Angespannt spielte Mina mit dem Strohhalm, der in ihrem Latte Macchiato steckte. René schwieg jetzt schon für eine lange Zeit, länger, als er es normalerweise aushielt, und sie sah deutlich, wie sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen bildete. Sie hatte mit dieser Reaktion gerechnet.
„Warum willst du mit Henri zusammenleben, aber nicht mit mir?“, fragte er schließlich, ohne ihr in die Augen zu schauen.
Mina seufzte. Sie wusste aus ihrer gemeinsamen Zeit an der Uni, wie unsicher René sich war, ob sie nicht doch Henrik bevorzugte. Sie hatte ihn überhaupt erst über Henrik kennengelernt, und die Tatsache, dass sie beide dasselbe studierten, während René, wie er es ausdrückte, nur eine Ausbildung machte, schien ihn immer belastet zu haben. Wie sollte sie ihm nur deutlich machen, dass nie irgendetwas auf der Ebene zwischen ihr und Henrik gelaufen war? Sie ließ ihren Kaffee los und reichte eine Hand über den Tisch zu René hinüber: „Hier geht es nicht um meinen Willen. Henri braucht ein Dach über dem Kopf, bis er eine eigene Wohnung gefunden hat. Soll ich ihn etwa im Stich lassen?“
René ergriff ihre Hand nicht, sondern ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken, die Arme vor der Brust verschränkt: „Er könnte auch bei mir wohnen.“
Enttäuscht zog Mina ihre Hand zurück und fuhr sich durch ihr Haar: „Sicher. Aber du bist zufällig der große Bruder seiner Ex-Freundin. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie dich besucht, während er bei dir wohnt, ist ziemlich hoch. Und das wäre für euch alle sehr unangenehm, denkst du nicht?“
Endlich schaute er sie direkt an, doch sein Ausdruck war noch immer finster: „Du hast immer die besseren Argumente, ist dir das mal aufgefallen? Das ist echt anstrengend.“
„Was?“, entfuhr es Mina ungläubig: „Wie kannst du mir daraus einen Vorwurf machen?“
Statt einer Antwort wandte René seinen Blick ab und sah aus dem Fenster. Genervt schüttelte Mina den Kopf. Es war manchmal so schwer für sie, mit Renés Unsicherheiten klarzukommen. Sie konnte verstehen, dass es als jüngster Bruder von vielen schwer war, sich als eigenständiger Mann hervorzutun, und die Freundschaft zu Henrik, der immerhin schon des Öfteren in der Zeitung gestanden hatte, hatte nicht geholfen. Aber es wurde wirklich Zeit, dass er erkannte, dass sie mit ihm zusammen war und nicht mit Henrik, und zwar aus freier Entscheidung.
„Es tut mir leid“, kam es leise von René. Aufmerksam blickte Mina ihn an, während er sich langsam entspannte und wieder ihr zuwandte. Unsicher fuhr er fort: „Ich wünsche mir einfach nur … ich will mein Leben mit dir verbringen, Mina. Ich wollte das schon immer. Und … ich weiß, du willst deine Freiheit und brauchst Raum für dich. Ich verstehe das, wirklich. Aber manchmal ist es einfach so … schwer. Und dann nimmst du plötzlich Henrik bei dir auf und ich weiß doch, wie gut ihr euch immer schon verstanden habt. Und ich weiß, wie Kerle ticken.“
Ein mitfühlendes Lächeln trat auf Minas Gesicht und erneut streckte sie ihre Hand nach ihm aus. Diesmal ergriff er sie, um mit seinem Daumen ihren Handrücken zu massieren. So warm wie möglich erwiderte sie: „Ich weiß, René. Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du so geduldig mit mir bist. Aber wirklich, vertrau Henri ein bisschen mehr. Er ist dein bester Freund, er würde niemals irgendetwas tun, das dich verletzen könnte. Und ich erst recht nicht. Ich will ihm nur helfen, die Trennung von Giselle ein bisschen besser zu verdauen.“
Mühsam erwiderte René ihr Lächeln. Mina schloss die Augen und genoss das Gefühl seiner Finger auf ihrer Hand. Es war einer dieser seltenen Momente der Ruhe und Stille, die sie so sehr genoss in ihrem Zusammensein mit René. Und sie klammerte sich mit allem, was sie hatte, daran, dass dies für ihre gemeinsame Zukunft genug war.
Unzufrieden blätterte Mina durch die Akte der von Hohensteins. Wie erwartet hatte Margarete sie nicht einfach so gehen lassen. Sie hatte darauf bestanden, dass Mina weiterhin an der Familie dranblieb und versuchte, ihren Fehler beim Anfangsgespräch gutzumachen. Ihren Fehler. Unwillig fuhr sie sich durch ihre braunen Locken. Sie hatte keinerlei Fehler gemacht, es war Daniel gewesen, der ohne Grund wütend geworden war. Er hatte ein hitziges Temperament, das er zwar normalerweise hinter einer kühlen, überheblichen Fassade zu verbergen wusste, doch in Gesprächen mit ihr, oder noch schlimmer mit Henrik, kam es immer wieder zum Vorschein. Er reagierte auf ihren besten Freund wie Wasser auf Feuer: zischend und fauchend. Ihr eigenes größtes Verbrechen war es, dass sie mit Henrik befreundet war und während des Studiums im gemeinsamen Seminar stets bessere Noten erhalten hatte. Aber natürlich war das misslungene Gespräch ihre Schuld. Überhaupt schien Daniel immer schon in ihr oder Daniel die Ursache für seine eigenen Probleme gesehen zu haben.
„Verfluchter Henrik Zimmer!“
Das war das erste, was Mina beim Eintreten in den Seminarraum hörte. Überrascht blickte sie zu Daniel hinüber, der sich gerade lautstark seinen Freunden gegenüber beschwerte – und zwar über ihren besten Freund. Sie hatte eine gute Vorstellung davon, was wohl sein Problem sein mochte, doch sie setzte eine unschuldige Miene auf und erkundigte sich beim Näherkommen: „Was ist denn passiert?“
Daniels Augen blitzten, als er zu ihr aufsah: „Ach, du kennst doch bestimmt unsere Campus-Berühmtheit, Henrik Zimmer. Dieser Streber, der in Jura angeblich so ein Überflieger ist. Die regionalen Zeitungen scheinen ja nichts lieber zu tun, als über ihn zu berichten.“
Mina biss sich auf die Lippen, um ein lautes Lachen zu unterdrücken: „Oh, stiehlt der Gute dir etwa das Scheinwerferlicht? Hättest du lieber Storys über dich selbst in den Zeitungen?“
Zu ihrer Überraschung verbargen Daniels Freunde offensichtlich ein Lachen hinter ihren Händen als Reaktion auf ihre Worte. Das war interessant. Der Angesprochene selbst rollte nur mit den Augen: „Ich stehe oft genug in der Presse, da kann ich schon damit leben, wenn die mal über ihn berichten.“
Mina bezweifelte das. Es war kein Geheimnis, dass Daniel als der Erbe der von Hohensteins regelmäßig in der Zeitung gewesen war für diese oder jene herausragende Aktion. Meistens waren es Klatschgeschichten, doch seit Henrik die ersten Semester Jura absolviert hatte und das mit erstaunlich vielen Bestnoten, hatte die regionale Presse einen neuen Liebling gefunden. Die Geschichte des armen Henrik Zimmers, der nur über ein Stipendium überhaupt an die Uni kommen konnte, und der jetzt selbst seine Professoren in Erstaunen versetzte, war einfach so viel interessanter als die immer gleichen Geschichten über reiche, verzogene Söhne, denen alles in den Schoß fiel.
Trotzdem ließ Mina die Aussage unangefochten stehen und hakte stattdessen nach: „Was hat er denn dann getan?“
Daniel stützte sein Kinn auf einer Hand auf und zog eine Grimasse: „Er ist Starter in unserer Fußballmannschaft.“
Diesmal misslang es Mina, ein Grinsen zu unterdrücken. Sie hatte am Vortag von Henrik selbst erfahren, dass die Listen für die nächsten Turniere draußen waren, und er hatte sich so erleichtert und überlegen gezeigt, dass er dabei war und Daniel nicht. Lächelnd fragte sie: „Und du nicht?“
„Nein!“, fauchte Daniel: „Ich nicht. Verdammte Weltverbesserer. Der blöde Zimmer kriegt alles in Arsch geschoben, weil die Presse ihn liebt. Klar, dass es dem Coach gut gefällt, so einen als Starter zu haben. Prestige und so. Aber beim Fußball geht’s auch ums Gewinnen und da sollte Können alleine zählen und nicht irgendwelches Ansehen. Zum Kotzen.“
Kichernd erinnerte Mina sich an die Unterhaltung mit René und Henrik. Genau so war die auch verlaufen, nur dass mit demselben Argument Daniel auf die Ersatzbank geschoben wurde. Versöhnlich legte sie ihm eine Hand auf den Arm: „Wird das Lineup nicht jedes Semester neu bestimmt? Wenn du dran bleibst, bist du bestimmt nächstes Mal dabei.“
„Das ist es ja“, gab Daniel frustriert zurück: „Wir spielen auf derselben Position, das heißt, solange er da ist und der Coach lieber Promis als gute Spieler hat, komme ich nie zum Einsatz. Kann der nicht irgendetwas anderes machen? Ich dachte, Jura ist so anstrengend und alle Studenten müssen rund um die Uhr lernen, um überhaupt was zu reißen.“
Mina wiegte den Kopf hin und her. Generell war es richtig, dass man für Jura mehr lernen musste als für viele andere Studiengänge. Aber wenn man halbwegs intelligent war, so wusste sie aus eigener Erfahrung, und konzentriert lernen konnte, blieb am Ende des Tages durchaus noch genügend Freizeit übrig. Und Henrik war auch einfach nicht der durchschnittliche Student. Er hatte ein so festes Ziel vor Augen und war so unendlich diszipliniert in seinem Erfolgsstreben, dass selbst ihr manchmal schwindelig wurde. Er war ein Überflieger, wie er im Buche stand.
„Aber solltest du dann nicht wütend auf euren Coach sein? Es war ja immerhin seine Entscheidung.“
Hasserfüllt schüttelte Daniel den Kopf: „Ach, ich kann’s ihm doch nicht mal wirklich verübeln. Ich verstehe ja selbst, wie das Spiel funktioniert. Glaub mir, ich weiß, wie wichtig Image und ein guter Ruf sind. Zimmer ist das Problem. Er soll sich einfach auf sein scheiß Jura konzentrieren und den Rest von uns in Ruhe lassen. Es besteht keine Not, überall allen unter die Nase zu reiben, wie geil er ist.“
Etwas beschämt, weil sie zuließ, dass Daniel ihren besten Freund so beschimpfte, erklärte sie: „Ich weiß nicht. Ich studiere auch Jura und kenne ihn. Er ist halt einfach gut.“
„Wie schön für uns alle!“, zischte Daniel.
Mina war dankbar, dass in diesem Moment ihr Dozent reinkam und sie nicht mit Daniel darüber streiten musste, ob Henrik seinen Platz in der Fußballmannschaft verdient hatte oder nicht. Sie hätte nie gedacht, dass ausgerechnet der für sein kühles Desinteresse berühmte Daniel von Hohenstein so hitzig werden konnte. Es machte ihn nicht sympathischer.
Die Missbilligung im Gesicht seiner Mutter war nur zu deutlich zu sehen. Daniel seufzte schwer. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie es nicht gut heißen würde, was er getan hatte, doch er konnte einfach nicht aus seiner Haut. Mina Zimmer war eben Mina Zimmer.
„Was denkst du, was du da tust?“, verlangte sie mit eisiger Stimme zu wissen: „Unsere Familie kann sich glücklich schätzen, dass wir überhaupt noch so etwas wie einen guten Ruf übrig haben! Dein Vater hat ja alles in seiner Macht stehende getan, um uns zu ruinieren. Und jetzt bietet sich von selbst eine Gelegenheit, ein wenig Image-Pflege zu betreiben, und du lehnst ab?
Genervt fuhr er sich durch sein Haar: „Ich weiß doch, Mutter. Aber Richter ist einfach so … ugh. Sie kam hier hereinspaziert, als gehöre ihr die Welt. Ich weiß, ich hätte höflich sein sollen. Ich weiß, ich hätte sie mit einem Lächeln empfangen sollen. Wenn es nicht Mina gewesen wäre …“
Unbeeindruckt stellte Natascha von Hohenstein ihre Teetasse zurück auf den Frühstückstisch: „Mina Richter hat mit ihrer Arbeit für den FFF schon jetzt viel Aufmerksamkeit von der Presse erhalten. Sie ist eine alte Kommilitonin von dir. Das ist gefundenes Fressen für die Presse! Wenn du ein einziges Mal in deinem Leben über deinen Schatten springen könntest…“
Wütend schlug Daniel mit der flachen Hand auf die Tischplatte: „Was glaubst du eigentlich, was ich getan habe? Ich habe mit ihr gesprochen, ich habe sie empfangen, und ich habe sie nicht beleidigt! Was willst du denn noch?“
Es war offensichtlich, dass seine Mutter noch immer unzufrieden mit ihm war: „Betrachte die Situation aus ihren Augen: Sie kommt mit einem professionellen Anliegen zu dir, gut vorbereitet, wie diese interessante Mappe hier zeigt, und du wirfst sie wieder raus? Wie wirkt denn das?“
„Ja und?“, verlangte er zu wissen: „Weißt du, was sie gesagt hat? Sie meinte, wir hätten es bitter nötig, einen auf Wohltäter zu machen. Als wäre es eine besondere Großzügigkeit von ihr, dass sie sich dazu herablässt, uns eine Chance zu geben. Darauf kann ich verzichten! So jemandem gebe ich unser Geld nicht!“
Ein mitleidiges Lächeln erschien auf ihren Lippen: „Du verstehst einfach immer noch viel zu wenig von der realen Welt. Wer sagt denn, dass wir unbedingt spenden müssen?
„Was willst du damit sagen?“, hakte Daniel nach. Er hatte eine ungute Vermutung, in welche Richtung die Gedanken seiner Mutter gehen könnten, doch er wollte es aus ihrem eigenen Mund hören, ehe er das glauben konnte.
Nataschas Blick war wieder eisig, als sie ihn direkt anschaute: „Wenn Frau Richter uns das nächste Mal beehrt, wirst du deine charmanteste Seite zeigen. Ich weiß, dass du gut mit Frauen umgehen kannst. Sei nett zu ihr. Lenk sie ab von dem, was sie eigentlich tun soll. Öffentlichkeitswirksame Auftritte an der Seite einer wohltätigen Person haben auch ihren Effekt, meinst du nicht?“
Daniel war der Appetit vergangen. Was seine Mutter da verlangte, war unmöglich. Und er hatte wirklich gar keine Lust dazu. Er hatte schon einmal versucht, Mina Richter um den Finger zu wickeln, und sie hatte sich erstaunlich heftig gewehrt. Sie war eine abscheuliche Person mit ihrem ausgeprägten Sinn für Moral und ihrer Art, immer alles besser zu wissen und andere zu bevormunden.
Andererseits, ging ihm plötzlich auf, wäre es auch eine wunderbare Form der Rache für all die Dinge, die sie ihm während der Uni angetan hatte. Wenn er sie dazu bekam, sich mit ihm in der Öffentlichkeit zu zeigen, ihn vielleicht als Date zu einem Red-Carpet-Event zu begleiten, dann bekam seine Familie die gute Presse, die sie wollten, und er konnte sie danach abservieren und ihr deutlich machen, dass er nie wirklich sie gewollt hatte. Vielleicht konnte er sie damit ein für alle Mal von ihrem hohen Ross runterholen.
„Das ist alles?“
Skeptisch betrachtete Mina den Koffer, mit dem Henrik gerade in ihre Wohnung getreten war. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ein erwachsener Mann so wenig Besitz hatte, dass es in einen Koffer passen würde.
„Naja, ich habe eben nicht so viele Bücher wie du, nur juristische Nachschlagewerke in meinem Büro. Und die Möbel in unserer Wohnung habe ich alle Giselle überlassen. Ich werde mir neue kaufen, sobald ich eine eigene Wohnung gefunden habe. Würde mich eh nur immer an sie erinnern, wenn ich davon was mitnehmen würde“, erklärte Henrik schulterzuckend, während er den Koffer abstellte. Etwas unbeholfen stand er in ihrem Wohnzimmer herum, als warte er darauf, dass sie ihm sage, wo er hin sollte.
Grinsend durchquerte sie den Raum und zeigte auf ein jetzt leeres Bücherregal: „Hier, ich habe die Bücher rausgeräumt, da kannst du deine Sachen reintun. Ich habe einen Vorhang davor gebastelt, so ist alles vor den Blicken neugieriger Gäste geschützt. Das Sofa baue ich dir einfach abends in ein Bett um. Du kannst dich gerne am Esstisch hier ausbreiten, ich sitze eh eher am Schreibtisch in der Ecke da drüben. Alleine an einem Esstisch zu essen, erschien mir irgendwie immer … unsinnig.“
„Bin ich wirklich nicht im Weg?“
Warm lächelte Mina ihren besten Freund an: „Aber nein. Ach, Henri, wirklich nicht. Ich freue mich fast schon, für eine kurze Zeit einen Mitbewohner zu haben. Das wird lustig, glaub mir. Wir können morgens gemeinsam zur Arbeit aufbrechen, wir kochen abends zusammen, und wenn du mal Alpträume hast, komme ich und halte deine Hand.“
Bei den letzten Worten musste sie kämpfen, nicht laut loszulachen, aber als Henrik ihr einen spielerischen Schlag versetzte, war es um sie geschehen. Sie brach in schallendes Gelächter aus und steckte ihn damit an. Es war befreiend und schön und beinahe so wie früher, als sie noch gemeinsam zur Uni gingen und die harte Welt des Erwachsenseins sie noch nicht so fest im Griff hielt.
„Weißt du was? Du packst in Ruhe aus und ich koche uns was Schönes und dann machen wir uns einfach einen ganz gemütlichen Abend, was meinst du?“, schlug Mina vor, nachdem beide wieder zu Luft gekommen waren. Henrik nickte immer noch grinsend, dann wandte er sich mit einem tiefen Seufzen einem Koffer zu.
Da ihre Kochkünste beschränkt waren, entschied Mina sich für einfache Nudeln mit Pesto, ein Gericht, für das sie immer alle Zutaten im Haus hatte, weil es schnell ging und lecker war. Es dauerte keine zehn Minuten, da trat Henrik von hinten an sie heran und schaute über ihre Schulter in den Kochtopf. Eine merkwürdige Nervosität ergriff sie.
„Na, was gibt es denn?“
Sie drehte sich zu ihm um, nur um festzustellen, dass er tatsächlich direkt hinter ihr gestanden hatte. Überrascht über seine plötzliche Nähe, errötete sie leicht, ehe sie einen Schritt zur Seite trat, um den Blick auf den Herd freizugeben: „Was ganz Ausgefallenes! Nudeln!“
„Mmmh, mein Lieblingsgericht! Und das gibt es so selten! Nudeln, das ist so außergewöhnlich!“, kicherte Henrik.
Schmollend stemmte Mina eine Hand in die Hüfte, während sie mit dem Holzlöffel in der anderen vor seiner Nase rumfuchtelte: „Tut mir leid, dass ich keine perfekte Hausfrau bin! Da müssen noch ein paar Kinder aus meinen Hüfte krabbeln, ehe ich die Muße habe, den ganzen Tag nur zu kochen!“
Lachend ging Henrik vor ihrem Kochlöffel in Deckung: „Oh nein, besser nicht. So viele Kinder ruinieren nur die Figur und wir wollen ja nicht, dass irgendetwas deinen perfekten Körper zerstört!“
Das Lachen blieb Mina im Halse stecken. Wenn Henrik nicht gerade seine Trennung von Giselle verarbeiten würde, hätte sie glatt vermutet, dass er mit ihr flirtete. Sie wusste, sie bildete sich das nur ein, zumal er der beste Freund von René war, alleine deswegen war es unmöglich. Dass sie es überhaupt so interpretierte, sagte viel mehr über sie selbst aus. Ganz offensichtlich hatte sie schon so lange keinen richtigen Flirt mehr erlebt, dass sie jetzt schon das harmlose Herumalbern mit einem alten Freund missverstand.
Entschlossen, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen, deutete sie auf den Kühlschrank: „Bringst du mir das Glas mit dem roten Pesto, bitte? Wir können gleich auch schon essen.“
Henrik kam ihrer Aufforderung ohne weitere zweideutige Bemerkungen nach, und als sie endlich die dampfenden Nudeln mit dem Pesto mischte, sich der anregende Geruch von Paprika in ihrer kleinen Wohnung ausbreitete, da bemerkte Mina, dass sie unendlich hungrig war. Und hungrig war sie noch nie ganz zurechnungsfähig gewesen.
Statt an den Esstisch zu gehen, ließ Mina sich in ihr Sofa sinken. Sie bevorzugte Gemütlichkeit gegenüber korrekten Tischmanieren. Ihre Eltern waren lange genug streng mit ihr gewesen, jetzt war sie ihre eigene Frau, jetzt konnte sie entscheiden, wie sie leben wollte.
Schweigen erfüllte das Wohnzimmer, während sie beide sich ihrer Mahlzeit widmeten, doch es war nicht unangenehm. Mina erinnerte sich daran, wie sie während der Uni viele schweigende Stunden mit Henrik verbracht hatte, wenn sie gemeinsam für die nächste Prüfung gelernt hatten. Auch damals hatte er eine wundervolle Art gehabt, mit Stille umzugehen. Mit ihm konnte sie einfach die Ruhe genießen. Zufrieden mit sich, mit dem Essen, mit Henrik und allem um sie herum, genoss sie einfach den entspannten Abend.
„Was steht morgen bei dir auf dem Programm?“, unterbrach Henrik schließlich das wohlige Schweigen.
Sie konnte nur mit den Augen rollen: „Ich muss zu den von Hohensteins. Wieder. Meine Chefin ist der Meinung, dass ich diejenige sein muss, die Daniel davon überzeugt, für uns zu spenden. Total super, nachdem er mich beim letzten Besuch nach keinen fünf Minuten vor die Tür gesetzt hat.“
Ein schräges Grinsen erschien auf Henriks Gesicht: „Ich sehe, du freust dich wahnsinnig.“
Gespielt böse streckte sie ihm die Zunge raus: „Wenn du an meiner Stelle wärst, müsste man vermutlich eine Anstandsdame mitschicken, damit ihr euch nicht gegenseitig umbringt.“
Ein lautes Lachen erklang: „Eine Anstandsdame wäre da wohl eher das letzte, was wir brauchen. Die wird eher hier gebraucht.“
Immer noch sein schräges Grinsen auf den Lippen, blickte Henrik zu ihr rüber und zog eine Augenbraue hoch. Wieder errötete Mina und wieder fragte sie sich, ob er mit ihr flirtete oder ob sie sich das nur einbildete. Mit fester Stimme – oder zumindest hoffte sie, dass ihre Stimme so klang – erwiderte sie: „Du bist so konservativ manchmal, Henri. Als ob ein Mann und eine Frau heutzutage ernsthaft noch einen Aufpasser brauchen, nur weil sie sich einen Raum teilen.“
Er lachte erneut: „Wart’s nur ab, bis du in mein Bett kriechst…“
„Henri!“, unterbrach Mina ihn, inzwischen feuerrot. Er ging deutlich zu weit mit seinen Scherzen, egal ob ernst gemeint oder nicht. Hastig stand sie auf, nahm die beiden schmutzigen Teller und ging zur Küche.
Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, packte sie die Couch bei der Lehne und erklärte „Ich verwandle dir jetzt dein Bett. Noch eine unanständige Bemerkung, und ich lass dich auf dem Boden schlafen.
Henriks Grinsen wurde noch breiter, doch er blieb stumm und gab sich brav.
„Guten Morgen, Schlafmütze!“
Ein extrem wacher Henrik Zimmer wuselte durch Minas Wohnung, gerade frisch geduscht und nur mit einem Handtuch um die Hüfte bekleidet. Sie selbst stand zwar bereits in der Küche und kochte Kaffee, aber von wach war sie weit entfernt. Es war nicht so, dass sie mit dem frühen Aufstehen ein Problem hatte. Aber vor ihrer ersten Tasse Kaffee am Morgen war sie doch eine eher gefährliche Frau. Ohne Henrik eines Blickes zu würdigen, schob sie zwei Scheiben in den Toaster und ging dann wieder dazu über, ungeduldig den langsam tröpfelnden Kaffee anzustarren.
„Schon Schlachtpläne für seine Exzellenz, den Herrn von Hohenstein, geschmiedet?“, erkundigte sich Henrik, der offenbar nicht bemerkte, wie schwierig die Laune seiner besten Freundin gerade war. Völlig unbeeindruckt stellte er sich mit tropfendem Haar und immer noch mehr nackt als bekleidet neben sie in die Küche, ganz lässig an die Arbeitsplatte gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt.
Aus den Augenwinkeln nahm Mina ihn wahr – und war schlagartig hellwach. Verdammt, wieso musste Henrik so früh am Morgen seine durchtrainierte Brust zur Schau stellen und dabei auch noch so selbstbewusst wirken? Es war offensichtlich, dass er in seiner Freizeit immer noch Fußball spielen ging. Sie schluckte, hielt ihren Blick starr auf den Kaffee gerichtet und kommentierte trocken: „Schlachtplan ist der richtige Begriff. Ich werde ihn vermutlich irgendwie austricksen müssen, um ihn rumzukriegen.“
In einer Geste, die vermutlich aufmunternd und freundschaftlich gemeint war, in Mina aber deutlich andere Gefühle auslöste, zog Henrik sie an seine Brust und streichelte ihr über den Kopf: „Das wird schon. Du bist nicht umsonst nach mir die klügste Studentin unseres Jahrgangs gewesen. Dir fällt schon was ein.“
Inzwischen hochrot im Gesicht starrte Mina mit offenem Mund zu ihrem besten Freund auf. Sie hatte Henrik seit der Uni so selten gesehen, dass ihr nie aufgefallen war, wie erwachsen er geworden war. Wie männlich. Schwer schluckte sie: „Du solltest dir etwas anziehen.“
Für einen Moment blickte Henrik sie nur fragend an, doch dann, für den Bruchteil einer Sekunde, fiel sein Blick auf ihre Lippen und plötzlich lief er ebenso rot an wie sie. Hastig ließ er sie los und trat von ihr weg: „Ja … sorry. Bin gleich wieder da.“
Mit rasendem Herz blieb Mina alleine in der Kochnische zurück. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Wenn sie alleine so reagiert hätte, wäre das alles ja irgendwie noch in Ordnung gewesen. Die Nähe eines halbnackten Mannes, der nicht schlecht aussah und Humor besaß, das konnte eine Frau schon mal aus dem Gleichgewicht bringen. Eine völlig normale Reaktion. Dass nun aber Henrik ganz offensichtlich auch zumindest für einen kurzen Moment alles andere als keusche Gedanken gezeigt hatte, öffnete dem Desaster Tür und Tor.
Ein lautes Klacken ließ Mina zusammenzucken – der Toast war fertig. Fluchend über ihre eigene Schreckhaftigkeit, über ihre unangebrachten Gefühle und überhaupt über die ganze Situation, angelte sie die beiden Scheiben raus, legte sie in den Brotkorb und schob zwei neue ein.
Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Henrik bei sich Unterkunft zu gewähren. Vielleicht war die Tatsache, dass es mit René gerade nicht so gut lief, eine deutliche Warnung, dass sie keine anderen Männer in ihr Leben lassen sollte, ehe sie ihre Beziehung nicht wieder in geordnete Bahnen gelenkt hatte. Sie sollte unbedingt einmal wieder auf ein richtiges Date mit René gehen. Zeit mit ihm verbringen, nur mit ihm. Ihm zuhören, von sich erzählen, einfach mal wieder all das, was sie überhaupt erst zusammengeführt hatte, wieder aufflammen lassen.
Energisch marschierte Mina über den langgezogenen Weg zum Anwesen. Der Butler oder Pförtner oder was auch immer seine korrekte Bezeichnung war, hatte ihr ohne Umschweife das Tor geöffnet, beinahe so, als hätte er ihre Rückkehr erwartet. Sie wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Der kalte Dezemberwind zupfte an ihrem Mantel und ließ ihre Stimmung nur noch weiter sinken. Sie verstand einfach nicht, was Margarete dachte, was sie hier erreichen konnte. Daniel hatte sie so deutlich hinausgeworfen, wie es nur ging. Ihr erneuter Besuch würde seinen Hass auf sie nur verstärken.
An der Eingangstür angekommen, hatte Mina nicht einmal genug Zeit, um anzuklopfen. Beinahe augenblicklich wurde die Tür geöffnet, doch statt des älteren Herren stand eine edel gekleidete Dame vor ihr, die Mina sofort als Daniels Mutter, Natascha von Hohenstein, erkannte.
Aus dem Konzept gebracht, trat sie einen Schritt zurück: „Frau von Hohenstein, ich freue mich, Sie persönlich kennenlernen zu können.“
Ein warmherziges Lächeln, das so freundlich und offen wirkte, dass Mina sofort misstrauisch wurde, erschien auf den Lippen der älteren Dame: „Sie müssen Frau Richter sein. Mein Sohn hat mir von Ihrem Besuch erzählt. Kommen Sie rein.“
Skeptisch folgte Mina der Aufforderung. Wo Daniel voller Verachtung und Abweisung gewesen war, benahm sich seine Mutter mit ausgesuchter Höflichkeit, ja beinahe unterwürfig. Rasch legte sie ihren Mantel und Hut ab, schüttelte ihre platt gedrückten Locken auf und folgte Natascha von Hohenstein dann in einen kleinen Salon, der direkt von der Eingangshalle abging.
„Wollen Sie einen Tee? Ober bevorzugen Sie Kaffee?“
Mina konnte nicht verhindern, dass ihre Augen misstrauisch den Raum nach Daniel absuchten. Die ganze Situation behagte ihr nicht. Entsprechend verkrampft erwiderte sie: „Schwarzen Tee, wenn möglich, ohne Zucker oder Zitrone.“
Frau von Hohenstein zog an einer kleinen Schnur, woraufhin der Butler erschien und die Bestellung aufnahm. Unwillkürlich fühlte Mina sich an den Film „Eine unmoralische Ehefrau“ erinnert. Ob die Dame von Hohenstein ebenso hysterisch reagieren würde, wenn auf ihr Klingelzeichen hin nicht sofort irgendein Bediensteter auftauchte? Und warum gab es solche uralten Einrichtungen in der heutigen Zeit überhaupt noch? Versuchten die von Hohensteins, den alten Landadel zu imitieren?
Genervt von sich selbst nahm Mina auf dem ihr angebotenen Sessel Platz. Sie war nicht hier, um irgendwelche Urteile über die reiche, adelige Familie zu treffen. Wenn sie sich ihre Verachtung für die Gepflogenheiten der Reichen und Schönen zu sehr anmerken ließ, wäre das ihrer Mission gewiss nicht zuträglich.
„Ich habe Ihre Mappe gelesen“, eröffnete Natascha von Hohenstein schließlich das Gespräch, „im Gegensatz zu meinem Sohn. Sie müssen sein temperamentvolles Verhalten entschuldigen, manchmal ist er eben doch noch ein kleiner Junge.“
Mina unterdrückte ein Lachen. Temperamentvoll war eine schöne Umschreibung für völlig übertrieben und unangemessen. Sie imitierte das freundliche Lächeln und entgegnete: „Unsere gemeinsame Geschichte macht es ihm nicht einfach, das verstehe ich. Umso dankbarer bin ich, dass Sie mich überhaupt ein weiteres Mal empfangen.“
Kurz wurden sie unterbrochen, als der Butler ein Tablett mit zwei Tassen und einer Kanne Tee brachte. Nachdem die Hausherrin beiden eingeschenkt hatte, erklärte sie: „Im Gegenteil, wir müssen Ihnen danken, dass Sie überhaupt erneut Kontakt zu uns gesucht haben. Ihre Einschätzung unserer derzeitigen Lage ist vollkommen richtig. Ein Angebot wie Ihres kommt leider nicht jeden Tag, wir können positive Presse sehr gut gebrauchen.“
Beinahe hätte Mina sich an ihrem heißen Tee verschluckt. Mit einem so offenen Geständnis hätte sie nicht gerechnet. Doch bevor sie zu einer Antwort kam, fuhr die blonde Frau bereits fort: „Umso wichtiger ist es mir, dass Daniel selbst sich um diese Angelegenheit kümmert. Er muss lernen, als erwachsener Mensch zu agieren, als Chef eines Unternehmens. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht zu unangenehm, die geschäftlichen Details mit ihm zu besprechen?“
Trotz des Tees breitete sich Kälte in Minas Magen aus. So undurchschaubar Daniels Mutter auch auf sie wirkte, zumindest schien sie zu rationalem Denken fähig. Sie hatte gerade angefangen, sich darauf zu freuen, die Details der Geldspende und der damit verbundenen Öffentlichkeitsauftritte mit ihr zu besprechen, da wurden all ihre Hoffnungen wieder zunichte gemacht. Verzweifelt klammerte sie sich an ihr freundliches Lächeln: „Das ist überhaupt kein Problem. Wir sind ja alle erwachsene, professionelle Menschen hier.“
Das fröhliche Lachen, das die Hausherrin daraufhin von sich gab, ging Mina durch Mark und Bein. Sie hatte das Gefühl, Opfer irgendeines Scherzes geworden zu sein, den sie nicht verstand. Entschlossen, sich davon nicht aus dem Konzept bringen zu lassen, setzte sie eine entspannte Miene auf und nippte an ihrem Tee. Wenn Daniel oder seine Mutter dachten, dass sie ihnen gerade unter dem Deckmantel professioneller Verhandlungen einen Freifahrtsschein zum Beleidigen gegeben hatte, irrten sie sich gewaltig. Ganz egal, was ihre Chefin sagte, wenn professionelle Grenzen überschritten wurden, war sie jederzeit bereit, die Verhandlungen abzubrechen.
„Daniel sollte in einigen Minuten zu uns stoßen, er hatte heute Morgen einen wichtigen Termin.“
Nur mühsam konnte Mina ein Augenrollen unterdrücken. Einen wichtigen Termin, gewiss. Vermutlich hatte er mit seiner Mutter dieses Theater durchgeplant: erst weichkochen, dann Todesstoß versetzen. Statt der eigentlichen Antwort, die ihr auf der Zunge brannte, kommentierte Mina: „Es ist schön zu sehen, dass er ein so beschäftigter Mann ist. Nicht alle Söhne reicher Familien sind sich ihrer Verantwortung so bewusst.“
„Er muss noch viel lernen, aber zumindest ist er dazu bereit, ja“, stimmte Natascha von Hohenstein ihr zu.
Schweigend trank Mina ihren Tee. Je mehr sie über die wenigen Worte, die sie mit der Frau ausgetauscht hatte, nachdachte, umso mehr bekam sie das Gefühl, in irgendein Spielchen der gelangweilten reichen Leute verwickelt worden zu sein. Sie wollte doch nur Geld für ihre Wohltätigkeitsorganisation bekommen. Doch wenn sie sich dazu auf Spielchen einlassen musste, würde sie in den sauren Apfel beißen. Sie war vielleicht nicht so geübt darin, aber zumindest war sie keine naive Jugendliche mehr, die jedes gesprochene Wort für bare Münze nahm.
Wie von seiner Mutter versprochen, erschien Daniel tatsächlich einige Minuten später selbst in dem kleinen Salon: „Ah, Mina, ich hatte mich schon gefragt, wann du zu mir zurückkehrst!“
Sie konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr Mund einfach nur aufklappte und sie dümmlich zu ihm hochstarrte. Woher kam diese plötzliche Freundlichkeit, dieser übertrieben vertraute Umgang? Während sie beobachtete, wie Daniel seiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte, ehe diese sich von ihnen beiden verabschiedete, rief Mina sich zur Ordnung. Sie musste auf der Hut sein und alles hinterfragen, was er zu ihr sagte.
„Ich freue mich, dass du endlich Manieren gelernt hast“, begrüßte sie Daniel, als er neben ihr Platz genommen hatte: „Warum nicht gleich so?“
Ein schuldbewusstes Grinsen erschien auf seinen Lippen: „Alte Gewohnheiten. Es tut mir wirklich leid, dass ich dir die kalte Schulter gezeigt habe. Kannst du mir verzeihen, Mina?“
Wie um seiner vertraulichen Anrede noch mehr Bedeutung zu verleihen, beugte er sich zu ihr hinüber, um sie auf Augenhöhe direkt anzuschauen. Mina schluckte. Sie erinnerte sich erneut an seine Flirtversuche zu Unizeiten, doch so plötzlich wieder damit konfrontiert zu werden, das brachte sie gegen ihren Willen völlig aus dem Gleichgewicht.
„Ich …“, setzte sie an, doch sie musste sich unterbrechen, da ihr plötzlich unheimlich trockener Mund ihr die Dienste versagte.
„Warum lässt du dich nicht von mir zum Mittagessen einladen?“, schlug Daniel vor, als wäre es das Natürlichste der Welt: „Als Entschuldigung? Dabei können wir in Ruhe über alle Details unserer künftigen Beziehung sprechen.“
Wieder klappte ihr Mund auf, ohne dass ihr eine Erwiderung einfiel. Was ging hier vor sich? Was hatten die von Hohensteins ausgeheckt, dass sie derart schwere Geschütze auffuhren? Wollte Daniel sich ernsthaft mit ihr zusammen in der Öffentlichkeit zeigen? Misstrauisch klappte sie den Mund zu und kniff die Augen zusammen. Man wollte sie an der Nase herumführen und ablenken, so viel stand fest. Doch so leicht würde sie nicht aufgeben.
„Das klingt wundervoll“, erwiderte sie fröhlich und erwiderte sein Lächeln. Entschlossen blickte sie ihm in die Augen, wartete nur darauf, dass er sein aufgesetztes Verhalten fallen ließ, doch er schaute ebenso breit lächelnd zurück, hielt den Blickkontakt und wirkte tatsächlich begeistert. Krampfhaft zwang sie sich, nicht rot zu werden oder zu Boden zu schauen.
Schließlich lachte er leise und richtete sich wieder auf: „Schön. Lass uns unsere Mäntel holen. Ich kenne ein sehr gutes Restaurant in der Innenstadt.“
Misstrauisch folgte sie ihm in die Eingangshalle. Vielleicht hätte sie ihm den charmanten Verführer abgenommen, wenn er nicht bei ihrem ersten Versuch so offensichtlich abgeneigt gewesen wäre. So jedoch wusste sie einfach, dass er irgendetwas im Schilde führte. Sie verstand noch nicht genau, warum er der Meinung war, seine Verführungsversuche wären plötzlich die richtige Nummer, doch sie beschloss, abzuwarten und zu beobachten. Ihr war es egal, ob man sie in der Öffentlichkeit mit Daniel von Hohenstein sah. Henrik wusste über ihre Arbeit Bescheid, René konnte sie ebenso leicht die Wahrheit erzählen, und die Meinung aller anderen interessierte sie nicht. Sie hatte bei diesem Mittagessen nichts zu verlieren.
Wie ein Gentleman nahm Daniel ihr nach Ankunft im Restaurant die Jacke ab, rückt ihr anschließend den Stuhl am Tisch zurecht und setzte sich selbst erst, nachdem er sicher war, dass sie alles hatte, was sie brauchte. Mina war sich sicher, dass er mit diesem Verhalten normalerweise die Frauen ohne Probleme um seinen Finger wickeln konnte, doch das würde ihm bei ihr nicht gelingen. Er wollte ganz offensichtlich mit seinem falschen Getue etwas erreichen – und wenn er spielen wollte, dann würde sie ihm nur zu gerne zeigen, dass sie auch nicht von gestern war.
Sie holte ihr lieblichstes Lächeln hervor, legte einen Arm ausgestreckt auf dem Tisch ab, während der andere wie gedankenverloren mit den Spitzen der Gabel spielte, und wartete mit zur Seite gerichtetem Blick darauf, dass Daniel das Gespräch eröffnete.
„Also, Mina, warum erzählst du mir nicht ein wenig von dir?“, fing er an, nachdem er beim Kellner einen Wein und für sie beide ein ominös klingendes Gericht bestellt hatte.
Sie richtete ihren Blick geradewegs auf ihn, ohne dabei jedoch ihr Lächeln zu verlieren: „Aber warum sollten wir denn über mein langweiliges Leben sprechen? Wir sind doch hier, um über die Investition deiner Familie zu reden.“
Sie klimperte einige Male unschuldig mit den Wimpern, doch davon ließ sich Daniel offensichtlich nicht beeindrucken: „Über mich weißt du doch bestimmt schon alles. Die Wege meiner Familie sind in jeder Zeitung zu lesen. Und ich wette, bevor du zum ersten Mal bei uns zu Hause aufgetaucht bist, hast du eine dicke Akte über mich und meine Familie studiert, um deinen Geschäftsplan so gut wie möglich vortragen zu können. Du weißt also mehr als genug. Erwidere die Freude und lasse mich an deinem Leben teilhaben. Wir haben uns seit der Uni nicht mehr gesehen.“
Verkrampft faltete sie die Hände vor sich auf dem Tisch. Offensichtlich würde es nicht leicht werden, durch Dans Abwehr zu kommen. Sie beschloss, sein Spiel für einen Moment mitzuspielen: „Bei mir gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe direkt nach der Uni bei FFF angefangen. Ich wollte gerne etwas Nützliches tun und fand die Idee spannend, beim Aufbau einer neuen Naturschutzorganisation zu helfen. Außerdem bin ich noch immer glücklich an René vergeben. Du erinnerst dich? Der beste Freund von Henrik Zimmer?“
Triumphierend bemerkte sie, wie für einen Moment ein unsicherer, nachdenklicher Ausdruck in Daniels Augen trat, doch dieser Moment war viel zu schnell vorüber. Er beugte sich ein Stück zu ihr vor und senkte die Stimme: „Wann läuten denn die Hochzeitsglocken?“
Unwillkürlich rollte Mina die Augen. Natürlich, Daniel würde alles daran setzen, bei diesem Gespräch irgendetwas Privates aus ihr herauszukitzeln, was er später gegen sie verwenden konnte. Ungerührt erwiderte sie: „Wie gesagt, wir sind immer noch ein glückliches Paar. Aber im Moment haben anderen Dinge Priorität.“
Ihr Essen kam, doch anstatt Erleichterung zu verspüren, dass sie nicht weiter auf ihre Beziehung eingehen musste, war Mina im Gegenteil nur noch unsicherer als zuvor. Vor ihr befanden sich auf einem Tablett eine Ansammlung von Schüsseln und kleinen Tellern, ein Paar Stäbchen und in der Mitte zwischen ihnen stand ein großer Topf mit Reis.
„Was ist das hier?“, fragte sie vorsichtig nach.
Daniel grinste breit: „Ein ganz normales japanisches Essen. Ich gehe davon aus, dass du mit Stäbchen essen kannst?“
Wütend starrte sie ihn an. Natürlich konnte sie nicht mit Stäbchen essen, sie hatte nie das Geld gehabt, in einem richtigen japanischen Restaurant zu essen, und für Sushi, so hatte sie sich sagen lassen, durfte man auch die Finger benutzen. Sie war sich absolut darüber im Klaren, dass sie sich nur blamieren würde, wenn sie jetzt die Gabel, die mit dem anderen üblichen Besteck auf dem Tisch lag, zur Hand nahm. Ohne den Zorn aus ihrer Stimme verbergen zu können, erkundigte sie sich: „Japanisch? Das hier sieht nicht aus wie ein japanisches Restaurant.“
Es war viel zu offensichtlich, wie sehr sich Daniel über die ganze Situation amüsierte, doch er ließ sich tatsächlich zu einer Antwort herab: „Es ist ein kooperatives Restaurant. Zehn verschiedene Chefköche haben sich zusammengeschlossen, um Spezialitäten aus ihren Ländern anzubieten. Die Preise sind entsprechend astronomisch, aber es lohnt sich wirklich.“
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, griff Daniel nach seinen Stäbchen und balancierte sie so mühelos zwischen seinen Fingern, dass Mina sofort wusste, dass er öfter hierher kam. Am liebsten hätte sie ihm die heiße Gemüsesuppe – oder was auch immer diese etwas trübe Suppe mit dem merkwürdigen grünen Zeug und weißen Würfeln darin sein sollte – über den Kopf geschüttet, doch sie beherrschte sich. Stattdessen beschloss sie, einfach ihr Glück mit den Stäbchen zu versuchen, immerhin hatte sie schon immer einmal japanisches Essen jenseits von Sushi probieren wollen. Sie studierte genau, wie Daniel seine Stäbchen hielt, klemmte sich ihre dann hochkonzentriert zwischen die Finger und machte einen ersten Versuch, ein Stück vorgeschnittenes Fleisch damit hochzuheben.
Sie scheiterte kläglich und das mit Soße überzogene Fleischstück landete unelegant zwischen den Schüsseln. Ein unterdrücktes Lachen erklang.
„Süß“, rutschte es Daniel provozierend heraus, als habe er vergessen, dass er freundlich zu ihr sein wollte.
Mit hochrotem Kopf versuchte Mina es erneut und diesmal gelang es ihr tatsächlich, das Stück Fleisch bis in die leere Schüssel vor sich zu manövrieren. Doch was nun? Unsicher schielte sie zu ihm hinüber und bemerkte, dass er als erstes Reis in seine Schüssel gefüllt hatte, ehe er zu anderen Zutaten gegriffen hatte. Frustriert gab sie auf.
„Sehr lustig, Dan, wirklich“, schnaubte sie.
Zu ihrer Überraschung lachte er sie nicht weiter aus, sondern schaute im Gegenteil mehr als ernst drein. Mit einer eleganten Bewegung, die Mina schon wieder nur mit einem Augenrollen zur Kenntnis nahm, legte er seine Stäbchen beiseite, wischte sich den Mund ab und ergriff sein Weinglas: „Was genau hast du erwartet, mh?“
Zornig funkelte sie ihn an: „Ich weiß nicht? Vielleicht ein wenig mehr erwachsenes Verhalten als das hier? Findest du es wirklich angemessen, mich in einem Restaurant beim Essen zu blamieren? Ich meine, ehrlich, sind wir denn im Kindergarten?“
„Was hast du erwartet?“, wiederholte er seine Frage, doch diesmal führte er sie weiter aus: „Du kommst zu mir nach Hause, verlangst, dass ich deiner bescheuerten Organisation Geld gebe, als wäre ich ein verdammter Goldesel. Und weil ich nicht vor Freude den Staub von deinen Schuhen lecke, bringst du meinen Vater ins Spiel, als ob ich dir dankbar sein sollte dafür, dass ich dir Geld geben darf, und dann tauchst du noch einmal auf, weil … ja, warum eigentlich, mh? Was, denkst du, hast du mir und meiner Familie zu bieten? Leg die Karten auf den Tisch, Mina, vielleicht zeige ich mich dann auch höflich. Wenn dir das nicht passt – ich werde jetzt mein Mittagessen genießen.“
Mit offenem Mund starrte Mina ihn an. Was fiel ihm eigentlich ein? Sie war eine ganz normale Angestellte, die ganz normalen Tätigkeiten einer auf Spendenmitteln basierenden Wohltätigkeitsorganisation nachging. Was war sein Problem? Hatte seine Mutter nicht gerade erst gesagt, dass sie Interesse hatten? Wütend verschränkte sie die Arme vor der Brust, während Daniel tatsächlich mit dem Essen fortfuhr, als könnte ihn kein Wässerlein trüben.
Schnaubend griff sie nach der Gabel, schaufelte sich Reis und Fleisch in ihre Schüssel, und begann zu essen. Sollten er und die restlichen Gäste hier von ihr denken, was sie wollten, sie würde das Essen genießen und dann zurück an ihren Schreibtisch kehren. Sie wusste, wenn sie eine Schlacht verloren hatte, doch sie würde nicht aufgeben. Zum Teufel mit ihm und seinem überheblichen Gehabe. Sie würde schon einen Weg finden, ihn zum Spenden zu bringen. Es war vermutlich nicht sein Ziel gewesen, aber jetzt war ihr Kampfgeist geweckt. Und wenn es das letzte wäre, was sie in ihrem Leben tat.