Meine allgemeine Stimmung konnte man wohl als demotiviert bezeichnen. Die Sommerferien waren vorbei und der erste Schultag stand uns nun mal wieder bevor. Schneller, als uns allen lieb war.
Das erste Jahr unseres Abiturs war uns gut gelungen, zumindest schulisch betrachtet. Nun ging es in die zweite Runde, doch darüber freuen konnte ich mich nicht.
Ich war noch immer geschlaucht von meinem Sommer in der Villa der McKenzies. In dem Zuhause von Kais Vater. Kais ehemaligem Zuhause.
Zumindest das war uns gelungen, obwohl man die Umstände, die dazu geführt hatten, nun wirklich nicht als ideal bezeichnen konnte. Sei es drum. Kai gehörte nun offiziell nach Spellington. Er würde bleiben. Ich war mir nicht sicher, ob ich mir dafür selbst nicht irgendwann doch noch in den Hintern treten würde. Immerhin war es mein Verdienst.
Ja, ich hatte den Sommer in seinem Elternhaus verbracht, gemeinsam mit ihm und unserem Freund Ray. Nicht, weil es dort so schön oder gar harmonisch war. Nein. Ich war nur hingefahren, um einen störrischen und meist unfreundlichen Kerl zurück nach Hause zu holen. Und das, obwohl er eigentlich selten nett zu mir gewesen war.
Nun, kaum zurück, hatten wir uns erst vor wenigen Tagen versprochen, uns um eine Änderung zu bemühen. Naja, er hatte das. Ich war mir eigentlich keiner Schuld bewusst. Immerhin hatte ich ihn, nach all seinen Gemeinheiten und seinem kühlen und aggressiven Wesen, nach wie vor nicht fallenlassen. Das auch nur deshalb, weil mich diese kleine, verborgene und gute Seite in ihm davon überzeugt hatte, dass er es wert war.
Das vergangene Jahr war in vielerlei Hinsicht für alle Beteiligten nicht einfach gewesen. Mein Freund Alex ließ mich alleine in Spellington zurück. Pünktlich zu diesem Zeitpunkt erschienen Kai und Ray auf der Bildfläche.
Kai war binnen weniger Sekunden als unnahbarer Bad Boy verschrien. Keine Frage, die Mädchen standen trotzdem reihenweise auf ihn. Allerdings lag das nun wirklich nicht an seinen inneren Werten. Er war für eine kurze Zeit Mitglied in einer Schlägertruppe und wenn man ihn so ansah, passte er dort auch äußerlich gut hinein. Er war stark und trainiert. Stattlich, wie meine Mutter es vielleicht nennen würde. Heiß, wie mein Großvater es genannt hatte, nachdem ich selbst Kai lediglich als attraktiv bezeichnet hatte.
Er passte für die meisten Dorfbewohner einfach nicht hierher. Nicht in dieses idyllische, friedliche Zuhause. So hätte ich es vermutlich auch betrachtet, wenn mein Weg den von Kai nicht auf drastische Weise gekreuzt hätte. Gleich mehrmals sogar.
Er rettete mein Leben. Zwei Mal. Und er bewahrte mich vor einer grauenvollen Erfahrung. All das schweißte uns zusammen und knüpfte ein starkes Band zwischen uns. Brachte Vertrauen hervor.
Waren wir also Freunde? Nein, nicht wirklich. Aber wir wollten es nun wenigstens versuchen. Nicht für uns.
Für Ray, Kais besten Freund und meinen einzigen Freund. Zumindest war er das für eine ganze Weile gewesen.
Sie beide hatten ihr Päckchen mit nach Spellington gebracht. Der eine aus dem grausamen und gewaltvollen Elternhaus geflüchtet, der andere auf der Flucht vor der Fürsorge. Denn Ray war Waise, verlor nur wenige Wochen vor seiner Ankunft bei uns seine Eltern.
Egal, wie oft ich mich nach Alex` Verschwinden nun auch einsam fühlte. Seine Einsamkeit war um ein Vielfaches größer. Und deshalb, nur deshalb, hatten Kai und ich uns im Frühling zusammengerauft und einen sporadischen Frieden geschlossen. Ray brauchte nicht ihn alleine, nicht mich alleine. Er braucht uns, gemeinsam, als Einheit, friedlich.
Dadurch bekam ich die Chance, etwas hinter Kais kühler Fassade zu erkennen und entdeckte eine gute Seite an ihm. Seine Freundschaft zu Ray, seine mitfühlenden Momente, sein Engagement, die Menschen zu schützen, die ihm etwas bedeuteten. Sogar mich beschützte er und obwohl Ray vermutete, dass Kai es inzwischen aus Zuneigung zu mir tat, war ich mich in dieser Sache nicht sicher. Die Zeit würde es zeigen.
„Die ganze Klasse?“
Die Jungs musterten mich irritiert, als ich die Frage ungläubig in den Raum warf.
Kai schien als erster zu verstehen, worauf ich hinauswollte und brummte verdrießlich. „Ray hat sich gedacht, es wäre witzig, wenn ich eine große Feier machen würde. Ich soll umgänglicher werden, weil ich jetzt offiziell hier lebe.“
Er schien selber nicht besonders begeistert darüber zu sein. Er war kein Mensch, der sich in großen Runden wohlfühle. Er wusste, dass man ihn nicht mochte. Damit konnte er auch umgehen, nur verstand er nicht, wieso er daran etwas ändern sollte.
„Ich hatte noch eine weitere Idee.“ Ray grinste uns entgegen und überging damit Kais miese Einstellung zu seiner Geburtstagsfeier.
Der stöhnte nun aber genervt auf und verdrehte dazu die Augen. „Jetzt kommt das schon wieder …“
„Wir drei sollten gemeinsam Urlaub machen“, brachte Ray es selbstbewusst vor. „Vielleicht zelten gehen? Wir sollten uns noch viel besser kennenlernen und ihr zwei müsst dringend noch an eurer Einstellung zueinander arbeiten.“
Ich blieb stumm und auch Kai strafte seinen besten Freund mit Schweigen.
„Das heißt dann wohl, ihr wollt nicht?“ Ray nahm es frustriert zur Kenntnis.
„Was hat uns verraten?“ Kai nahm darauf keine Rücksicht, sprach aus, was er dachte. Kühl, ganz wie gewohnt.
Ich teilte seine Ansicht, wenn auch aus anderen Gründen. Zelten kam für mich nicht wirklich infrage. Ich war nicht gerade im Einklang mit der Natur und stand nicht auf die Krabbeltierchen, die sich nur zu gerne in das Zelt verirrten. Außerdem war es unbequem und um voll und ganz ehrlich zu sein; Ich war einfach nur froh, endlich wieder zu Hause zu sein.
„Aber wäre es nicht leichter, wenn ihr zwei mehr über einander wüsstet? Wenn ihr lernen würdet, den anderen besser zu verstehen?“
Oh je, was wollte er nur? Kai würde wütend werden, ich ahnte es bereits. Er war ein schwieriger Mensch.
Kai war aggressiv und neigte schnell zu Gewalt, war außerdem bekannt dafür, in der Vergangenheit einen regen Frauenverschleiß gehabt zu haben und er hasste Neugier, sowie sämtliche Versuche, sich in sein Leben einzumischen.
Obwohl ich im vergangenen Jahr genau das ausgereizt hatte und keines seiner Mädchen geworden war, tolerierte er trotzdem weiterhin meine Anwesenheit. Ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren, denn ich war mir sicher, dass ich in Kais Augen ohnehin schon zu viel über ihn wusste.
„Okay.“ Ich spürte deutlich die Anspannung in seiner Stimme, als er Ray antwortete. „Wie erkläre ich das jetzt? Ach, wie schön. Mir wird gerade klar, dass ich mich überhaupt nicht vor euch rechtfertigen muss. Ich will einfach nicht.“
„Das ist alles?“ Ray musterte ihn kritisch. „Deine ganze Antwort? Du willst einfach nicht?“
Kai schenkte uns nicht mal ein Nicken, als er sich von uns abwandte und über den Schulhof davonschritt.
Ray wirkte ganz und gar unzufrieden und plötzlich tat er mir leid. Er stellte sich solch einen Ausflug scheinbar wirklich schön vor, doch sein bester Freund wimmelte ihn einfach eiskalt ab.
Als er meinen Blick bemerkte und wir uns schließlich auch in Bewegung setzten, lächelte er leicht. „Ich will doch nur, dass dieses Jahr besser wird.“
„Das wird es.“ Ich hakte mich in seinem Arm ein und strich ihm sanft mit meiner freien Hand darüber. „Erzwing‘ es nur nicht. Lass‘ ihm Zeit.“
In Wahrheit war ich nur froh, dass Kais übliches Wesen diesem Urlaub einen Strich durch die Rechnung machte.
Als Mr. Qurandi in seinem strengen Gang den Klassenraum betrat, beachtete zuerst niemand den Neuen, der ihm folgte. Bis zu dem Moment, in dem unser Lehrer den Namen verkündete und die ersten bösartigen Blicke an diejenigen verteilte, die leise tuschelten.
„Das ist Jess McKeown.“ Qurandi setzte sich an seinen Schreibtisch und sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Ich fragte mich in diesem Augenblick nicht zum ersten Mal, ob ich ihn jemals aufrichtig hatte lächeln sehen. „Er ist hergezogen und besucht ab sofort diese Klasse. Was für eine Freude, dass uns auch dieses Jahr wieder ein solches Glück zuteilwird.“
Ich konnte schwören, dass er für eine Sekunde genervt in Kais Richtung blickte. Verständlich, wenn man genau darüber nachdachte, aber ich konnte mich nicht damit befassen, weil mir plötzlich klarwurde, dass ich den Neuen bereits kannte. Er war derjenige, mit dem ich im Zug auf der Rückfahrt zusammengestoßen war.
Während mir bloß einfiel, dass er nicht besonders nett gewesen war, schmolzen meine Mitschülerinnen bereits dahin, wie sie es im Jahr zuvor auch bei Kai getan hatten. Kein Wunder. Zumindest äußerlich stand er Kai nicht wirklich in etwas nach. Er war etwas schlanker, weniger muskulös. Seine Haare waren einen Hauch dunkler, als Kais, aber insgesamt sah er unglaublich gut aus.
„Da sie auch mit dem letzten Streuner ihren Weg gefunden hat …“ Qurandi klang plötzlich äußerst gehässig und ich konnte seinen Blick bereits spüren, bevor er meinen Namen aussprach. „Wie wäre es mit dem Sitzplatz hinter Miss Parker?“ Dann wandte er sich grimmig an sein neuestes Opfer. „Wenn Sie dort also nicht festgewachsen sind, setzen Sie sich endlich in Bewegung und finden Sie ihren Platz.“
Gemütlich kam Jess auf mich zu und ließ sich hinter mir entspannt auf den Stuhl sinken. Im Vorbeigehen lächelte er mich an und kaum saß er hinter mir, beugte er sich bereits nach vorne, um mich anzusprechen.
„Dieses Mal ganz ohne Zusammenstoß.“
Es war nur ein leises Flüstern, aber ich konnte im Augenwinkel wahrnehmen, wie Kai es ebenfalls zur Kenntnis nahm und dann leicht den Kopf schüttelte.
„Geht das jetzt immer so weiter?“ Jess grinste mich frech an und zog seine Schuluniform zurecht.
Nach Schulschluss schafften wir es doch tatsächlich nicht, einen erneuten Zusammenstoß zu vermeiden. Ich bog bloß um eine Kurve, da stand er bereits vor mir und ich rannte geradewegs in ihn hinein.
„Warum lungerst du hier rum, McKeown?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn selbstbewusst an. „Vielleicht solltest du lernen, anderen Menschen nicht immer im Weg zu stehen.“
„Ich bin Jess.“ Es klang weniger wie eine Vorstellung. Eher vermutete ich, dass er sich darüber wunderte, weil ich ihn beim Nachnamen nannte.
„Das ist mir klar“, erwiderte ich deshalb brüsk. „Aber ich mag dich nicht besonders und es ist hier so üblich, sich in solchen Fällen eher selten beim Vornamen zu nennen.“
„Autsch.“ Er versperrte mir den Weg, als ich an ihm vorbeigehen wollte, doch in seinem Gesicht lag noch immer ein Lächeln. „Du sollst dich doch um den neuen Streuner kümmern.“
Überrascht von seiner aufdringlichen Art, wich ich einen Schritt zurück. „Ich habe wohl nur die Energie für einen von euch.“
Jess grinste. „Ein Vorschlag, in Ordnung? Ich trage deine Tasche und bringe dich nach Hause. Dafür erzählst du mir, was ich wissen sollte.“
Noch bevor ich antworten konnte, streckte er seine Hand nach meinem Rucksack aus. Erneut wich ich einen Schritt zurück.
„Lass‘ es einfach“, ermahnte ich ihn. „Du kommst schon zurecht.“
„Sollte nur eine nette Geste sein“, erklärte er sich und lächelte noch immer.
Es wunderte mich, dass er so angestrengt versuchte, freundlich zu bleiben.
„Überanstreng‘ dich mal lieber nicht.“ Ich stieß ihn mit Nachdruck zur Seite, um endlich an ihm vorbeizukommen. „Ich habe im Zug gemerkt, dass dir das eher schwerfällt.“
Jess wollte etwas erwidern, als Kai plötzlich neben uns auftauchte und sich lässig seine Tasche über die Schulter warf.
„Kommst du?“ Er ignorierte den Neuankömmling gekonnt, würdigte ihn keines Blickes.
„Wir kennen uns noch nicht.“ Jess nutzte seine Chance und drängte sich in den Vordergrund. „Hi, ich bi…“
„Kein Bedarf“, brummte Kai nur.
Jess stutzte kurz, doch dann riss er sich zusammen und lächelte erneut. „Ich bin Jess McKeown.“
„Denkst du, ich weiß nicht, wer du bist?“ Kai glänzte mal wieder mit Distanz und ignorierte die Hand, die ihm gereicht wurde.
Es fühlte sich gut an, dass sein abweisendes Verhalten mal nicht mich traf.
„Eigentlich wollte ich nur wissen, wer du bist“, bemerkte Jess etwas resigniert, doch ihm schien ein Licht aufzugehen. „Ich könnte dich vermutlich auch Streuner nennen, aber ich wüsste lieber deinen richtigen Namen.“
Die Blicke der beiden trafen sich und ich spürte Kais Anspannung. Er wurde wütend, fühlte sich durch Jess` Verhalten bedrängt.
„Kai McKenzie“, antwortete er schließlich, doch in seinem Blick lag eine Warnung. „Und jetzt solltest du langsam Abstand gewinnen und mit dieser Information bei anderen in Erfahrung bringen, wieso du dir demnächst besser zwei Mal überlegst, ob du mich ansprechen möchtest.“
Als wir schließlich Ray sahen und gemeinsam losliefen, grinste Jess uns nur hinterher.