Und da war es wieder. Das Ticken im Kopf. Tick Tack, Tick Tack.
Gequält drehte sich Thomas von einer auf die andere Seite.
Er schlug die Decke zurück. Ein Schluck Wasser würde ihm gut tun.
Aber Moment - wo war er denn?
Andere Zimmerdecke, fremde Gerüche.
Als er sich umwandte, nahm er eine Gestalt neben sich im Bett wahr.
Sein Schädel brummte. Mit der linken Hand fuhr er sich übers Gesicht. 'Lieber Himmel,' dachte er. 'Lass es eine Frau sein.'
Er wusste von seinen Neigungen und hatte diese schon öfter ausgelebt.
Sein Stoßgebet wurde nicht erhört.
Die Gestalt stöhnte in einem tiefen Basston und drehte sich um. Bartstoppeln und ein scharfes Aftershave waren das erste was ihm auffiel.
Ach du Schande... Panik ergriff Thomas.
Nicht genug, dass er sich mal wieder mit einem Schwanzträger eingelassen hatte. Dieses Mal war es noch dazu sein eigener Chef.
Er musste weg. Und zwar schnell.
So leise wie möglich stand er auf und zog sich an.
Das Bett knarzte fürchterlich bei jeder Bewegung.
Siedend heiß kamen ihm Erinnerungen der vergangenen Nacht hoch, als er diese Geräusche vernahm.
Es war seltsam.
Beinahe wollte er nicht gehen, obwohl es das einzig Vernünftige in dieser Situation war.
Etwas hielt ihn zurück.
Er warf einen Blick auf das Gesicht seines Chefs und da traf es ihn wie ein Blitz.
Liebe? Oh mein Gott!
Thomas nahm die Beine in die Hand und war in weniger als 10 Minuten bei sich zu Hause.
Der Geschäftsleiter seiner Firma, Alex Braun, wohnte nur wenige hundert Meter von Thomas' Wohnung entfernt.
Dennoch trennten sie Welten.
Es war jener Teil der Stadt, wo das Hochhausviertel ins Villenviertel überging.
Thomas' Herz raste.
Dann setzte es wieder einen Moment aus, wenn Bilder der letzten Stunden vor seinem geistigen Auge aufflammten.
Verdammt.
Es hätte jeder sein können.
Warum ausgerechnet Mr. Braun?
Wie war es überhaupt so weit gekommen?
Gestern Abend... Ach ja.
Er war fix und alle gewesen nach dem Abschluss des letzten Großprojektes und wollte in seiner Stammkneipe noch einen drauf machen.
Dass er dort auf Alex - moment, Alex?
Seit wann nannte er ihn in seinen Gedanken beim Vornamen? - die Sache wurde immer schlimmer.
Die Stimmung, der zunehmende Genuss von Alkohol.
Eins führte zum anderen und schließlich hatten sie die Kneipe verlassen und waren in seinem - Mr. Brauns - Bett gelandet.
Thomas sperrte die Wohnungstür endlich auf, trank einen halben Liter Wasser auf einmal und verschwand unter der Dusche.
Zum Glück war heute Sonntag. Er würde seinen Chef die nächsten 18 Stunden definitiv nicht sehen müssen.
Allein der Gedanke an ihn ließ sein Herz hüpfen.
Verzweifelt hielt Thomas sich den Kopf und schrie stumm in den Wasserstrahl seiner Dusche.
Am nächsten Morgen, Thomas hatte kaum geschlafen, stand er wie gewohnt auf der Matte.
Unglücklicherweise war er Chefsekretär und dadurch gezwungen, Alex Braun täglich mehrmals zu sehen und zu sprechen.
Wie würde dieser reagieren?
Thomas hatte Angst vor einer Kündigung.
Der Job war sein Leben.
Die Kollegen super, das Geld in Ordnung und sein Chef - Thomas schluckte - sein Chef ein echtes Zuckerstück von einem Mann.
Wieder beschleunigte sich sein Puls unwillkürlich.
"Thomas?" Mr. Braun stand in seiner Bürotür und sah sich nach seinem persönlichen Sekretär um.
Er nannte ihn schon lange beim Vornamen, weshalb niemand im angrenzenden Großraumbüro auch nur den Kopf hob, als der Ruf durch den Raum flog.
"Ja, Mr. Braun? Ich bin gerade gekommen."
Heisses Blut stieg dem Sekretär ins Gesicht, als ihm seine unglückliche Wortwahl bewusst wurde.
Noch schlimmer:
In seinen Gedanken formten sich unanständige Szenen aus, als er das scharfe Profil seinen Chefs sah.
Alex, wie er nach Thomas' Krawattenknoten griff, ihn zu sich heranzog und vor sämtlichen Kollegen küsste.
Alex, wie er Thomas herein bat und ihn anschließend wie besessen auf seinem Tisch durchvögelte.
Kalter Schweiss brach Thomas aus.
Eben noch puterrot wechselte seine Gesichtsfarbe zu kreidebleich.
Er ließ seine Tasche fallen und sämtliche Dokumente verteilten sich vor ihm auf dem Boden.
Auch das noch.
An einen schnellen Rückzug mit kurzer Ausrede war nicht mehr zu denken.
Schnell bückte sich der Chefsekretär und sammelte alles auf.
Schon war Alex bei ihm.
"Geht es Ihnen nicht gut? Sie sehen blass aus, Thomas."
Alex' Hand auf ruhte auf Thomas' Schulter.
Wo sie ihn berührte kribbelte Thomas' Haut wie verrückt.
Selbst, als die Hand längst wieder weg war, hörte es nicht auf.
Das Aftershave von Alex stieg ihm in die Nase.
Er hielt es kaum noch aus.
Am liebsten hätte er Alex in die nächste Kammer gezogen und... Scheiße... Sein Glied wurde steif.
Im Hinausrennen rief er seinem Chef noch zu:
Ja, ihm sei schlecht, er wolle sofort zu einem Arzt gehen.
Es klingelte an der Türe.
Einmal.
Pause.
Noch einmal.
Pause.
Schließlich Sturm.
Als er öffnete, stand Clarissa vor ihm.
"Oh mein Gott, Thomas, wie siehst du denn aus? Ich meine, ich hab gehört, dass du krank bist, aber das es so schlimm ist!?"
Sie trat an ihm vorbei in die kleine Wohnung, durch den winzigen Flur, schmiss ihre Tasche auf die Kommode neben das Telefon.
Der AB blinkte seit Tagen.
Ohne Punkt und Komma faselte Clarissa weiter.
Sie und die anderen Kollegen hätten sich alle furchtbare Sorgen gemacht.
Mr. Braun habe immer wieder nach ihm gefragt.
Thomas entfuhr ein tiefer Seufzer, der in einem Schluchzer endete, als der Name seines Chefs fiel.
"Thomas?" Clarissa hörte auf, die überall verteilten Schnupftücher einzusammeln und setzte sich zu Thomas, der mit vom Heulen geröteten Augen dasaß und unkontrollierte Schluchzer zu unterdrücken versuchte.
"Schätzchen, was ist denn los? So hab ich dich nicht mehr gesehen, seit Lucilla dir den Laufpaß gegeben hat. Ach, komm her."
Sie zog ihren Kollegen in eine Umarmung und ließ ihn an ihrer Schulter heulen, bis er sich beruhigt hatte.
"Besser?"
"Ein wenig." Thomas erschrak selbst über seine raue Stimme.
"Gut, Vorschlag. Ich lad dich ins Mama's Diner ein und du erzählst mir, was los ist, ok?"
Thomas hatte zwar nicht die geringste Lust raus zu gehen, aber er kannte seine Freundin lange genug um zu wissen, dass ein "Nein" nicht akzeptiert wurde.
Und so saßen sie eine halbe Stunde später im Restaurant um die Ecke.
Clarissa bestellte sich einen Milchkaffee und Thomas einen doppelten Espresso.
"Er braucht was Starkes." Zwinkerte sie der Bedienung zu.
"Das sehe ich." Meinte Rosie und brachte noch einen Apfelkuchen dazu.
"Hier, Thomas, geht aufs Haus."
Thomas nickte nur und sagte nichts.
Er schwieg solange, bis Clarissa anfing ungeduldig mit dem übergeschlagenen Bein zu wippen und mit den Fingernägeln auf den Tisch zu klopfen.
Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus.
"Nun sag schon. Wer ist es? Wegen wem heulst du dir geschlagene drei Tage lang die Augen aus dem Kopf, gehst nicht raus und nicht ans Telefon?"
Drei Tage?
Nur drei Tage?
Für ihn hatte es sich angefühlt wie eine kleine Ewigkeit.
Er sah Clarissa in die Augen und schwieg.
"Ist es ein Mann? Kannst du deshalb nicht sagen, wer es ist? Komm schon, du weißt, dass ich es weiß. Ich hab damit kein Problem."
Beeilte sie sich zu versichern, denn etwas in seinem Blick hatte sich verändert und gab ihr das sichere Gefühl richtig zu liegen.
"Ist es Sam? Der aus dem Lebensmittelladen? Der hat dich immer so hungrig angestarrt, als wollte er dich am liebsten fressen."
Thomas schüttelte nur angewidert den Kopf.
Sam war mal so gar nicht sein Fall.
"Einer aus der Arbeit?" Bohrte Clarissa weiter.
Wieder dieser Blick.
Sie ließ nicht locker, fing an ohne erkennbares Muster Namen aller möglichen männlichen Kollegen aufzuzählen, die ihr einfielen, bis Thomas der Kragen platzte.
"Es ist Alex, ok?!"
Er stand wütend auf, schmiss ein paar Dollar auf den Tisch, grabschte seine Jacke und stürmte aus dem Laden.
Clarissa brauchte einen Moment, bis ihr klar wurde, dass Alex der Vorname ihres Chefs war.
Als sie sich endlich von ihrem Schock erholt und den Mund wieder zugeklappt hatte, war Thomas längst verschwunden.
"Eigentlich müsste ich dich feuern, weißt du."
Thomas traute seinen Augen nicht.
Als er vom Diner zurückkam, saß Mr. Braun an die Tür gelehnt vor seiner Wohnung.
Dunkle Schatten unter den Augen verrieten, dass er nicht gut schlief.
Er stand auf und machte den Weg frei.
Thomas war im Nu in der Wohnung verschwunden, ohne ein Wort zu sagen.
Aber so leicht ließ sich Alex nicht abwimmeln.
Er stellte den Fuß in die Tür und zog sie mit einer Hand wieder auf.
Sein Sekretär flüchtete ins Wohnzimmer.
Alex stampfte ihm wütend hinterher.
"Hey! Ich rede mit dir! Seit Tagen hör ich nichts. Kein Anruf, keine Krankmeldung, nichts!"
Thomas beachtete seinen Chef gar nicht.
Er fing hektisch an alle Taschentücher einzusammeln und in den Papierkorb zu werfen.
Alex schlug die Hände vors Gesicht und seufzte.
Im Augenwinkel bemerkte er das Blinken des ABs.
"Du hast ihn nicht abgehört."
Sagte er ruhig und seufzte noch einmal schwer.
"Nein." Krächzte Thomas endlich und fuhr fort, die Spuren der letzten Tage zu beseitigen.
"Du hast also keine Ahnung.
Du hast keine Ahnung, dass ich dir gefühlte hundert Mal auf dieses Scheiß-Ding gesprochen habe!"
Jetzt endlich hörte Thomas auf mit seiner Putzerei.
Er starrte auf das Taschentuch in seiner Hand, als wäre es das 8. Weltwunder.
"Sieh mich an!" Alex schrie fast. "Sieh mich verdammt noch mal an, wenn ich mit dir rede, du Mistkerl!"
Thomas stand auf und gehorchte.
Er sah dem Mann ins Gesicht, den er liebte und erschrak fürchterlich.
Es war tränennass.
Er erkannte seinen Chef kaum wieder.
"Du weißt es wirklich nicht, oder? Du hast keine Ahnung, was für Sorgen ich mir die letzten drei Tage gemacht habe. Was für Gedanken ich hatte?"
Alex kam einen Schritt auf Thomas zu.
Der fühlte sich wie ein Reh auf der Straße, geblendet vom Scheinwerfer des Autos, das auf ihn zurast, unfähig sich zu rühren oder irgendwie zu reagieren.
"Verdammt!" Alex biss sich in die Faust, um sich zu beruhigen.
"Ich hatte eine wundervolle Nacht mit einem wundervollen Mann.
Am nächsten Morgen war er verschwunden.
Nur sein Geruch hing noch im Bett.
Ich wusste nicht mal mehr, wer er war, weil ich viel zu betrunken war, um mich zu erinnern.
Ich machte mir alle möglichen dummen Gedanken.
War ich nur ein bedeutungsloser One-Night-Stand für ihn?
War ich vielleicht zu schlecht im Bett? Hatte ich gestunken?"
Er musste beinahe lachen.
"Kannst du dir das vorstellen? Nach einer einzigen Nacht so durch den Wind zu sein, wegen jemandem, den ich vielleicht nie wieder sehen würde?"
Thomas rührte sich noch immer nicht.
Er konnte nur gebannt auf Alex' Hand starren, als dieser sich damit verlegen durch die Haare fuhr.
"Als du dann am Montag vor mir standest, habe ich es immer noch nicht gemerkt. Erst als ich nahe genug war und dein Geruch..."
Jetzt konnte er Thomas nicht ansehen.
"Aber bevor ich etwas sagen konnte, warst du schon zur Tür raus und weg. Einfach so.
Ich konnte dich nicht erreichen, du hast dich nicht gemeldet.
Ich machte mir Sorgen.
Was, wenn etwas passiert war?
Dich hätte ein Auto überfahren haben können, jemand hätte dich überfallen haben können, irgendwas!"
Als würde er all diese Ängste nochmal durchleben, raufte sich Alex verweifelt die Haare.
"Ich rief in Krankenhäusern an, nichts.
Bei der Polizei, nichts.
Bei dir..."
Er stockte, wischte sich mit der Hand übers Gesicht.
Seine Augen trafen die von Thomas und sein Blick hielt ihn fest.
"Bitte," Thomas sog scharf die Luft ein.
"Bitte, Thomas, sag mir was ich für dich bin, damit ich endlich wieder ruhig schlafen kann.
War ich wirklich nur ein One-Night-Stand?
Ein Abenteuer für eine Nacht?"
Thomas hätte beim besten Willen nicht beschreiben können, was gerade alles in ihm vorging.
Er machte den Mund auf, klappte ihn wieder zu.
Ihm fehlten schlicht und ergreifend die Worte.
Alex machte sich seinen eigenen Reim darauf.
"Ich versteh schon..."
Er nahm seinen Mantel vom Stuhl, wo er ihn hingeworfen hatte und wollte gehen, als er plötzlich Lippen auf seinen eigenen spürte und eine Zunge sich den Weg durch sie hindurch bahnte.
Heftig atmend hatte Thomas das Gesicht von Alex zu sich gezogen und küsste ihn leidenschaftlich.
"Reicht das als Antwort?"
Seine Stimme war noch immer kaum mehr als ein Krächzen, aber Alex lächelte.
"Ich denke schon."
Er nahm den Kuss wieder auf und presste Thomas gegen die Wand, so dass dieser das steife Glied seines Chefs durch dessen Hose spüren konnte.
"Störe ich gerade?"
Clarissa stand breit grinsend in der Wohnzimmertür.
"Die Tür war offen, also bin ich einfach rein.
Du hast deinen Schal im Diner vergessen."
Sie legte besagtes Kleidungsstück gelassen auf der Kommode ab.
"Lasst euch nicht weiter von mir stören." Lächelte sie.
Im Hinausgehen drehte sie sich noch mal um.
"Ach und Chef. Keine Sorge, von mir erfährt es niemand.
Tschüss ihr Süßen!"
Total verdattert und peinlich berührt starrten die beiden Männer ihr nach.
Plötzlich fing Thomas an zu lachen. Was sehr komisch klang, weil er so heiser war.
"Was ist denn so lustig?" wollte Alex wissen.
"Das ist so typisch Clarissa. Immer im falschen Moment aufzutauchen."
Alex war angepisst.
Er wollte gehen.
"Hey." Thomas hielt ihn am Arm fest.
"Du warst nicht nur ein One-Night-Stand.
Also, ich meine, erst schon.
Aber irgendwie hab ich mich dabei in dich verliebt.
Ich bekam Panik.
Schließlich bist du mein Chef und ich dein Angestellter.
Außerdem wusste ich nicht, ob du dich auch in mich verlieben würdest.
Ich nahm an, ich wäre der bedeutungslose One-Night-Stand.
Und als du am Montag so gar nicht reagiert hast, als ich ins Büro kam, dachte ich es ist aus.
Ich... Ich hatte Angst, alles zu verlieren.
Meine Arbeit, meine Kollegen, dich.
Vor allem dich."
Er nagelte Alex mit seinem Blick gerade zu fest.
"Ich liebe dich, Alex. Bitte bleib. Am besten für immer."
"Vergiss es." Lächelte Alex.
"Wenn dann ziehst du bei mir ein.
In so einem Mauseloch können niemals zwei erwachsene Männer zusammen leben."
Thomas Herz war kurzzeitig stehen geblieben, aber jetzt strahlte er.
"Ist das dein Ernst?"
Alex tat, als würde er überlegen. "Hm... Ja, ich denke schon."
Dann hob er Thomas hoch und trug ihn ins Schlafzimmer.
"Hey! Lass mich runter. Ich kann selber laufen."
"Aber zum Vernaschen taugts hier erst mal."
Alex schlug die Tür zu, sperrte ab und fiel über seinen Sekretär her wie ein ausgehungertes Tier.
Und wenn Clarissa sie nicht verpfiffen hat, sperren sie noch heute ab und zu die Bürotür ab. ;P