Das Handy in der Hand, saß Erik da. Er zitterte leicht. Sollte er wirklich wieder anrufen? Was ist, wenn heute ein anderer Mitarbeiter, der Seelsorge, ans Telefon ging? Aber es schien so, als wäre jeden Abend um diese Uhrzeit Ricos Dienstzeit. Außerdem arbeiteten nicht viele Leute, bei der Städtischen Seelsorge. Es war nur eine Handvoll. Die Chancen standen also gut, dass er wieder am anderen Ende der Leitung sein würde. Der Mann, dessen Stimme ihn jedes Mal, wenn er ihn anrief, erfüllte und ein Vibrieren durch seinen Körper schickte. Es war wie ein Stromschlag. Jedes Mal. Es durchfuhr ihn, überrollte ihn, wie eine Lawine. Sein Problem? Das, welches ihn noch vor wenigen Tagen nicht mehr schlafen ließ? Das war nur noch ein Vorwand. Eine kleine, unwichtig gewordene Sache, die er als Ausrede für seine täglichen, oder besser gesagt allabendlichen, Anrufe benutzte. Eine kleine Lüge, die keine echte Lüge war, wenn man denn so wollte.
Wieder wählte er die Nummer, die er mittlerweile schon auswendig kannte, und stellte auf Lautsprecher. So konnte er sich auf seinem kleinen roten Sofa zurücklehnen und einfach nur dieser wunderbaren Stimme lauschen. Tuut. Tuut. Tuut. „Hallo, hier ist Rico. Ich bin gerne für sie da, wenn sie möchten. Erzählen sie mir einfach was sie bedrückt!“ „Hey, hier ist Erik“, sagte er schlicht und wartete auf die schöne Stimme. „Oh, hey! Du wieder. Fehlt er dir immer noch so sehr?“, fragte sein Gesprächspartner, am anderen Ende der Leitung. „Nun ja, ich...“ Erik wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er wollte nicht länger so tun, als riefe er wegen der Trauer, um seinen verstorbenen Mann an. Außerdem war sein Tod Monate her. Er wollte, nein er musste ehrlich zu Rico sein. „Um ehrlich zu sein“, begann er. „Es geht nicht mehr um ihn. Es geht um... Naja...ich rufe wegen dir an.“ „Wegen mir?“, das Erstaunen war deutlich aus Ricos Worten zu entnehmen. „Na, das ist mir nun wirklich noch nie passiert“, gestand er leise. Erik fuhr sich durch sein braunes, kurzgeschorenes Haar, oder das, was davon übrig war. „Ich...ich mag deine Stimme“, sagte er, schließlich. „Und nicht nur das. Ich mag die Art wie du redest. Und, dass du überhaupt mit mir redest. Das tut sonst nämlich keiner.“ Das kleine Geständnis brachte er nur sehr leise hervor. Irgendwie hatte er Angst es könnte Rico abschrecken. Doch die Angst war unbegründet. „Warum nicht?“, fragte er nämlich, ernsthaft interessiert. „An deinem Charakter kann es nicht liegen. Ich habe mich bereits Stundenlang mit dir unterhalten und hätte es sicher bemerkt, wenn du scheiße wärst. Also warum dann? Ist es dein Aussehen?“ Erik schüttelte den Kopf, obwohl sein Gesprächspartner dies natürlich nicht sehen konnte. „Ich denke ich sehe ganz okay aus. Ich schick dir gern ein Bild, dann kann ich es dir beweisen!“, sagte er, ohne groß nachzudenken. Erst dann fiel ihm auf, was er gerade gesagt hatte. Er hörte ein leises Lachen aus dem Handy. „Gerne“, sagte Rico und gab ihm ohne zu zögern seine private Handynummer.
Rico hatte ihm an diesem Abend ein Bild von sich geschickt. Natürlich bekam er prompt eines zurück. Die beiden Männer schienen sich zu gefallen und wie es so kommen musste, telefonierten sie seit dem jeden Abend. So auch heute. „Hey du!“, begrüßte der Telefonseelsorger den aufgeregten jungen Mann, am anderen Ende der Leitung. „Hey! Wie war dein Tag?“ „Geht so. Hatte vormittags Dienst und konnte mir so einiges anhören. Und dann hatte es auch noch so sehr geschneit, dass ich mittags mein Auto frei schippen musste. Das geht so langsam auf die Arme, wenn man das jeden Tag macht.“ Erik lachte. „Da kannst du dir das Fitnessstudio sparen. Musst nur jeden Tag 5 Autos ausbuddeln“, meinte er scherzhaft. „Das gibt aber gute Muckis!“, lachte Rico. „Ach, die hast du doch schon“, sagte der blonde Mann, während er sich auf dem Sofa ausstreckte. „Könnten aber noch mehr werden. Vielleicht sollte ich daran arbeiten sie zu definieren.“ „Das hast du nicht nötig“ sprach Erik. „Du bist sexy genug.“ Stille trat ein. Hatte er zu viel gesagt? War Rico vielleicht gar nicht an Männern interessiert? Hatte er sich etwa getäuscht? Sein Schwulenradar funktionierte doch sonst immer einwandfrei. „Danke, du auch“, hörte er schließlich, die erlösende Stimme des anderen Mannes. Er atmete erleichtert aus. Dann fiel ihm auf, dass dieser ihm soeben ein Kompliment gemacht hatte. Er errötete. „Danke. Das hat mir schon ewig keiner mehr gesagt. Genau genommen kam das letzte Kompliment der Art von Lukas, und der ist vor Monaten....Seid Monaten nicht mehr auf dieser Welt.“ Kurz herrschte erneut Schweigen. „Ich kann dir auch sagen warum. Du verkriechst dich seit seinem Tod. Gehst nicht mehr raus. Arbeitest von zuhause aus. Du kauft ja sogar deine Lebensmittel übers Internet. Den einzigen Menschen den du regelmäßig siehst ist der Paketbote. Hast du je darüber nachgedacht mal wieder vor die Tür zu gehen? Einen Spaziergang zu machen? Deine Mutter zu besuchen?“ Kurz flammte Wut in Erik auf und er zog die Stirn kraus. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wie konnte er es wagen, ihm zu sagen, was er tun sollte? Es war schließlich nicht sein Leben und auch nicht seine Aufgabe. Und vor allem war er nicht Lukas! Er war nicht Lukas. Nicht. Lukas. „Alles okay?“, hörte er schließlich die Leise Stimme aus dem Hörer. „Entschuldige bitte. Ich bin zu weit gegangen. Ich mach mir nur Sorgen weißt du. Ich weiß, wir kennen uns eigentlich gar nicht, aber ich mag dich halt und möchte, dass es dir gut geht.“ Erik atmete tief durch. Rico meinte es gut. Natürlich tat er das. Trotzdem konnte er im ersten Moment nicht richtig damit umgehen. Eine Weile sagte er nichts, dann atmete er tief durch und sagte: „Ich weiß. Er fehlt mir nur so sehr. Bis vor kurzem konnte ich andere Männer nicht mal ansehen, weil mich jeder einzelne an ihn erinnert hat. Dabei sah keiner Lukas ähnlich. Aber dann, hab ich mit dir geredet. Anfangs über ihn und das hat gut getan. Dann irgendwann über alles Mögliche und irgendwie tat das noch mehr gut, aber... es ist al ob...“ Er musste nichts sagen. Rico wusste es bereits. Also beendete er den Satz für ihn. Sprach das aus, was er nicht im Stande war zu sagen. „Es fühlt sich an, als ob du ihn vergessen würdest.“ Erik ging nicht direkt darauf ein. Stattdessen sprach er weiter. „Es ist, als würde ich vergessen, was wir zusammen hatten. All die schöne und glückliche Zeit. All die Liebe und Zuwendung, die wir uns gaben. Als würde all das einfach verschwinden. Als wäre es nie da gewesen.“ Seine Stimme wurde ,zum Ende seiner Worte, immer leiser . Er hatte plötzlich einen dicken Klos im Hals, den er einfach nicht herunterschlucken konnte. „Du weist, dass das nicht wahr ist. Auch wenn es sich so anfühlt“, sagte der Seelsorger sanft. „Du verarbeitest nur endlich seinen Tod. Aber das bedeutet nicht, dass du ihn vergisst, oder das was ihr hattet. Das wird immer in deinen Erinnerungen bleiben. Er wird immer in deinem Herzen sein und du wirst ihn immer lieben, auch wenn du dich irgendwann erneut verlieben wirst.“ Stille trat ein. Nur das Atmen des Anderen sagte, dass sie immer noch miteinander telefonierten. Eriks laut klopfendes Herz, immer dann, wenn er Ricos Stimme hörte. Der Grund weshalb er nach den ersten 2 Telefonaten wieder angerufen hatte, fiel ihm wieder ein. Wurde ihm deutlich bewusst. Ihm wurde bewusst, dass es mehr war, als nur das Gefühl den anderen Mann zu mögen. „Ich glaube“, sagte er schlussendlich. „Ich bin gerade dabei.“ Nach ein paar Schweigesekunden hörte er : „Das ist doch gut, denn... ich bin auch dabei mich zu verlieben.“
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