„Ich war seit Ewigkeiten nicht mehr auf dem Weihnachtsmarkt. Nur dieses eine Mal, René, bitte.“
Mit schnellen Schritten eilte Mina durch die Straßen, ihr Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt, während sie mit beiden Händen eine große Einkaufstüte vor sich schleppte.
„Wollen wir es uns nicht lieber bei mir gemütlich machen? Nur wir zwei?“, beharrte René auf seinem Gegenvorschlag. Seine Stimme klang blechern aus dem Lautsprecher des Handys, ein offensichtliches Zeichen dafür, dass er noch auf Arbeit war. Das Gebäude der Polizei war ein furchtbarer Betonbunker mit unterirdischem Empfang.
„Wir können das doch verbinden“, erwiderte Mina schnaufend: „Erst gehen wir einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt trinken, und abends kochen wir gemeinsam bei dir. Was meinst du?“
Sie war nicht der größte Fan von Weihnachtsmärkten, aber zumindest einmal in jedem Dezember gehörte es für sie einfach dazu. Außerdem fand sie die Vorstellung, mit ihrem Freund über den von Kerzen erhellten und nach Glühwein duftenden Markt zu spazieren, wahnsinnig romantisch. Und romantisch war genau das, was ihre Beziehung im Moment gebrauchen konnte.
„Na gut“, willigte René schließlich ein: „Aber du kochst!“
Unwillkürlich musste Mina lachen: „Bitte? Das willst du nicht ernsthaft. Du weißt doch, wie … gut ich kochen kann.“
„So schwer ist das nicht, du musst es nur einfach mal tun!“
„Für dich ist es vielleicht nicht schwer“, konterte Mina, während sie die Tüte in einen Arm nahm, um mit der freien Hand nach ihrem Wohnungsschlüssel zu suchen: „Nicht jeder hatte eine so wundervolle Mutter, die einem schon als Kind alles beigebracht hat!“
„Schön, dann kochen wir eben zusammen. Ich zeig dir einfach, was du tun musst!“
Mina grinste, als sie den gespielt ergebenen Tonfall in Renés Stimme hörte. In Wirklichkeit liebte er es, dass er zumindest in dieser einen Sache so deutlich besser war als sie. Rasch verabschiedete sie sich von ihm, ehe ihr das Handy zwischen Ohr und Schulter entgleiten konnte, und stemmte die schwere Tür zu ihrem Wohnhaus auf. Sie wusste, dass Henrik schon zu Hause war, da er ihr vor einer halben Stunde eine kurze Textnachricht geschickt hatte. Angeblich wollte er eine Überraschung vorbereiten.
Sie hoffte, dass es eine gute Überraschung war. Nach dem Mittagessen mit Daniel konnte sie jede Aufmunterung gebrauchen. Falls Henrik irgendeinen Streich ausheckte, würde er heute jedenfalls sein blaues Wunder erleben. Sie war nicht zu Späßen aufgelegt.
An der Wohnungstür angekommen, kam ihr ein Geruch entgegen, der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Henrik hatte irgendetwas gekocht. Oder eher gebraten, wenn sie den unverkennbaren Geruch von Teig in einer Pfanne richtig deutete.
„Du kommst gerade richtig“, begrüßte er sie, kaum dass sie die Tür aufgestoßen hatte: „Der letzte Pfannkuchen ist fast fertig!“
Mit großen Augen starrte Mina ihre Kochnische an. Ja, hier roch es definitiv gut. Aber die Sauerei, die Henrik hinterlassen hatte, war definitiv auch sehenswert. Mit einem Stöhnen legte sie die schwere Einkaufstüte aufs Sofa, ehe sie ihren Mantel aufhängte und sich ihrer Stiefel entledigte.
„Du hast hoffentlich vor, diesen Schweinestall selbst wieder in Ordnung zu bringen?“, begrüßte sie ihn halb anklagend, halb scherzend.
„Ich dachte eigentlich, wir machen Arbeitsteilung. Ich koche, du putzt“, erwiderte Henrik ernst, doch als er sich zu Mina umdrehte, konnte sie den Schalk in seinen Augen blitzen sehen.
„Wenn du weißt, was gut für deine Gesundheit ist, riskierst du das heute nicht“, war alles, was sie dazu sagte. Seine fragend erhobene Augenbraue kommentierte sie nur mit einem gequälten Grinsen.
Als sie schließlich halbwegs erfrischt aus dem Bad zurück ins Wohnzimmer kehrte, hatte Henrik bereits den Tisch gedeckt, die Pfannkuchen standen dampfend in der Mitte, und er hatte sogar irgendwo eine Flasche Wein aufgetrieben, die nun geöffnet auf sie wartete.
„Ich wusste doch, dass du heute nochmal zu Daniel gehst“, erklärte er, als Mina ihn überrascht ansah: „Und ich konnte mir denken, dass das keine so erheiternde Angelegenheit für dich ist. Also … hier, eine kleine Aufmunterung. Damit du mir nicht aus Versehen den Kopf abreißt.“
Schweigend setzte Mina sich an den Tisch und griff nach dem ersten Pfannkuchen. Wenn Henrik immer so aufmerksam war, konnte sie wirklich nicht verstehen, wieso Giselle sich von ihm getrennt hatte. Es war, als könne er Gedanken lesen – immer sagte oder tat er genau das, was sie gerade brauchte.
Nachdem sie den ersten Pfannkuchen wortlos verschlungen hatte, rückte sie schließlich mit der Sprache raus: „Daniel war ein Arschloch. Absolut kindisch. Aber wenn er dachte, dass er mich so loswird, hat er sich geschnitten!“
Henrik grinste sie schief an: „Man sollte meinen, er hätte gelernt, dass man dich besser nicht provoziert.“
Lachend nahm Mina einen großen Schluck Wein: „Was nur beweist, wie wenig Hirnschmalz er hat.“
Ehe sie sich versah, waren die Pfannkuchen alle und sie hatte ihr zweites Glas Wein geleert. Zufrieden mit sich und der Welt, schenkte sie ein drittes Glas nach und ließ sich damit vor dem Kamin nieder. Ein eigentlich furchtbarer Tag hatte nun doch noch eine schöne Wendung genommen. Nicht nur, dass sie René dazu hatte überreden können, am Wochenende mit ihr auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, jetzt konnte sie auch noch mit gutem Wein und guter Gesellschaft die Seele baumeln lassen. So ein Freitag hatte doch immer noch etwas Gutes an sich.
Grinsend bemerkte sie, dass Henrik, der sich neben ihr auf das Sofa gesetzt hatte, inzwischen ziemlich rot im Gesicht war. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, in diesen Mengen Wein zu trinken. Nicht, dass sie es selbst gewohnt wäre, aber sie war sich sicher, dass sie nicht halb so angetrunken aussah wie er.
„Weißt du, Mina“, fing er nach einer langen Weile des gemeinschaftlichen Schweigens an, die Zunge schwer vom Wein: „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mich aufgenommen hast. Ich hätte es nicht gedacht, aber … du tust mir wirklich gut. Ich vermisse Giselle jede Sekunde, die ich an sie denke, aber wenn ich hier … mit dir … bin … da bin ich abgelenkt. Alleine würde ich vermutlich nur wahnsinnig werden.“
Mitfühlend legte sie ihm eine Hand auf den Oberschenkel: „Dafür sind Freunde da, Henri. Wir kriegen das schon hin. Und ich lenke dich gerne ab, glaub mir!“
Ungeschickt stellte Henrik sein Weinglas auf dem kleinen Beistelltisch ab, dann griff er mit beiden Händen nach ihrer Hand: „Du bist die beste Freundin, die man sich wünschen kann. Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde. So viele Dinge wären anders gelaufen, wenn ich dich nie kennen gelernt hätte. Denk nur an unsere gemeinsamen Lernstunden …“
Minas Atem beschleunigte sich. In ihrer Erinnerung waren die Lernstunden nicht nur positiv. Immer wieder hatte sie sich sehr merkwürdig in Henriks Gegenwart gefühlt, insbesondere in der Zeit, als sich ihre Beziehung zu René anbahnte, aber noch nicht wirklich da war. In ihrer Erinnerung war da irgendetwas zwischen ihnen gewesen, das sich erst auflöste, als sie offiziell eine Beziehung mit René angefangen hatte.
Nur zäh registrierten ihre Gedanken, wie Henrik sie näher zu sich zog: „Ohne dich hätte ich damals einfach aufgegeben. Es war so scheiße schwer, immer nur diszipliniert zu sein, immer nur Bestnoten zu produzieren, immer dieser perfekte Stipendiat zu sein.“
Plötzlich war sich Mina der Nähe nur zu bewusst. Sie lehnte gegen ihn, ihre Brüste pressten sich fest an seinen Oberarm, während ihre Schenkel eng an seinen lagen. Hitze breitete sich in ihr aus, die nichts mit dem Wein oder dem Kaminfeuer zu tun hatte. Nervös befeuchtete sie ihre Lippen, ehe sie den Mut fand, den Blick zu heben und Henrik direkt in die Augen zu sehen.
Was sie dort entdeckte, machte ihr Angst: Sie konnte seine Zuneigung lesen, aber dahinter lag mehr. Das plötzliche Verlangen, das sie selbst verspürte, spiegelte sich deutlich in seinem Blick, der unverwandt auf sie gerichtet war.
Das war nicht gut.
Mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung richtete sie sich auf, stellte ihrerseits ihr Weinglas auf und schüttelte den Kopf: „Ich… ich gehe besser zu Bett. Der Tag… war lang. Danke für das Essen… und… den Wein.“
Und noch bevor Henrik irgendetwas erwidern konnte, war sie in ihr Schlafzimmer geflohen.
Mit leichten Kopfschmerzen wankte Mina am nächsten Morgen in die Küche. Ein Blick auf ihr zum Bett umfunktionierten Sofa zeigte ihr, dass Henrik noch tief und fest schlief. So leise wie möglich füllte sie Kaffeepulver und Wasser in ihre Kaffeemaschine, ehe sie Aufbackbrötchen in den Ofen schob. Als die Kaffeemaschine schließlich mit einem lauten Gurgeln verkündete, dass der Kaffee fertig war, regte sich ihr Mitbewohner auf dem Sofa.
„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn lächelnd. Sie war sich unsicher, ob das unangenehme Ende des vorigen Abends nur in ihrer Vorstellung so unangenehm gewesen war, oder ob Henrik ebenso empfand.
Sein herzhaftes Gähnen zusammen mit dem fröhlichen Grinsen, das erschien, als er sie in der Küche stehen sah, sagten ihr, dass er offensichtlich keinerlei schlechtes Gewissen hatte. Sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte.
„Kaffee und frische Brötchen“, murmelte er, während er sich die Augen rieb, „ich glaub, ich bin im Himmel.“
Mina fing an, Butter, Marmelade und andere Utensilien auf den kleinen Esstisch im Wohnzimmer zu tragen: „Gewöhn dich bloß nicht dran.“
„Hey!“, protestierte Henrik und schälte sich mühsam aus seiner Bettdecke: „Immerhin habe ich gestern das Abendessen gemacht. Das ist doch gute Arbeitsteilung oder nicht?“
Mina zog sich einen Backhandschuh über und zog das Ofenblech mit den Brötchen hervor: „Nur dass ich ein absoluter Morgenmuffel bin und normalerweise nicht in der Stimmung bin, ein großes Frühstück zu machen.“
Nachdem Henrik sich Hose und Pulli übergezogen hatte, setzten sie sich beide an den Tisch. Henrik schien seine Tasse schwarzen Kaffees zu genießen, ohne eine einzige Sorge zu verspüren, was es Mina nur noch schwerer machte, den vorigen Abend zu vergessen. Wieso hatte sie so extrem auf ihren besten Freund reagiert, obwohl sie vergeben war? Hatte sie sich seinen Blick gestern nur eingebildet? Und was sagte es über den Stand ihrer Beziehung aus, dass sie überhaupt reagiert hatte?
Seufzend legte sie ihr angebissenes Brötchen weg. Sie hoffte sehr, dass der Tag mit René auf dem Weihnachtsmarkt ihr helfen würde, ihre Prioritäten wieder korrekt zu ordnen. Ihre alten Gefühle für ihn wieder zu entdecken.
„Weißt du, was ich immer nicht so richtig verstanden hab?“, fragte Henrik plötzlich.
Überrascht schaute Mina zu ihm hinüber: „Du verstehst Vieles nicht.“
„Haha. Wer von uns beiden hat seinen Jura-Abschluss mit Bestnoten bestanden?“, konterte Henrik trocken, doch sie sah, dass ein Lächeln seine Lippen umspielte. Ohne weiter darauf einzugehen, führte er aus: „Ich meine, die Sache mit Daniel. Dass er mich nicht ausstehen kann, verstehe ich ja. Die Fußball-Mannschaft und all das. Und dass ich ihm das Rampenlicht in den Klatschblättern gestohlen habe, angeblich, warum auch immer ihm das so wichtig ist. Aber bei dir? Was ist dein Verbrechen? Dass du mit mir befreundet bist?“
Lachend beugte Mina sich vor: „Das trifft den Nagel ziemlich auf den Kopf.“
„Nicht ernsthaft“, kam es entgeistert von Henrik.
„Erinnerst du dich an das eine Mal in unserer Lieblingsbar?“, begann Mina: „Ist schon ewig her, da waren René und ich noch nicht zusammen. Daniel hatte sich gerade der Fußballmannschaft angeschlossen und ich glaube, ihr hattet noch nicht wirklich ein Wort miteinander gewechselt. Also, außer dem, was man als Mannschaftskollege halt so redet.“
Nachdenklich runzelte Henrik die Stirn und nahm einen weiteren Schluck Kaffee: „Dunkel, ja. Aber nicht so richtig.“
„Dann lass mich dir auf die Sprünge helfen“, sagte Mina bereitwillig. Sie hatte selbst lange gebraucht, um zu realisieren, dass das der Abend gewesen war, an dem sich ihr Verhältnis zu Daniel endgültig zum Negativen gewendet hatte. Sie hatte ihn nie sonderlich gemocht, gerade weil er gutaussehend und intelligent war. Dass er mit ihr zu flirten versuchte, führte nur dazu, dass sie ihn aus Prinzip ablehnte. Er hingegen schien ihr gegenüber immer gleichgültig gewesen zu sein, ein Zeitvertreib, wenn er sich sehr langweilte, vielleicht auch eine Herausforderung, die er nicht wirklich ernst nahm. Was auch immer es war, nach dem Abend in der Bar hatte sich das Blatt gewendet.
Sie rief sich den Abend in Erinnerung und erzählte: „Ich hab ihn direkt beim Reinkommen bemerkt, er stand mit ein paar Freunden an der Bar. Ihr habt ihn nicht gesehen und da wir ja unseren Stammplatz in der Ecke hatten, dachte ich mir, sag ich einfach nichts, warum sollte ich euch auch drauf aufmerksam machen? Ich dachte einfach nicht, dass Daniel irgendeinen Grund hätte, zu uns rüber zu kommen. Hatte er aber, warum auch immer. Weißt du noch? Er hat sich einfach zu uns an den Tisch gesetzt und mich begrüßt, als wäre ich seine beste Freundin.“
„Jetzt erinnere ich mich!“, stimmte Henrik mit ein: „Himmel, ich habe völlig vergessen, was für ein Arschloch er an dem Abend war! Kommt an, setzt sich, ohne zu fragen, und fordert von dir, dass du uns vorstellst.“
„Ganz genau!“, nickte Mina: „Ich meine, ich wusste ja vorher schon, dass er ein bisschen zu viel von sich hält, aber das. Unfassbar.“
„Ich sehe trotzdem nicht, was genau das mit dir zu tun hat. Ich meine, ich war derjenige, der ihn vertrieben hat. Er hält mir einfach so die Hand hin, meint ganz großartig, er wäre Alexander Frederik Daniel von Hohenstein, aber seine Freunde nennen ihn Dan, und denkt, ich fall um vor Freude?“
Mina prustete in ihren Kaffee: „Mein Verbrechen war offenbar, dass ich nicht wohlwollend auf euch beide eingewirkt habe. Offenbar dachte er irgendwie, dass ich es toll fände, wenn ihr befreundet seid. Und als du ihm ins Gesicht gesagt hast, dass du ihn dann sicher nicht Dan nennen wirst, hat er mich angeguckt, als wäre ich irgendein Gewürm.“
Irritiert kniff Henrik die Augen zusammen: „Es ist deine Schuld, dass ich ihn nicht mag?“
Sie zuckte nur mit den Schultern: „Offenbar. Jedenfalls hasst er mich seit dem Tag. Und redet immer wieder davon, was ich mir geleistet hätte.“
„Was du dir geleistet hast?“, wiederholte Henrik ungläubig: „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, um zu beschreiben, was daran alles falsch ist! Hast du ihn etwa glauben lassen, dass ihr BFFs seid?“
Mina rollte nur mit den Augen: „Ich war höflich zu ihm. Ich habe mich mit ihm unterhalten, wenn er mich angesprochen hat. Aber ich bezweifle, dass ich irgendetwas getan habe, was irgendein klar denkender Mensch als Zuneigungsbekundung interpretieren würde. Ich glaube, er war einfach nur wütend, dass du ihn vor all seinen Freunden bloß gestellt hast und ich hab ihn dann auch noch hängen lassen.“
„Soll er sich halt wie ein normaler Mensch benehmen und höflich fragen, ehe er sich an den Tisch quasi fremder Leute setzt!“, empörte sich Henrik.
„Er ist aber kein normaler Mensch. Er ist ein von Hohenstein, natürlich gelten für ihn andere Regeln als für uns Normalsterbliche.“
Kopfschüttelnd griff Henrik nach einem weiteren Brötchen. Da Mina kein Interesse daran hatte, das Thema weiter zu verfolgen, beließ sie es bei dem sarkastischen Kommentar.
„Irgendwelche Pläne für heute?“, fragte Henrik schließlich, nachdem er sein Brötchen innerhalb von Sekunden verspeist hatte.
Sie nickte: „Ich gehe nachher mit René auf den Weihnachtsmarkt. Und dann kochen wir zusammen.“
Grinsend wackelte Henrik mit einem Finger: „Du meinst, er kocht für dich?“
Etwas schuldbewusst zog Mina die Schultern hoch: „Naja, eigentlich sollte ich kochen, aber wir wissen ja alle, wohin das führt. Aber ich habe versprochen, zumindest zu helfen.“
Ihr Freund nickte bedächtig: „Also ein schöner romantischer Tag zu zweit, ja?“
Seufzend ließ Mina einen Finger über den Rand ihrer Kaffeetasse kreisen: „Ja, das hoffe ich. Irgendwie war da nicht so viel los in letzter Zeit. Zwischen uns. Die Romantik ist ein bisschen raus, irgendwie. Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist das einfach so, wenn man erwachsen ist?“
Abwehrend hob Henrik die Hände: „Das musst du mich nicht fragen. Ich dachte, zwischen Giselle und mir ist alles prima, bis sie plötzlich Schluss macht. Offensichtlich bin ich also auch kein Profi. Aber … René hat mir gegenüber auch schon angedeutet, dass es gerade nicht so gut läuft mit euch.“
„Argh!“, machte Mina und vergrub ihr Gesicht in den Händen: „Großartig, einfach großartig. Ich dachte, vielleicht liegt es nur an mir und ich bin irgendwie schief gewickelt, aber wenn er das auch so sieht. Ich hoffe wirklich, dass das nur eine Phase ist und wir das wieder hinbiegen können. René ist wirklich ein guter Mann.“
Stumm zuckte Henrik darauf nur mit den Schultern und starrte in seine Kaffeetasse. Sofort bereute Mina, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte. Natürlich wollte Henrik gerade nichts über die Beziehungsprobleme anderer Leute wissen. Er war genug mit sich selbst beschäftigt. Dass seine beiden besten Freunde heute einen romantischen Tag zu zweit verbringen wollten, war für ihn vermutlich wie Salz, dass sie absichtlich in die Wunde streuten.
Entschlossen ignorierte sie das Gefühl, dass sie Henrik gerade auf einer ganz anderen Ebene verletzt haben könnte. Sie würde heute einen schönen Tag mit René verbringen, ihre alten Gefühle wieder entdecken und dann wären all ihre komischen Reaktionen auf Henriks Verhalten auch Schnee von gestern.
Von ihrem Platz am Küchentisch aus beobachtete Mina, wie René das Gemüse in der Pfanne schwenkte. Am Ende hatte doch wieder er die meiste Arbeit beim Kochen übernommen, zu ungeschickt hatte sie sich mit dem Schneiden der Paprika und dem Schälen der Kartoffeln angestellt. Dass ihre Gedanken nicht recht bei der Sache gewesen waren, hatte auch nicht geholfen.
Sie seufzte, die Finger um einen Becher mit heißem Tee geklammert, und starrte auf Renés breiten Rücken. Der Tag mit ihm auf dem Weihnachtsmarkt war schön gewesen, denn er hatte sich offensichtlich Mühe gegeben, Spaß daran zu haben. Trotzdem hatte sie zu keinem Zeitpunkt das Gefühl gehabt, tatsächlich auf einem Date mit ihm zu sein. Es war eher wie früher, als sie mit Henrik und René regelmäßig in ihre Lieblingsbar gegangen waren, ein paar Bier oder Wein getrunken hatten und vielleicht die ein oder andere Runde Darts gespielt hatten. Vergnüglich, aber in keiner Weise wirklich romantisch.
Dass sie sich immer noch fragte, ob sich da ein Kuss zwischen ihr und Henrik angebahnt hatte am Abend zuvor, hatte sein Übriges getan.
Sie liebte René wirklich. Aber während sie ihn so betrachtete, wie er in der Küche das Essen zubereitete – ein so vertrauter Anblick – begann sie sich zu fragen, ob sie tatsächlich auch in ihn verliebt war.
Und dann fragte sie sich, ob es Giselle wohl genauso ergangen war. Als Henrik mit gebrochenem Herzen vor ihrer Tür aufgetaucht war, hatte sie deutliche Worte für Giselles Verhalten gefunden – wer konnte schon erwarten, nach zwei Jahren in einer Beziehung noch Schmetterlinge im Bauch zu verspüren? Doch nun fand sie sich beinahe an demselben Punkt. Sie erwartete gar nicht, ständig Herzklopfen zu haben, aber sollte da nicht trotzdem noch irgendetwas sein? Selbst Henrik, den sie stets als einen Bruder betrachtet hatte, konnte ihr die Hitze in die Wangen treiben, während René …
„Essen ist fertig!“, verkündete eben jener in diesem Moment und unterbrach Minas kreisende Gedanken. Mit geschickten Händen teilte er den Inhalt der Pfanne auf zwei tiefe Teller auf und stellte einen vor Mina, den anderen auf seinen eigenen Platz auf den Tisch. Dazu stellte er sich ein Glas und eine Flasche Bier hin, während Mina einen neuen Becher mit Tee bekam.
„Lass es dir schmecken“, sagte er fröhlich, während er sich ihr gegenüber an den Tisch setzte und ohne zu zögern mit dem Essen begann.
„Danke“, murmelte Mina betreten. Die Gemüsepfanne, die René gezaubert hatte, roch himmlisch, und der lange Tag auf dem Weihnachtsmarkt hatte ihr ordentlich Energie geraubt. Sie beschloss, all ihre Bedenken für den Moment zur Seite zu schieben, um sich stattdessen auf das Mahl zu konzentrieren, das ihr Freund für sie zubereitet hatte.
„Ich hab diese Woche mal nachgedacht“, durchbrach René schließlich das Schweigen, das sich in der Küche ausgebreitet hatte. Amüsiert bemerkte Mina, dass er sich immer noch nicht abgewöhnt hatte, mit vollem Mund zu sprechen, doch sie störte sich schon lange nicht mehr daran. Fragend hob sie eine Augenbraue, um ihn zum Weitersprechen aufzufordern.
„Ich glaube, es würde uns gut tun, wenn wir eine Weile … weniger voneinander sehen.“
Beinahe hätte Mina ihr Besteck fallen gelassen: „Was?“
„Überrascht dich das wirklich?“
Mit offenem Mund starrte sie René an. Sie konnte sehen, dass er sich nicht wohl in seiner Haut fühlte, doch sein Blick war entschlossen und lag unbeweglich auf ihr. Wann war René so erwachsen geworden?
„Willst du Schluss machen?“, hakte sie unsicher nach. Das Essen vor ihr war vergessen, das Besteck vorsorglich beiseitegelegt, um sich auf das Gespräch konzentrieren zu können. Ein nervöses Zittern erfasste sie. Sie hatte selbst gerade über genau diese Sache nachgedacht, doch es aus dem Mund von René zu hören, gab dem Ganzen eine neue Dimension. Es wurde real.
René schüttelte den Kopf: „Nein. Nur … eine Pause? Meine Worte stehen noch: Ich liebe dich und ich will mein Leben mit dir verbringen, Mina. Aber ich will, dass du auch so fühlst“, erklärte er, während er sich verlegen an der Wange kratzte: „Ich will, dass du mich genauso willst wie ich dich. Wenn wir zusammen sind, ist das schön. Es fühlt sich nett an, geborgen, vertraut. Wie zu Hause. Aber…“, nun wurde er doch rot: „Ich hab manchmal das Gefühl, dass du mich nicht … attraktiv findest, weißt du? Ich bin ein Mann … und ich will, dass mir die Frau, die ich liebe, auch das Gefühl gibt, ein Mann zu sein …“
Beschämt senkte Mina den Kopf. Sie wusste genau, worauf René hinauswollte. Sie liebte ihn, aber wenn es um Lust und Verlangen ging, war da wenig. Und so unpassend, wie es war, die Szene mit Henrik vom Abend zuvor tauchte ungebeten wieder in ihrem Kopf auf.
„Oh René …“
Mit einem gequälten Lächeln lehnte René sich vor: „Ich bin einfach zu eifersüchtig. Ich denke an Henri, der bei dir wohnt, und habe alle möglichen finsteren Gedanken. Und dann redest du rational drüber und ich weiß, du hast Recht, und trotzdem finde ich, dass ich das blöd finden darf. Ich finde es super, dass du rational bleiben kannst und nicht zickig wirst, wie andere Frauen, aber … ugh …“
Mina sah, dass René eigentlich ruhig und offen über diese Sache hatte reden wollen, aber am Ende waren doch wieder seine Emotionen mit ihm durchgegangen. Und sie verstand ihn, sie verstand ihn wirklich, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. In allen Lebenslagen nutzte sie zuerst ihren Verstand, ehe sie ihre Gefühle befragte.
Naja, zumindest, solange sie nicht betrunken war.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte sie leise: „Vielleicht brauchen wir einfach eine Pause. Man gewöhnt sich manchmal an Dinge und verliert aus den Augen, wie viel sie eigentlich Wert sind.“
René nickte bestätigend: „Das meine ich. Du bedeutest mir wirklich viel, Mina, aber wenn wir wirklich eine Zukunft zusammen haben wollen, dann … muss ich dir auch viel bedeuten. Ich will dich heiraten, Mina.“
Erschlagen ließ sie sich in ihrem Stuhl zurücksinken. Er wollte sie heiraten. Natürlich wollte er sie heiraten. Das war nur logisch.
Und trotzdem.
Der Gedanke war abstrakt und kaum hatte er es ausgesprochen, beschlich Mina das Gefühl, als habe jemand eine Falle für sie aufgebaut. War sie wirklich bereit, den Rest ihres Lebens mit René zu verbringen? Es gab noch so viel zu sehen in der Welt, so viel herauszufinden, so viel zu … fühlen.
„Ich verstehe dich, René“, flüsterte sie: „Wenn wir wirklich zusammen alt werden wollen, sollten wir lieber jetzt als später herausfinden, wie tief unsere Gefühle wirklich gehen. Eine Pause ist … sinnvoll.“
„Es muss ja nicht ewig sein“, fügte René rasch hinzu: „Vielleicht bis zum neuen Jahr oder so. Einfach zwei oder drei Wochen, in denen wir unserer eigenen Wege gehen. Ich bin mir sicher, wir werden beide schnell merken, dass wir den anderen vermissen. Wir werden sehen, was wir aneinander haben.“
Mina nickte nur. Im Gegensatz zu René war sie sich nicht so sicher, ob das tatsächlich das Ergebnis einer Trennung auf Zeit sein würde. Was, wenn sie sich glücklicher fühlte? Was, wenn ihr das Leben ohne René als Partner gefiel?
Was, wenn aus der Sache mit Henrik mehr wurde?
Unwillkürlich stiegen Tränen in ihr hoch. Sie musste mit Henrik sprechen. Sie musste einfach wissen, was da passiert war und was in ihm vorging. Er war immer noch Renés bester Freund.
„Hey, Mina, komm her“, flüsterte René zärtlich und ging zu ihr rüber, hockte sich neben ihr hin und zog sie an sich: „Nicht weinen, bitte. Wir kriegen das hin. Du wirst sehen, die Pause wird uns gut tun.“
Schluchzend vergrub Mina ihr Gesicht an seiner Schulter. Wenn René wüsste, worüber sie nachdachte. Wenn er wüsste, wie es wirklich um ihre Gefühle bestellt war. Wenn er auch nur ahnte, was zwischen ihr und Henrik vorgefallen war. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin und sie hasste das.
Und am Montag musste sie zu allem Übel auch noch erneut zu Daniel gehen, um ein weiteres Mal zu versuchen, seine Familie als Spender zu rekrutieren.
Faul kuschelte Mina sich in ihr Bett. Es war Sonntagmorgen und es bestand keinerlei Notwendigkeit, so früh wach und auf den Beinen zu sein. Die Welt außerhalb ihrer Decken war eh viel zu kalt, zumal sie noch nicht bereit war, Henrik unter die Augen zu treten. Als sie gestern von ihrem Besuch bei René heimgekommen war, hatte sie Henrik nirgends entdecken können, und er schien tatsächlich erst in die Wohnung zurückgekehrt zu sein, nachdem sie bereits im Bett war.
Sie hatte beschlossen, ihm nicht zu erzählen, dass sie eine Pause in ihrer Beziehung mit René eingelegt hatte. Zumindest noch nicht. Sie wollte erst sicherstellen, dass dieser Beinahe-Kuss nur ein Unfall war, der sich auf keinen Fall wiederholen würde, ehe sie Henrik über ihr Liebesleben aufklärte. Nicht auszudenken, wenn er ihre Beziehungspause als Einladung auffassen würde, um ihr noch näher zu kommen.
Was sie zu der Frage brachte, wieso er sich ihr gegenüber überhaupt so verhielt, wie er es tat. Er war frisch von Giselle getrennt und René war sein bester Freund. Das letzte, woran er im Moment denken sollte, war, mit ihr zu flirten. Zum wiederholten Male fragte sie sich, ob sie sich das alles nur eingebildet hatte.
Kaffeegeruch stieg ihr plötzlich in die Nase. Schnuppernd setzte Mina sich im Bett auf. Bereitete Henrik etwa gerade Frühstück für sie vor? Am liebsten hätte sie frustriert ihren Kopf unter dem Kissen begraben, doch es half nichts. Sie musste sich der Realität stellen. Sie musste Henrik sagen, dass sein Verhalten absolut unangebracht war, dass er aufhören musste, so süß zu ihr zu sein. Es war eine Sache, wenn sie als Wohnungsbesitzerin Essen für ihn mitmachte. Es war etwas ganz anderes, wenn er Abendessen oder gar Frühstück für sie bereitete.
Sie hatte nur schnell den nächst besten Pullover übergezogen und ihr Nachthemd in eine bequeme Hose gestopft, ehe sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete und mit finsterem Blick zur Kochnische schaute.
„Guten Morgen“, wurde sie von einem deutlich zu munteren, zu fröhlichen Henrik begrüßt.
Ihr Blick wurde noch finsterer: „Und was wird das hier, wenn es fertig ist?“
Offensichtlich überrascht von ihrer ablehnenden Haltung, drehte Henrik sich vollends zu ihr um, die volle Kaffeekanne in einer, zwei Tassen in der anderen Hand: „Frühstück natürlich. Ist das schlecht?“
Stöhnend fuhr Mina sich durch ihr wildes Haar: „Warum machst du mir Frühstück, Henrik?“
Vorsichtig stellte er Kanne und Tassen auf dem Tisch ab: „Ich will nett zu dir sein. Du hast mich spontan hier aufgenommen, da ist es doch nur natürlich, dass ich…“
Unwirsch unterbrach sie ihn: „Warum machst du mir wirklich Frühstück?“
Die Röte, die sich auf Henriks Wangen ausbreitete, verriet Mina sofort, dass sie ihn ertappt hatte. Also hatte sie sich sein Verhalten doch nicht nur eingebildet. Mit einem langen Seufzer ließ sie sich in einen der Stühle am Esstisch sinken.
„Henri … was soll das hier werden?“, hakte sie nach, als er nicht auf ihre Frage reagierte.
Langsam nahm er ihr gegenüber Platz. Sein Blick war fest auf den Kaffee gerichtet, der er gerade in die beiden Tassen goss: „Ich weiß auch nicht. Ich dachte einfach nur … vielleicht habe ich auch gar nicht nachgedacht.“
Schnaubend nahm sie ihre Kaffeetasse entgegen: „Ja, so hat es gewirkt. Henri, du bist frisch von Giselle getrennt. Und ich bin … an deinen besten Freund vergeben. Was zur Hölle hat dir den Gedanken gegeben, es könnte eine gute Idee sein, Abendessen mit Wein für mich zu machen? Das machen beste Freunde nicht füreinander …“
„Du warst es doch, die sich so verführerisch an mich gekuschelt hat auf dem Sofa!“, fuhr er sie plötzlich an. Überrascht, aber zufrieden, dass er sie endlich direkt ansah, ließ Mina sich in ihrem Stuhl zurücksinken.
„Ich wollte dich trösten!“, verteidigte sie sich: „Ich weiß, wie schwer es dir fällt, ein gebrochenes Herz zu verarbeiten. Du warst doch noch nie gut mit sowas. Ich wollte nur helfen!“
Beinahe verächtlich entgegnete er: „Ach, deswegen hast du mir deine Hand auf den Oberschenkel gelegt? Um mich zu trösten? Wie genau hattest du das denn anstellen wollen, das Trösten?“
Entsetzt riss sie die Augen auf. Das konnte er nicht ernst meinen. Was wollte er mit seinen Worten andeuten? Wütend starrte sie ihm in die Augen: „Du unterstellst mir ernsthaft, dass ich einfach so René betrügen würde?“
Sie konnte nicht glauben, was Henrik da sagte. Bebend vor Zorn erhob sie sich vom Tisch, um etwas mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bringen, doch Henrik folgte ihr sofort. Packte sie am Arm und wirbelte sie herum.
„Willst du mir weißmachen, du wüsstest nicht genau, was du hier tust?“, verlangte er zu wissen, das Gesicht nur Zentimeter von seinem entfernt: „René hat mir oft genug erzählt, dass er in letzter Zeit das Gefühl hat, dass du nicht mehr so für ihn brennst wie früher. Er meinte, es sei wohl der Stress auf Arbeit, der dich ablenkt und verhindert, dass du deine Gefühle offen zeigen kannst. Was meinst du, wie überrascht ich war, als ich dann hier ankam, in deiner Wohnung, und du … SO auf mich reagierst, mh? Ich wollte dich nur ein wenig necken. Ich wollte lustig sein!“, seine Stimme war inzwischen gefährlich leise geworden und obwohl Henrik kaum größer war als sie selbst, hatte Mina doch das Gefühl, dass er über ihr aufragte. Mit dunklem Tonfall fuhr er fort: „Du bist jedes Mal nur rot geworden, wenn ich mich halbnackt gezeigt habe oder ein bisschen scherzhaft geflirtet habe! Was dachtest du denn, was das in mir auslöst?!“
Ihr Atem beschleunigte sich: „Ich bin… du hast mich einfach damit überrascht.“
Er zog sie noch näher an sich, bis sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten: „Weißt du, wie ich mich damals wirklich gefühlt habe während der Uni? Als René uns dieses eine Mal vorgeworfen hat, wir hätten was miteinander … ich habe mich schuldig gefühlt, Mina! Weil ich wusste, ganz tief in mir, dass er Recht hatte! Wenn ich gekonnt hätte … wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie er für dich empfindet … aber ich dachte immer, du fühlst nicht so! Also hab ich das ignoriert, hab mich darauf konzentriert, ein Leben mit Giselle aufzubauen!“
Fassungslos schüttelte Mina den Kopf. Was erzählte er denn da? Warum redete er so einen Unsinn?
„Ich wollte dich nur aufziehen, Mina!“, erklärte Henrik, der langsam wirklich verzweifelt klang: „Vielleicht wollte ich auch mein Ego bestätigt wissen, keine Ahnung. Aber nachdem Giselle die Beziehung beendet hat und ich bei dir untergekommen bin, da war es wieder da, dieses Gefühl. Und ich dachte, wenn ich darüber Scherze mache und dich ein bisschen necke, dann kriege ich schon meine deutliche Abfuhr. Ich dachte, du weist mich in meine Schranken, lachst mich aus … irgendetwas. Stattdessen wirst du rot, kannst mir nicht in die Augen sehen … und kuschelst dich einfach so an mich!“
Wie durch einen Schleier wurde Mina bewusst, dass sich Henrik inzwischen mit seinem ganzen Körper an sie presste, dass er sie erfolgreich zwischen dem Tresen der Küche und sich gefangen hielt. Ihr Herzschlag raste nur so dahin, während sie verzweifelt versuchte, die Situation logisch zu betrachten.
„René ist mein bester Freund“, stieß Henrik zwischen zusammengepressten Kiefern aus, als müsste er sich anstrengen, nicht … Mina wollte nicht darüber nachdenken, wovon er sich da genau abhalten musste.
„Ich würde niemals etwas tun, das René verletzten könnte“, fuhr er fort: „Aber ich kann einfach nicht mehr. Ich habe seit über zwei Jahren … nein, eigentlich schon viel länger davor … ich habe mich ewig zurückgehalten, weil ich wusste, dass er in dich verliebt war. Und ich wusste, dass du kein Interesse an mir hast. Also hab ich nichts gesagt. Aber jetzt … ich kann einfach nicht mehr.“
Und ehe Mina verarbeiten konnte, was genau Henrik ihr da eigentlich sagte, hatte er den letzten Abstand geschlossen und küsste sie.
Er küsste sie mit einer Leidenschaft und einem Verlangen, das Mina noch nie gespürt hatte. Unfähig, sich gegen den Sturm seiner Gefühle zu wehren, schlang sie ihre Arme um ihn und erwiderte den Kuss. Es war keine Zärtlichkeit in diesem Kuss, kein liebevolles Erkunden, sondern nur angestaute Aggression und unterdrückte Lust, die plötzlich mit aller Macht nach vorne drängte. Henriks Hände waren plötzlich überall, seine Zähne knabberten an ihren Lippen, gruben sich in die empfindliche Haut ihrer Schultern und immer wieder forderte er sie wortlos auf, ihre Lippen zu öffnen und seiner Zunge Einlass zu gewähren.
Als seine Hand schließlich unter den Stoff ihres Nachthemdes fuhr, unterbrach Mina seine stürmischen Küsse: „Stopp, Henri. Das … das geht nicht. Nicht so schnell. Wir müssen darüber reden, wir können nicht einfach …“
„Zum Teufel mit Reden!“, schrie er sie an, doch ein entschlossener Blick von ihr brachte ihn dazu, tatsächlich einen Schritt zurückzutreten.
Mit vor der Brust verschränkten Armen schaute sie ihn an: „Das alles hier … das geht so nicht. Wir können nicht einfach alles über Bord werden. Benutzt deinen Verstand, Henri!“
Sie sah, wie seine Kiefer aufeinander mahlten, wie sich seine Hände zu Fäusten schlossen und wieder öffneten, doch er sagte nichts. Stattdessen drehte er sich abrupt um, schnappte sich seinen Mantel und ging mit langen Schritten zur Wohnungstür.
Er hatte sie schon halb geöffnet, da drehte er sich noch einmal zu ihr um: „Du stehst dir mit deinem verdammten Verstand selbst im Weg, Mina. Ich ertrag das nicht länger. Wenn du so verdammt stur sein willst, bitte. Geh zur Hölle mit deiner Emotionslosigkeit!“
Und damit war er aus Tür und verschwunden. Sprachlos und verletzt blieb Mina alleine zurück. Was genau hatte sie nur falsch gemacht?