Wir parkten das Auto in der Tiefgarage und kamen durch das Treppenhaus in das Hotel, wo geschäftiges Treiben herrschte, sodass wir kaum auffielen, als wir durch die Gänge zu unserem Zimmer liefen.
Raphael leistete uns Gesellschaft und gemeinsam ließen wir die letzten Tage noch einmal Revue passieren. Ich erzählte ausführlich von meiner Flucht und die Jungs von ihrer Suche.
„Was weißt du über Ben?“ fragte Lucian, nachdem wir alles erzählt hatten.
„Nicht viel. Er hat mich gestern im Treppenhaus angesprochen, nachdem Raphael mir den Weg gesagt hatte. Er hat gesagt, er wäre ein Werwolf und, dass ich zu ihnen gehören würde, dass ich euch nicht trauen und mit ihm gehen sollte. Dass ihre Türen für mich immer offenstehen würden. Er hat auch eine Andeutung gemacht, dass gestern Abend etwas passieren würde. Er muss davon gewusst haben. Und dann wusste er auch noch, wo ich die Nacht verbracht hatte. Was nur bedeuten kann, dass er mich – oder euch - beobachtet und verfolgt hat.“ Die beiden wirkten nachdenklich.
„Er musste auch ganz genau gewusst haben, dass ich dich nicht nach oben zu deinem Zimmer begleiten würde. Nur ein paar Leute wussten von meiner Aufgabe. Jemand muss die Information gezielt weitergegeben haben.“
Aber wer hatte etwas davon und warum?
„Aber warum?“ sprach Lucian aus, was ich dachte.
Die beiden sahen sich ratlos an und grübelten eine Weile still vor sich hin, ehe Raphael das Schweigen brach und sich erhob.
„Keine Ahnung wer vom Clan etwas davon hätte, aber ich denke es wird Zeit Zara ein bisschen im Hotel herumzuführen und sie mit ein paar Leuten bekannt zu machen,“ sagte Raphael entschieden und brachte uns beide mit einer Handbewegung zum Aufstehen. Das mulmige Gefühl von gestern breitete sich bei der Aussicht, Fremde kennenzulernen, wieder in mir aus, doch diesmal hatte ich Lucian und Raphael an meiner Seite, die mich hoffentlich nicht ins offene Feuer liefen ließen.
Selbstbewusst drückte ich die Schultern durch und stellte mich noch etwas gerader hin. Ich fühlte mich bei weitem nicht so großartig wie gestern Abend in dem wunderschönen, edlen Kleid, aber es musste auch ohne eine solche Robe gehen – außerdem sollte ich ja vor allem das Hotel besser kennenlernen.
„Na dann mal los“, sagte Lucian motiviert und ging voraus. Ich folgte ihm mit ein paar Schritten Abstand und Raphael bildete das Schlusslicht, als wir auf den Flur hinaustraten. Dann liefen wir nebeneinander durch die prachtvollen Gänge und die beiden begrüßten hier und da immer wieder Leute und stellte mich vor. Die meisten hatten von mir gehört – nicht von mir als Person, sondern als dass, was ich für sie war: Eine bedeutsame Laune der Natur. Ich nahm es ihnen nicht übel und schüttelte lächelnd Hände.
Wir kamen auch an den Schauplatz des gestrigen Abends und ich blickte ehrfurchtsvoll durch den riesigen Saal. Die Kronleuchter aus funkelnden Kristallen waren mir gestern Abend bei all den Vampiren gar nicht aufgefallen, dafür beachtete ich sie jetzt umso mehr.
Schon von Weitem erkannte ich Asta, die Vampirin, mit der ich mich gestern unterhalten hatte. Auch jetzt sah sie wirklich umwerfend aus, in ihrem schwarzen, perfekt sitzenden Hosenanzug und dem strengen Haarknoten. Dagegen sah ich wahrscheinlich aus, wie jemand, der hier als Putzdienst engagiert wurde.
Als Lucian sie sah, versteifte sich seine Haltung und er legte mir, halb beschützend, halb besitzanzeigend seine Hand auf den Rücken. So richtig konnte ich mir diese Reaktion nicht erklären, aber ich kam auch nicht dazu, mir weitere Gedanken zu machen, denn wir standen ihr direkt gegenüber und ich konnte jetzt auch ihr Makeup bewundern, welches ich wahrscheinlich nicht mal nach tagelangem ansehen von Makeuptutorials so hinbekommen würde.
„Oh, wie ich sehe, habt ihr mit eurer Suche Erfolg gehabt. Guten Morgen, Hoffnung des Clans.“ Alle Sympathie von gestern Abend war verschwunden und ich bekam ein ungutes Gefühl, auch wenn ihr Lächeln echt wirkte. Hatte sie etwas mit dem Auftauchen von Ben zu tun? Um das zu beurteilen kannte ich sie zu wenig, hatte ich sie doch erst gestern kennengelernt.
„Guten Morgen“, gab ich mit gespielter Freundlichkeit zurück. Sie schien es mir abzukaufen – oder sie war verdammt gut darin, zu schauspielern.
Lucian würdigte sie keines Blickes und starrte stur geradeaus.
„Ja, zu deinem Glück, haben wir sie gefunden, du unsensible…“ Lucian unterbrach Raphael, bevor er seinen Satz vollenden konnte und wir setzen uns ohne ein weiteres Wort in Bewegung. Die Jungs schienen Asta kein bisschen zu mögen – im Gegenteil, es kam mir eher so vor als verabscheuten sie sie. Und als verabscheue sie mich plötzlich aus irgendeinem Grund, den ich natürlich wieder einmal nicht kannte. Auch aus dieser Begegnung entwickelte sich ein Fragezeichen in meinem Kopf und ich wollte unbedingt wissen, was es damit auf sich hatte.
Als wir außer Hörweite waren, sprach ich meine Frage aus.
„Was genau habt ihr gegen sie und was bitte hat sie gegen mich. Sie hat mich gestern das erste Mal gesehen.“
Zuerst schwiegen die beiden und es kam mir so vor, als wüssten beide nicht richtig, wo sie eigentlich anfangen sollten, bis Lucan endlich ihr Schweigen brach. Mit einer Antwort, die mir ziemlich einleuchtend erschien: „Sie ist meine Ex.“
Sie muss einen furchtbaren Charakter haben, wenn sie trotz IHRES Aussehens die Ex von jemandem war. Oder sie hatte Schluss gemacht - was ich mir angesichts der Reaktionen beider Seiten eher nicht vorstellen konnte. Nein, dass glaubte ich nicht. Lucian muss Schluss gemacht haben, sonst wäre dieses Treffen ganz anders verlaufen. Und das würde auch erklären, warum sie mich so offensichtlich nicht mochte. Schließlich war ich in ihren Augen die Neue ihres Ex und es gab nun keine Möglichkeit, dass sich zwischen den beiden wieder etwas entwickeln konnte – auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass Lucian noch einmal etwas mit ihr anfangen würde, dafür war seine Reaktion zu negativ gewesen. Über die Umstände ihrer Trennung und den Gründen für ihren gegenseitigen Hass sollte ich ihn später unbedingt noch ausfragen, doch für den Moment beließ ich es bei dieser Antwort.
Was Lucian zu erleichtern schien.
Wir liefen weiter quer durch den Saal in einen weiteren der vielen Flure. Unzählige Zimmer gingen von ihm ab, so weit, wie ich blicken konnte. Irgendwann gabelte sich der Gang und wir bogen nach rechts ab. Weitere Türen, die zu weiteren Zimmern führten, doch einige der Türen waren große Doppeltüren, die, wie Raphael mir erzählte, zu weiteren, kleineren Sälen führten, in denen die kleineren Feiern und Konferenzen ausgetragen wurden. Ich war von der Größe des gesamten Gebäudes beeindruckt und stellte mir vor, wie gut man sich in dem Labyrinth aus Fluren und Zimmer verlaufen könnte - oder verstecken. Wahrscheinlich konnte man sich sogar so gut verstecken, dass man selbst nicht mehr hinausfand. Ich war auf jeden Fall froh, nicht allein durch die Gänge zu irren, sondern zwei Begleiter zu haben, die sich hier auskannten.
Mit beiden Händen stieß Lucian eine der schweren Doppeltüren aus massivem Holz auf und mir blieb vor Erstaunen fast die Luft weg. Eine riesige Bibliothek mit mehreren Etagen und kleinen Wendeltreppen dazwischen erstreckte sich vor uns. Der Geruch der Bücher beruhigte mich und man konnte das Wissen, dass sich in ihnen befand förmlich spüren.
Ich ließ die beiden zurück und wanderte gedankenverloren durch die engen Gänge zwischen den Regalen und strich andächtig über einige Buchrücken. So viel Wissen in einem Raum. Einige der Bücher sahen aus, als würden sie in der nächsten Sekunde zu Staub zerfallen, andere waren wie neu. Ich stieg eine der gusseisernen Wendeltreppen nach oben und setzte meine Reise durch die Jahrhunderte dort fort. Nach einigen Metern öffnete sich vor mir ein, von den Regalen abgeschirmter Raum, mit einem kleinen runden Tisch um den vier Polstersessel standen, die dazu einluden, es sich mit einem der vielen Bücher in ihnen bequem zu machen, während man eine Tasse Tee trank und sich von den Worten einlullen ließ.
„Zara?“ riss mich Lucians Stimme aus meinen Gedanken.
„Hier!“ rief ich zurück und machte mich auf den Weg in seine Richtung.
Gerade, als ich um eine Ecke bog, stieß ich mit Lucian zusammen und erschrak mich zu Tode. Bevor ich das Gleichgewicht verlieren konnte, hielt er mich fest und zog mich an sich. Sein Geruch stieg mir in die Nase und ich erinnerte mich sofort an den gestrigen Kuss. Auch Lucian schien sich daran zu erinnern. Doch während ich am liebsten die restliche Distanz zu ihm überbrückt hätte, schien er eher darauf bedacht, diese zu vergrößern und ließ mich los, sobald ich meinen sicheren Stand wiederhatte. Verwirrt und – wie ich mir selbst eingestehen musste – auch etwas bedauernd folgte ich ihm nach unten, wo Raphael auf uns wartete.
Raphael sah mich nachdenklich an und ich fragte mich, was er aus meinem Gesicht las.
Dennoch sagte er nichts.
Gemeinsam liefen wir einmal quer durch die Bibliothek, zu einer versteckte, sehr viel kleineren, Tür, als die, durch die wir hineingekommen sind. Sie führte zu einer schmalen Wendeltreppe, die nur wenig beleuchtet war. Es schien mir, als wäre hier nur sehr selten jemand.
„Sie führt zu einem meiner Lieblingsorte hier“, flüsterte Lucian, auch wenn niemand in der Bibliothek war, der uns hätte zuhören können. Hintereinander stiegen wir die Wendeltreppe hinauf. Die Luft war so staubig und abgestanden, dass ich mehrmals anfing zu husten und mir sehnlichst frische Luft wünschte. Zudem waren die alten Stufen in der Mitte buckelig, sodass man bei jedem seiner Schritte höllisch aufpassen musste, wo man hintrat. Die Tatsache, dass nur alle zehn Meter eine Lampe war, deren Licht durch die staubige Luft nur etwa fünf Meter weit kam, half nicht wirklich. Deshalb war ich erleichtert, dass Lucian direkt hinter mir lief und mich auffangen würde, sollte ich wirklich fallen.
Endlich stoppte Raphael und öffnete mit einem lauten Quietschen die Tür am Ende der Treppe. Ein frischer Luftzug bahnte sich seinen Weg in den stickigen Gang und Sonnenstrahlen blendeten mich. Ich brauchte ein paar Sekunde, um mich ans Licht zu gewöhnen, dann trat ich hinter Raphael durch die Tür und fand mich in einer Glaskuppel wieder. Das Glas war an manchen Stellen schon von Moos bewachsen, dennoch hatten wir eine unglaubliche Aussicht. Mir stand der Mund offen.
Bei näherer Betrachtung sah ich, dass nicht nur der Ausblick wunderschön war. Innerhalb der Kuppel standen überall Töpfe mit exotischen Blumen, deren Blüten in allen Farben leuchteten und verschiedenste Düfte mischten sich miteinander. Einige Pflanzen rankten sogar bis an die Decke der Kuppel. Dazwischen stand ein kleiner runder Tisch mit drei Gartenstühlen. In einer Ecke entdeckte ich außerdem ein kleines, unscheinbares Regal, welches voller Bücher war. Ja, das hier hatte den Namen Lieblingsort wirklich verdient. In meiner Fantasie malte ich mir aus, wie gut man wohl von hier aus die Sterne sehen konnte.
„Es ist wirklich unglaublich schön hier.“ Ich war wirklich verzaubert von diesem Ort.
„Ich komme gern hier her, wenn mir das Treiben da unten zu viel wird. Hier kann man in Ruhe ein Buch lesen und seinen Gedanken freien Lauf lassen.
Raphaels Handy klingelte und er verließ uns mit einer gemurmelten Entschuldigung.
„Das meine ich. Hier im Hotel wir man ständig eingespannt. Aber wenn sie dich nicht finden können, können sie dir auch nicht sagen, was du tun sollst.“
Ich konnte mir gut vorstellen, wie er sich mit einem Buch hierher zurückzog, wenn es ihm da unten zu viel wurde. Hier oben war man ungestört. Konnte den ganzen Stress und die Erwartungen anderer für einen Moment hinter sich lassen.
Wir standen einen Augenblick da und gingen unseren Gedanken nach.
Dieser Ort war wirklich einer der schönsten, die ich in meinem Leben bisher gesehen hatte. Und Lucian hatte ihn mir gezeigt. Es war sein Rückzugsort. All diese Pflanzen und Bücher, all dies trug seine Handschrift, sein Herzblut. Es zeigte mir einen Teil von ihm, den – wie ich vermutete – nicht viele zu sehen bekamen und ich fühlte mich geehrt, dass er mir so sehr vertraute, um mir diesen Teil von sich zu zeigen.
„Woran denkst du?“ Lucians Frage holte mich sanft aus meinen Gedanken, zurück in die Realität.
„Ich denke, dass du mir gerade einen der schönsten Orte gezeigt hast, die ich in meinem Leben zu sehen bekommen habe.“ Er nickte lächelnd.
„Das erklärt deinen Gesichtsausdruck. Du hast so bezaubert ausgesehen.“
Ich musste lächeln, als er mich so beschrieb und ich sah, wie auch sein Lächeln ein bisschen größer wurde.
Plötzlich gab mein Handy in meiner Tasche ein Trommeln von sich und zerstörte den Moment. Ohne auf das Display zu sehen, wusste ich, von wem die Nachricht sein musste – Mila.
Mit einem Nicken bedeutete mir Lucian nahzusehen, bevor er sich umdrehte und nach draußen sah.
Wie geht es dir? Wie läuft es mit IHM? ;)
Ach und übriges, ich will ein Biiiild.
Ich musste lachen und Lucian drehte sich wieder zu mir.
„Was?“ fragte er ein wenig amüsiert.
„Ach nichts“, antwortete ich, immer noch über beide Ohren grinsend.
„Wenn du so guckst, kann ich dir kaum glauben, dass es „nichts“ ist.“ Er kam näher und sah mich neugierig an.
„Ach, Mila wollte nur wissen, wie es mir geht…“
„Aber was daran ist so lustig?“ Er ließ einfach nicht locker.
„Naja, daran eigentlich gar nichts…“druckste ich herum. Ich wollte nicht so richtig damit herausrücken, da ich nicht wollte, dass er da irgendwas hineininterpretierte, was da gar nicht war. Es war einfach eine Standardsache zwischen Mila und mir, dass wir Bilder von Typen hin und her schicken, die Potenzial hatten.
„So schlimm kann es doch gar nicht sein, aber naja, gut wenn du es mir nicht sagen willst, werde ich es respektieren“, sagte er ernst.
Die Leichtigkeit von vorhin war damit endgültig verflogen, doch ich wollte nicht, dass die Stimmung kippte.
„Sie will ein Bild von dir sehen“, gab ich schließlich zu und schaute etwas schüchtern zur Seite und wartete auf eine Reaktion. Er lachte glucksend.
„Und das wolltest du mir nicht sagen?“ fragte er etwas ungläubig.
„Naja, ich wollte nicht, dass du da eventuell etwas reindeutest oder so…“ versuchte ich zu erklären.
„Was genau sollte ich denn da nicht reindeuten.“ Flirtete er etwa mit mir?
Ich spürte wie meine Wangen ein wenig erröteten.
„Nichts. Es ist einfach so eine Sache zwischen mir und Mila, nichts von großer Bedeutung.“ Er sollte sich bloß nichts darauf einbilden. Ja, ohne Frage, er war attraktiv und ich fühlte mich auch irgendwie zu ihm hingezogen, aber ich wollte nicht Hals über Kopf in etwas hineingeraten, sondern e langsam angehen. Ich wusste ja auch gar nicht, ob ich in ein paar Tagen überhaupt noch hier war. Niemand sollte sich in der ganzen Sache falsche Hoffnungen machen.
„Na dann, lass sie nicht warten.“ Er griff nach meinem Handy, stellte sich neben mich und machte ein Foto von uns beiden, was er auch direkt abschickte.
Lächelnd schüttelte ich den Kopf darüber und war froh, dass er daraus kein Drama machte.
Schließlich gab er mir mein Handy zurück und trat wieder einen Schritt von mir weg. Er hielt Abstand von mir, keiner von uns wollte einen weiteren Zwischenfall riskieren, der mich wieder aus dem Gleichgewicht brachte. So ein Zwischenfall, wie vorhin in der Bibliothek.
Mila antwortete sofort.
Raawrr. Auf was wartest du noch?
Ich unterdrückte jede mögliche Reaktion und steckte mein Handy wieder in die Tasche. Wie aus dem nichts klatschten mehrere große Regentropfen auf das Glas über uns. Es hatte vorhin nicht nach Regen ausgesehen, doch jetzt prasselte der Regen nur so auf die Scheiben.
„Wollen wir weiter?“ fragte Lucian, doch es klang eher wie eine beschlossene Sache.
Jetzt, wo es regnete, war es hier oben noch schöner, doch ich nickte und folgte ihm durch die Tür ins stickige Treppenhaus.