riesigen Magmasees riechen, der sich inmitten des abgeflachten Kraters befand. Der Boden war steinig, zerfurcht und über und über von geschmolzenem Sand bedeckt, der wie funkelnde Glassplitter aussah, es roch nach glühendem Eisen, giftigen Gasen und Feuer. Der kleinste Impuls im Inneren des Berges würde ausreichen, um diese Millionen von Liter kochenden Gesteins in den Himmel zu befördern und alles unter sich zu bedecken.
Malucius berauschte diese Macht geradezu.
Er ging ein paar Schritte, als er das Kullern von Steinen hinter sich hörte, ein nur zu vertrautes Geräusch, wenn ein Stiefel auf losen Grund trat. Der Reaper drehte sich herum und setzte ein geradezu willkommen heißendes Lächeln auf, als er die bekannten Gesichter am Kraterrand auftauchen sah. Also hatte der Instinkt Malucius nicht getäuscht, denn neben den beiden Vampiren, mit denen er gerechnet hatte, waren da einige Personen, die, obgleich sie keine gewöhnlichen Menschen sein mochten, doch sehr menschliche Energie in ihren Körpern hatten. Köstliche Energie.
Er lächelte noch mehr, dieses Mal spöttisch, als seine Begrüßung von den beiden Blutsaugern mit einem unfreundlichen Knurren beantwortet wurde.
»Das ist sehr unhöflich, mein lieber Phobos«, schnarrte Malucius und verneigte sich leicht in Richtung Rileys. »Wollt ihr mich euren Freunden nicht vorstellen? Ah, ich sehe, einige von euch kenne ich. Belle!«, der Mann neigte erneut das Haupt in Richtung der Feengöttin, »und Benjaminus. Mich wundert, dass du dich aus deiner Schreibstube gewagt hast. Kämpfen war ja nie so deine Stärke, nicht? Du hast schon immer lieber andere deine Kämpfe austragen lassen.«
Der Admine packte den Griff seines Schwertes fester, das an seinem Gürtel befestigt war.
»Es ist lange her, Malucius Maleachi. Dinge ändern sich.«
»Oh ja, das sollten sie zumindest. Schauen wir mal ... ah, der kleine Elfling. Willst noch immer Rache nehmen? Wie rührend. Und sinnlos. Eure niedlichen kleinen Feenkriegerinnen werden euch nichts nutzen, egal wie fähig eure Generalin sein mag. Sei’ mir gegrüßt, Khaeli. Ich habe dich nicht vergessen!«
Die Wächterfee spuckte verächtlich, was den Reaper nur lachen ließ.
»Und du«, Malucius lenkte seine eisgrauen Augen auf Megan, die huldvoll ihre getönte Brille abgenommen hatte und ihn kühn ansah, »du bist mir gänzlich unbekannt. Meinen Namen weißt du sicher. Hättest du die Güte, mir deinen zu nennen?«
»Megan Core, Königin der Lich, Herrscherin über die Todlosen. Es ist mir keine Freude, dich kennenzulernen, Reaper.« Das sonst so obligatorische Schnurren war aus Megs Stimme verschwunden und ihre grünhäutigen Minions fauchten dem Mann bösartig entgegen.
»Ah, die Lich! Wir stahlen den Jungen aus deinem Schloss, habe ich Recht? Das ist dir doch sicher unangenehm, möchte ich wetten. Bist du deswegen hier? Um etwas wiedergutzumachen?« Malucius lachte leise und aufreizend.
»Auf’s Stichwort, Scheißkerl! Wo ist Arian?«, brüllte Riley ihm entgegen.
»Wieso, habt ihr ihn verloren?« Der Reaper lachte erneut. »Denn das scheint ihm irgendwie anzuhaften.«
»Was hast du getan?«, fauchte nun auch Phobos und Malucius zuckte mit den Schultern.
»Gar nichts. Ich kam nicht einmal dazu.«
»Gib ihn uns zurück!«
»Findet ihn.«
Noch ehe einer aus der Gruppe reagieren konnte, war Riley mit einem Fauchen vorgeschnellt. Er hatte alle seine Waffen fallen lassen und prallte mit der Geschwindigkeit einer Kanonenkugel gegen den Reaper, nutzte seinen Schwung und schlug ihm hart mit der Faust ins Gesicht. Beide schlugen Purzelbäume, doch der junge Vampir hielt sich am Stoff von Malucius’ Kleidung fest und kam schließlich auf dessen Brust zum Sitzen.
»Spuck’s aus, du verkommenes Stück Scheiße! Wo ist unser Sohn?!«, wieder und wieder schlug Riley zu und man konnte das Brechen der Knochen im Gesicht des Reapers über den Platz hören, es war sogar lauter als das Brodeln des Magmasees.
Die Schattenfeen, die loyal bis in den Tod waren, wollten dazwischen gehen, um ihren Herrn zu beschützen, doch Khaelis Kriegerinnen hielten sie auf, ebenso wie Sylfaen, die mit ihrem Stab ins Getümmel lief und die bissigen und fauchenden kindgleichen Feen, die kaum größer waren als sie, zu verprügeln begann. Malucius hatte eine kleine Armee dieser Wesen an seiner Seite und schließlich waren alle in eine Schlägerei verwickelt, während Riley noch immer auf den Reaper einschlug, dessen Gesicht bereits blutverschmiert war.
»Wo ist er?!«, brüllte der Unsterbliche wieder.
»Such’ ihn doch, kleiner Vampir. Ich werde kein Wort sagen, egal was du mir antust.« Malucius sprach undeutlich, Riley hatte ihm den Kiefer gebrochen.
»Ich werde dich in Stücke reißen, du mieses Stück Hühnerdreck!«
»So?«, der am Boden liegende Mann schaffte es, eine seiner Hände zu heben und bevor der Vampir auf ihm reagieren konnte, hatte er seine Zauberformel gesprochen.
»Zashtita!«, murmelte Malucius und Riley wurde mit einer unsichtbaren Wucht von seinem Gegner gerissen, kullerte über den unebenen Boden und rollte schließlich über den Rand des inneren Kraters.
»RILEY!«, brüllte Phobos, der das mitbekommen hatte, doch von Schattenfeen eingekesselt war. Aggressiv und verzweifelt trat der Unsterbliche die kleinen Wesen nieder, brach ihnen die Knochen und machte sich den Weg frei. Er rannte an den Magmasee und die Furcht vor dem, was er sehen würde, wenn er über den Rand hinweg sah, hatte ihn eiskalt in den Fingern. Er ließ sich fallen und schlitterte selbst ein Stück, bevor er über die Kante sehen konnte.
»Hilf’ mir«, keuchte Riley seinem Gefährten panisch zu.
Dem jungen Vampir war es gelungen, sich an einem kleinen Felsvorsprung festzuhalten, doch er hatte keine Möglichkeit, ohne Hilfe aus der gefährlichen Lage zu entkommen, denn seine Beine hatten nichts, worauf sie sich stützen konnten, um zu klettern. Sie hingen vielleicht drei Meter über dem brodelnden Magma und Riley hatte bereits zu schwitzen begonnen, so schrecklich heiß war es in dem Krater.
Phobos packte den Arm des Anderen und dessen Mantel und hievte ihn über den Rand, bevor er sich mit ihm nach hinten fallen ließ und Riley so festhielt, dass dieser kaum Luft holen konnte.
»Oh ihr Götter, oh ihr Götter«, keuchte der Unsterbliche leise.
»Nein, ihr zwei seid wirklich immer wieder aufs Neue rührend. Oder vielleicht ist es auch Übelkeit und ich verwechsle das nur!« Das Schnarren von Malucius löste die beiden Vampire aus ihrer Umarmung und mit einem Satz waren sie wieder auf den Beinen und brachten einen ordentlichen Abstand zwischen sich und den Kraterrand.
Der Reaper, dessen Gesicht noch immer vor Blut glänzte, wischte sich dieses mit einem nonchalanten Grinsen ab. Er war ebenfalls längst wieder auf den Beinen und die meisten der Verletzungen, die Riley ihm zugefügt hatte, waren bereits wieder verheilt.
»Nicht schlecht, kleiner Blutsauger. Deine Kraft ist nicht zu verachten. Aber es bringt nichts. Wann endlich werdet ihr das lernen, ihr Amateure?«
Der junge Vampir, den Schock über seinen Fast-Tod in den glühenden Eingeweiden der Erde noch in den Knochen, griff sich Innocence, die ein Stück neben ihm auf dem Boden lag, wo er sie einfach hatte fallen lassen, hob sie an und schoss einen Bolzen auf Malucius ab.
Dieser seufzte spöttisch und wollte gerade einen weiteren Spruch ablassen, als er plötzlich das Gesicht verzog und leise keuchte.
»Ach ja, Arschloch?«, spuckte Riley ihm entgegen. »Immer noch so geil? Hast du immer noch so eine große Klappe, wenn du keine Energie mehr hast, du Parasit?«
Der Reaper zog die Augenbrauen kraus und biss die Zähne aufeinander. Diese Schwachköpfe hatten Waffen mit Feenmagie, er hätte es wissen müssen. Natürlich würden sie ihn schwächen wollen, denn anders hatten sie keine Chance gegen ihn.
Malucius sah sich um. Etliche seiner kleinen Helfer waren geschlagen oder verletzt und die, die noch kämpften, taten es verbissen. Ebenso viele Opfer wie unter ihnen, gab es bereits unter Khaelis Feen. Die kleinen Biester lagen zerdrückt, verdreht oder in zwei Teile gerissen herum, doch das hielt die Übrigen nicht davon ab, sich bis zum Tod zu prügeln.
Mit hartem Gesicht zog der Reaper den verhexten Bolzen aus seiner Brust und warf ihn hinter sich in den Magmasee. Er hob die Hand in Richtung einer kleinen Traube von Lichtfeen und öffnete seine Finger.
»Khaĭde!«, rief er und die winzigen Wesen flogen ihm entgegen, als wäre er ein starker Magnet. Malucius umklammerte sie und in der nächsten Sekunde fingen sie zu schreien an, es glühte und dann war das Licht verschwunden.
Die Feen in der Hand des Reapers waren zu Staub geworden. Er hatte ihre Energie absorbiert.
»Oh Shit«, platzte es aus Riley heraus und auch Phobos verzog das Gesicht.
»Dachtet ihr echt, das würde genügen, ihr schwachsinnigen Sodomiten? Macht schon, versucht, mich zu töten. Ich werde zuvor so viele von euch mitnehmen, dass es sich am Ende nicht wie ein Sieg für euch anfühlt. Ihr werdet verlieren, selbst wenn ihr den Kampf gewinnt. Ihr werdet Tote zu beklagen haben, Verletzte und euren Sohn. Ihr werdet verlieren! So oder so.« Malucius lachte. Die Feenenergie in ihm war reine Kraft, pures Licht, und das wahrscheinlich Köstlichste, was es auf Belletristica zu finden gab, abgesehen von dem kleinen Paradoxon, das ihm durch die Lappen gegangen war.
»Wenn du nur vernichtet wirst, wird niemandes Tod vergebens gewesen sein. Du bist ein Feigling!« Phobos zog Nightshade und hielt Malucius die schwarze Klinge entgegen.
»Und damit kennst du dich ja so gut aus, dass du einen anderen erkennst, nicht wahr, alter Freund? Ob du wohl auch noch so denkst, wenn ich erst deinen kleinen Mann dort endgültig in die Flammen befördert habe? Schade, dass der kleine Mistkerl so viel Glück hatte. Ich hätte dich gern brechen sehen, Phobos. Erst den Sohn verloren und dann den Mann, den du liebst. Das wäre mir das liebste Schauspiel geworden. Aber du warst schon immer ein Spielverderber.«
»Und du ein schlechter Verlierer!«, Phobos riss die Hand hoch und ein Steinregen ging auf Malucius nieder, der ihm erneut Wunden auf Gesicht und Körper zufügte, bevor der Vampir vorschnellte, ihm die Klinge seines blutsaugenden Schwerts in die Brust rammte, sodass es ihn vollkommen durchbohrte und dieses anschließend mit einem Ruck wieder heraus zog. Blut klatschte auf den Kraterboden und der Reaper schrie auf.
»Salz?«
»Salz. So einfach und doch so effektiv gegen Parasiten wie dich. Fühlt sich gut an, nicht?«
Malucius’ eisgraue Augen wurden hart und dunkel. »Wenn du denkst, dass das reicht, alter Freund ...«, er stieß sich von Phobos weg und riss beide Arme in die Höhe.
»Mŭlniya!«, schrie der Reaper gen Himmel und die Luft begann, zu knistern und zu kribbeln. Der Vampir riss die Augen auf, machte kehrt und rannte zu Riley zurück, doch er erreichte ihn nicht mehr rechtzeitig, bevor Blitze vom Himmel auf den Boden krachten, auf die Kampfgefährten niedergingen und jeden außer Gefecht setzten.
Auch der Unsterbliche spürte die sengende Hitze, als er getroffen wurde und schließlich in Ohnmacht fiel. Das letzte, was er sah, bevor es ihm schwarz vor Augen wurde, war Malucius, der auf seine Knie gesunken war.