Noch am selben Tag beschloss ich, Michael Brown vorerst etwas aus dem Weg zu gehen. So kam es, dass ich die Schule schwänzte, weil Ray mich überredete, zu ihnen zu kommen. Dort verdrückte der sich aber gleich und ließ mich alleine mit Kai im Wohnzimmer zurück.
Er lag auf der Couch, eingewickelt in eine Decke und sah schlecht aus. Also nicht im tatsächlichen Sinn. Er sah so gut aus, wie immer, aber er wirkte krank und schwach. Die Schmerzen mussten ihm zu schaffen machen und hätten wir uns nähergestanden, hätte ich ihn dafür gerügt, dass er nicht im Krankenhaus bleiben wollte.
So war es allerdings nicht und deshalb stand ich nur wie angewurzelt im Raum, sah mich um.
„Ray will dir vertrauen.“ Kai brummte es aus der Ecke, doch ich starrte bloß durch die große Verandatüre, hinaus in den Garten. „Er tut es bereits.“
„Das kann er auch“, beschwor ich es leise. „Ich werde niemandem erzählen, weshalb er hier ist.“
„Und?“ Ich spürte Kais Blick auf mir und wandte mich zu ihm um, um ihn fragend anzusehen. „Wieso tust du es nicht?“
Ich schüttelte den Kopf, lächelte etwas abschätzend. „Brauche ich dafür einen Grund? Denkst du vielleicht, du wüsstest etwas über mich, was dich das vermuten lässt?“
Ich fühlte mich unwohl, deshalb blieb ich stehen, obwohl ich mich nur zu gerne gesetzt hätte.
„Ich weiß alles, was ich zu diesem Zeitpunkt über dich wissen muss“, erwiderte er bloß kühl. „Dein Freund hat dich verlassen und jetzt hat Ray das Gefühl, dich trösten zu müssen. So ist er, aber vielleicht tust du uns einfach den Gefallen und suchst dir dafür einen anderen.“
Mir ging einiges durch den Kopf, doch nur eines blieb wirklich hängen. Was ein Arsch. Mehr dachte ich in dem Moment nicht mehr. Für wen hielt er sich? Glaubte er wirklich, mir vorschreiben zu können, mit wem ich meine Zeit verbrachte? Niemand zwang ihn, dabei zu sein.
„Das würde dir gut passen, was?“ Ich lachte abfällig.
Er erwartete offenbar, dass ich mich darüber aufregen und ihm klarmachen würde, dass Alex nicht mein Freund war, doch ich stand einfach nur da und hielt seinem Blick stand.
Kai schien wirklich kein netter Mensch zu sein und das trug nicht gerade dazu bei, mich in seiner Nähe wohlzufühlen.
„Vertraust du ihm?“ Kai scannte mich noch immer mit seinen Blicken ab.
„Was für eine Frage?“ Ich ging einige Schritte auf ihn zu und sah auf ihn herunter. „Woher soll ich das bitte jetzt schon wissen?“
„Vertraust du mir?“ Provozierte er mich etwa? Vermutlich sollte ich ihm vertrauen. Wer sonst wäre wohl bereit gewesen, sich für mich eine Kugel einzufangen? Aber war das genug? Nein.
„Wie könnte ich?“ Ich schüttelte den Kopf, genervt über seine blöde Art und den abweisenden Blick, mit dem er mich bedachte.
„Ich habe dir das Leben gerettet.“
„Leider habe ich gerade keinen Orden zur Hand, tut mir leid“, erwiderte ich sarkastisch.
Was sollte das? Wollte er etwas als Gegenleistung? Würde er mir das nun immer und ewig vorhalten?
„Du bist mir etwas schuldig“, bemerkte Kai abschätzend. „Mehr will ich damit nicht sagen.“ Natürlich war ich das. Es war klar, dass er es so sehen wollte. Wie sollte ich es je wiedergutmachen? Wie revanchierte man sich für so etwas? „Vielleicht behältst du es im Hinterkopf, wenn ich dich nochmal darauf hinweise, dass du gehen sollst.“
Den Wink mit dem Zaunpfahl verstand ich durchaus, doch in mir kam bloß die Wut hoch. „Du solltest aufpassen, wie du mit Menschen umgehst!“ Es platzte aus mir heraus. „Denkst du, dass alles gut ist, weil du mir geholfen hast? Du wusstest, was Ben geplant hat und hast mich nicht gewarnt! Ich soll dir jetzt also dankbar dafür sein, dass du durch eine bloße Stimmungsschwankung deine Meinung geändert und dich erbarmt hast, mir zu helfen?“
Einfach unfassbar. Dieser Kerl war echt unglaublich.
„Leg‘ dich besser nicht mit mir an“, warnte er mich. Auch sein drohender Tonfall riet mir, es nicht zu tun. „Ich will, dass du dich aus meinen Angelegenheiten raushältst. Du bist hier, weil Ray dich hier haben möchte. Nicht, weil ich Wert darauf lege.“
„Du verdammtes Arschloch!“, fuhr ich ihn an. „Deine Probleme interessieren mich nicht, also lass‘ deine Laune nicht an mir aus!“
„Probleme?“ Kai quälte sich mühsam von der Couch und kam langsam auf mich zu. Ich beobachtete ihn angespannt dabei, bis er vor mir stehenblieb. „Du glaubst also, ich habe Probleme?“
Damals wusste ich noch nicht, dass es keine Frage mit Antworterwartung war. Auch mein Bauchgefühl riet mir, zu schweigen, doch natürlich hörte ich nicht darauf.
„Du hast diese ganzen Verletzungen. Wa…?“
Unerwartet stieß Kai mich gegen die Wand, schlug mit der Faust neben meinem Kopf dagegen und drängte mich zurück, bis kaum noch Platz zwischen uns war. Es musste ihn Kraft kosten, aber er verzog nicht eine Miene, starrte mich nur an. Wut blitzte in seinen Augen auf.
„Misch‘ dich nicht in Sachen ein, die dich nichts angehen!“ Er brüllte es und ich zuckte merklich zusammen.
Für einen Augenblick zögerte ich, doch dann packte mich der Mut. „Du bist in meinem Leben aufgetaucht!“ Ich schrie es, obwohl meine Beine bereits zitterten. „Wenn du nicht willst, dass Leute sich Gedanken über deine Probleme machen, dann hättest du sie dort lassen sollen, wo du hergekommen bist!“
Das waren die wenigen Sekunden, in denen ich es schaffte, mutig zu sein. Danach bangte ich nur noch vor seiner Reaktion. Sein Auftritt schüchterte mich in Wahrheit stark ein.
Kai starrte mir wutentbrannt in die Augen. Ich war mir sicher, dass es Hass war, der hinter der grau-blauen Iris aufblitzte.
„Ist das also deine Art?“ Ich flüsterte es beinahe, denn auch meine Stimme zitterte inzwischen. Von Unsicherheit gepackt, starrte ich auf seine Hand. „Kannst du nur das? Gewalt? Schlägst du mich?“
Ein Teil von mir rechnete wirklich damit. Dann sah ich in Kais Augen, wie die Wut wich und es wirkte fast so, als würde er geradewegs durch mich hindurchstarren. Ich war fertig mit den Nerven. Alex war weg und ich war alleine. Kai hasste mich, brüllte mich an, schüchterte mich ein.
Was sollte ich tun? Wo wollte ich hin? Ich fühlte mich einsam, verlassen und ängstlich. Es verunsicherte mich, denn es war das erste Mal, dass ich mich so fühlte.
„Geh‘ mir bitte aus dem Weg.“ Ich sprach noch immer leise. „Du machst mir Angst.“
Verkrampft und von ihm an die Wand gedrängt, stand ich einfach nur da. Zitternd, während Kais geballte Faust noch immer auf Kopfhöhe neben mir prangte.
Langsam ließ er sie sinken und trat einen Schritt zurück. „Geh‘. Ich werde dich bestimmt nicht aufhalten.“ Es klang kühl, aber nicht mehr aggressiv.
Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Ich stürmte aus dem Haus und bemerkte nicht einmal Ray, der oben auf der Treppe saß und den Kopf gegen das Geländer lehnte. Er hatte mich gewarnt, mir gesagt, dass ich mich raushalten soll, doch ich hatte ja nicht hören wollen.
Kai war ein Bad Boy, wie er im Buche stand. Er besaß viel Geld, reagierte genervt auf alles, wurde schnell wütend, misstraute aus Prinzip erstmal jedem und wirkte unnahbar. Außerdem war er aggressiv, scheinbar völlig emotionslos und nicht in geringster Weise empathiefähig. Nichts davon schien verlockend genug zu sein, um sich weiterhin in seiner Nähe aufzuhalten.
Auch eine knappe Woche später hielt ich mich von allen Leuten möglichst fern. Ich fühlte mich beinahe schutzlos und gab mir Mühe, nicht zu sehr aufzufallen. An diesem Morgen schlich ich mich früh aus dem Haus. Unter anderem, weil mir aufgefallen war, dass Michael es nicht wieder verlassen hatte.
Weil ich deshalb aber zu früh dran war, saß ich nun im Café neben der Schule und trank Kaffee. Allein. Niemals wäre ich alleine irgendwohin gegangen. Nun blieb mir wohl keine Wahl mehr. Stattdessen blieb mir viel Zeit zum Nachdenken.
Zeit, in der ich überlegte, ob ich mich tatsächlich von Kai und somit auch von Ray fernhalten sollte. Zeit, in der ich mich fragte, wie ich meiner Mutter begreiflich machen konnte, dass ich hinter Michaels charmantem Auftreten Betrug vermutete.
„Wer so traurig guckt, braucht wohl mal etwas Ablenkung.“
Mein Blick streifte den unauffälligen Mann neben mir nur kurz. Er lächelte mir freundlich entgegen. Tatsächlich wirkte er recht unscheinbar, mit den dunklen Haaren und Augen, der schlanken Figur.
„Ablenkung vom Leben?“ Ich seufzte.
„Kennst du den Club?“ Noch immer wurde ich sympathisch angelächelt.
Ich nickte bloß. Wer kannte den nicht? Spellington war nicht groß und es gab nur den einen. Sonst gab es nicht viel. Wir besaßen nicht mal ein Bowlingcenter oder ein Kino. Bloß noch eine Kneipe, ein Einkaufscenter und den Park im Nachbardorf. Uns blieb, außer des Clubs, nur noch der ramponierte Supermarkt zwei Straßen weiter und der kleine Zeitungsbetrieb, der wöchentlich die Spellington Post rausbrachte. Wieso lebte ich nochmal in dem langweiligsten Vorort der Menschengeschichte?
„Er gehört mir.“ Es klang fast so, als wollte er damit angeben.
Als er mich aber angrinste, grinste ich auch. Völlig unbeabsichtigt. Naja, einen Club zu besitzen war wohl das Spannendste, was man hier zu bieten haben konnte. Nicht mal der Besitzer des Cafés konnte damit mithalten.
„Freitag und keine Widerrede“, sagte er und legte Geld auf den Tresen. „Du siehst aus, als könntest du ein bisschen gute Stimmung vertragen. Wenn du da bist, frag‘ nach Van Dancose.“
Er zwinkerte mir zu und ich ließ mich dazu hinreißen, ihm auch meinen Namen zu nennen.
„Dann sehen wir uns Freitag, Douphne.“
Er ließ mich alleine zurück und ich spielte wirklich für einen Moment mit dem Gedanken, hinzugehen, bis mir bewusst wurde, dass es niemanden gab, der mit mir gehen würde. Alleine kam es für mich nicht infrage.
Als ich in der Schule ankam, Ray sich gleich auf mich stürzte und mich mit unzähligen Fragen bombardierte, war ich mir aber nicht mehr sicher, ob das wirklich zutraf. War ich alleine? Zumindest einer gab sich die größte Mühe, mit mir Zeit zu verbringen.
Ich lächelte Ray nur warmherzig an. Es war süß, wie er auf der Lauer lag und sich sorgte, weil er mich zu Hause nicht angetroffen hatte, um mich abzuholen. Ich erinnere ich gerne an Momente wie diesen zurück. Sein Verhalten ermutigte mich damals dazu, mich auf diese Freundschaft einzulassen und zu ignorieren, dass Kai ein Vollidiot war.
So kam es, dass ich Ray fragte, ob er mich in den Club begleiten würde und ehe ich mich versah, hielt ich Ausschau nach dem Mann aus dem Café.
Zu meiner Überraschung kam auch Kai mit. Ich ging allerding davon aus, dass er es nur tat, um mich im Auge zu behalten. Er vertraute mir nicht und fühlte sich offenbar dazu verpflichtet, mich zu beobachten. Was man also auch von ihm halten konnte, man konnte ihm zumindest nicht vorwerfen, nicht auf seinen Freund zu achten.
Weil ich Van Dancose nirgends entdecken konnte, fragte ich den Dj, wo ich ihn finden könnte. Der deutete auf die Treppe zur oberen Etage.
Ich betrat das Büro nach einem kräftigen Klopfen, um die Lautstärke der Musik zu übertönen und erkannte Van hinter einem Schreibtisch, doch er sah nicht auf. Erst, als ich ihn ansprach, hob er ruckartig den Kopf und strahlte.
„Douphne.“ In großen Schritten kam er auf mich zu. „Schön, dass du es geschafft hast. Bist du alleine?“
„Zwei Bekannte warten an der Bar.“ Vermutlich wirkte ich distanziert. Das lag allerdings nur daran, dass ich bereits genervt war, weil Kai schlechte Stimmung verbreitete.
Unten angekommen, fanden wir dann allerdings nur Ray vor. Ich stellte die beiden einander vor und erkundigte mich nach Kais Verschwinden.
„Er ist rausgegangen“, wies Ray mich daraufhin und versuchte, beschwichtigend zu lächeln.
Wozu war Kai überhaupt mitgekommen, wenn er scheinbar keine Lust hatte? Um genau das zu klären und weil ich deswegen wütend wurde, ließ ich Van und Ray alleine.
Ich entdeckte Kai im Schatten einer Laterne, auf einer Mauer sitzend. Zuerst wollte ich unfreundlich sein und ihn meine Wut spüren lassen, doch dann fiel mir auf, dass er sich erschöpft abstützte und eine Hand auf seine Brust presste. Mir rief es seinen Einsatz in Erinnerung und meine Wut verschwand augenblicklich. Ihm ging es schlecht.
„Wieso bist du mitgekommen, wenn du Schmerzen hast?“ Ich sprach es leise an. „Ist es so wichtig, dass du mich im Auge behältst?“
Kai schwieg nur, doch mein Mitgefühl ließ mich deswegen nicht mehr wütend werden, weil ich ihn leiden sah.
Ich seufzte. „Vielleicht können wir es uns etwas leichter machen.“ Zögernd setzte ich mich neben ihn, doch er würdigte mich keines Blickes. „Anscheinend werden wir uns in Zukunft zwangsweise in der Nähe des anderen aufhalten müssen, weil Ray und ich uns gut verstehen. Sag‘ mir doch also einfach, was genau dir an mir missfällt. Vielleicht ist es etwas, das ich ändern kann.“
Dazu wäre ich wirklich bereit gewesen. Ich mochte grundlosen Zank nicht und wünschte mir einfach nur, dass er mich in Frieden ließ. Ich wollte irgendwie mit ihm auskommen, damit der Umgang leichter werden würde.
„Ich will dich einfach nicht ständig in meiner Nähe haben.“ Kai sprach es aus und ich schmunzelte über diese vage Aussage. „Du musst nichts an dir ändern. Sei einfach du selbst, nur halt eben in der Nähe eines anderen.“
Wieso suchte ich nur immer wieder das Gespräch mit jemandem, der mich nicht leiden konnte? Vermutlich lag es einfach daran, dass er mich ebenso sehr faszinierte, wie er mich einschüchterte. Es war etwas an ihm, was mich schon damals nicht mehr von ihm loskommen ließ.
Zu meiner Verblüffung spürte ich sogar, wie mein Frust auf ihn wegen Ben, immer mehr und mehr abflachte. Er tat nichts dafür. Vielleicht war es Ray. Sein Vertrauen zu seinem Freund. Sein Glaube daran, dass dieser zu den Guten gehörte.
Ich beschloss in dieser Nacht, diese Seite finden zu wollen. Ich wollte wissen, ob Ray Recht behalten würde. Wenn es eine gute und zugängliche Art in Kais Wesen gab, wollte ich sie kennenlernen. Ohne Alex hielt mich immerhin niemand davon ab und es gab auch nichts Besseres, worauf ich meine Zeit verwenden konnte.