„Wie läuft es mit Frau Richter?“
Lächelnd stellte Daniel seine Kaffeetasse zurück und schaute über den Frühstückstisch hinweg zu seiner Mutter hinüber: „Ausgezeichnet.“
„Oh?“, hakte sie interessiert nach: „Was genau bedeutet das?“
Er musste an sich halten, nicht zu sehr zu prahlen und direkt mit allem herauszuplatzen. So langsam es ihm möglich war, legte er dar: „Ich habe auf deine Anweisung hin meine charmante Seite gezeigt und sie scheint doch recht empfänglich dafür zu sein. So empfänglich jedenfalls, dass sie nur zu gerne noch öfter mit mir ausgehen will.“
Seine Mutter erwiderte sein Lächeln warm: „Das freut mich. Was ist dein Plan? Willst du am Ende eine Spende tätigen oder nur öffentlichkeitswirksam eine Beziehung inszenieren?“
Kurz schloss Daniel die Augen. Für ihn gab es da überhaupt keine Frage, denn dass er einer Frau wie Mina Geld in den Rachen werfen würde, war keine Option: „Im Moment sieht es so aus, als wäre eine Beziehung eine sehr leicht zu arrangierende Sache.“
„Geht sie tatsächlich auf deine Flirtversuche ein?“, erkundigte sich seine Mutter überrascht.
Er konnte nicht anders, als bei diesen Worten zu grinsen. Ja, es war in der Tat eine Überraschung, wie empfänglich Mina für seinen Charme war, gerade nach seinen Erfahrungen während ihrer gemeinsamen Studienzeit. Sie war am Ende wohl doch seinem guten Aussehen ebenso erlegen wie die meisten anderen Frauen. Grinsend bestätigte er: „Ja, in der Tat. Und sie läuft so niedlich rot an, wenn man ein paar Anspielungen bringt.“
Ein nachdenklicher Ausdruck trat auf das Gesicht seiner Mutter: „Das ist interessant. Pass nur auf, dass sie dich nicht hereinlegt, mein Guter.“
Er schnaubte bloß: „Keine Sorge. Jemand wie die ist viel zu ehrlich, um einen Flirt vorzuspielen. Hab ich dir nicht oft genug erzählt, dass sie so anstrengend streberhaft ist? Sie hält viel zu viel von ihren eigenen Moralvorstellungen, als dass sie mit Gefühlen spielen würde.“
Sie nickte abwesend: „Jaja, sei nur einfach vorsichtig.“
Kopfschüttelnd nahm Daniel die Tageszeitung in die Hand. Die Sorge seiner Mutter war absolut unbegründet. Mina reagierte aufrichtig auf seine Avancen, und er war der letzte, der sich auch nur im Mindesten für sie interessierte. So ein lächerlicher Gedanke, dass sie ihn da irgendwie hereinlegen könnte.
Während er in der Zeitung blätterte, beschloss er, die Daumenschrauben anzuziehen. In der Uni hatte er sie nicht allzu oft zu sehen bekommen, wodurch es ihr leicht gefallen war, sich ihm zu entziehen. Aber wenn er sich jetzt jeden Tag in ihrem Leben zeigte, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihm verfallen würde.
Ein Klopfen an ihrer Bürotür schreckte Mina aus ihrer Lektüre. Nachdem sie mit den von Hohensteins erste Fortschritte gemacht hatte, hatte ihre Chefin ihr erlaubt, sich wieder um ihr eigentliches Spezialgebiet zu kümmern. Konzentriert ging sie den letzten Bericht über ein Projekt, für das sie als Koordinatorin zuständig war, durch. Sie hatte wenig Ahnung von den Gegebenheiten vor Ort, doch das war auch gar nicht ihre Aufgabe. Sie war dafür zuständig, die zehn Mitarbeiter als Teamleiterin anzuführen und für jegliche rechtliche Fragen die Expertise zu liefern oder einen finanziellen Rahmen zu setzen.
„Herein“, rief sie genervt. Sie war nicht in der Laune, sich mit übereifrigen Kollegen herumzuschlagen, doch sie wusste, dass von ihr erwartet wurde, jederzeit verfügbar zu sein. Das brachte ihre Position im Verein mit sich.
Die Tür wurde vorsichtig geöffnet, dann ertönte ein: „Schlechter Zeitpunkt?“
Überrascht blickte sie auf: „Dan?“
Grinsend schob sich Daniel durch den Spalt und schloss die Tür schnell wieder hinter sich: „Deine Empfangsdame war gerade nicht da, das habe ich ausgenutzt, um ungesehen zu dir zu gelangen.“
Kopfschüttelnd erhob Mina sich von ihrem Schreibtisch: „Das ist keine Empfangsdame, sie ist eine ganz normale Mitarbeiterin. Und was willst du überhaupt hier?“
Immer noch lächelnd deutete er eine Verbeugung an: „Ich dachte, du hast vielleicht gleich Feierabend, und ich könnte dich zum Abendessen ausführen.“
„Bitte?“, entfuhr es ihr unhöflicher als geplant. Ertappt schlug sie sich eine Hand vor den Mund, doch ihr Entsetzen blieb: „Tschuldige, das sollte nicht ganz so abweisend klingen. Aber ehrlich. Was willst du?“
Seine ganze Körperhaltung strahlte selbstbewusste Arroganz auf, als Daniel den Raum durchquerte, vor ihrem Schreibtisch zu stehen kam und beide Hände flach auf der dunklen Holzplatte ablegte, um sich weit zu ihr vorzubeugen: „Du hattest mich doch dazu aufgefordert, dir zu beweisen, dass ich eine bessere Gesellschaft bin als Zimmer. Also, hier bin ich, bereit, die werte Dame erneut zum Essen auszuführen.“
Mehrmals blinzelte Mina. Wie konnte Daniel wissen, dass sie gerade dabei war, sich auf Henrik einzulassen? Sie wollte gerade anklagend etwas sagen, da fiel ihr die Unterhaltung am Mittagstisch wieder ein. Es ging gar nicht um ihre jetzige Beziehung zu Henrik. Sie hatte ihn tatsächlich spielerisch dazu herausgefordert, ihr zu zeigen, ob er nicht eine bessere Gesellschaft darstellen konnte als ihre Unifreunde. Sie schloss die Augen. Richtig. Sie hatte sich ja auf dieses Katz-und-Maus-Spiel mit ihm eingelassen, um sein Vertrauen zu gewinnen. Mühsam kramte sie ihre verspielte, flirtende Seite hervor, um sich in diese Schlacht zu werfen.
„Du hast das tatsächlich ernst genommen“, murmelte sie erheitert: „Wie schön. Dann nehme ich das Angebot doch gerne an.“
Zufrieden richtete Daniel sich wieder auf: „Hast du jetzt Feierabend?“
Rasch schloss Mina die Akte auf ihrem Tisch und verstaute sie in ihrem Schrank. Ihr Blick wanderte auf die Uhr über ihrer Bürotür: „In zehn Minuten, ja, aber das spielt keine Rolle. Lass uns gehen.“
Rasch schrieb sie einen Notiz an ihre Kollegin, die noch immer abwesend war, und klebte ihr das Post-It dann an den Rahmen ihres Bildschirms. Wann auch immer die andere Frau wiederkommen würde, so wüsste sie zumindest, dass die Teamleiterin schon außer Haus war.
Galant hielt Daniel ihr einen Arm hin: „Ich würde heute gerne ein anderes Restaurant ausprobieren. Vertraust du mir, dass ich dich erneut in fremde Welten entführe?“
Eigentlich hätte Mina dazu Nein sagen wollen, doch wenn sie die Oberhand behalten wollte, musste sie wohl in den sauren Apfel beißen: „Aber natürlich.“
Sie hakte sich bei ihm unter, nachdem ein schneller Blick nach rechts und links ihr bestätigt hatte, dass niemand sie beobachten konnte, dann schritt sie neben ihm den Flur entlang. Sie betete, dass Margarete nicht genau jetzt irgendwo auftauchen würde, denn sie hätte es sehr schwer, ihr zu erklären, warum sie plötzlich so eng mit von Hohenstein war.
Ungesehen kamen sie in der Tiefgarage des Bürogebäudes an, wo Daniel seinen eleganten Wagen abgestellt hatte. Noch immer in der Rolle des Gentlemans hielt er ihr die Tür auf, ehe er selbst auf der Fahrerseite einstieg.
Eine halbe Stunde später waren sie außerhalb der Stadt an einem kleinen Wäldchen angekommen. Staunend blickte Mina aus dem Fenster. Sie standen vor einer riesigen Villa, während weit und breit kein anderes Haus zu sehen war. Misstrauisch stieg sie aus und fragte: „Wo sind wir?“
Grinsend legte Daniel ihr einen Arm um die Schultern: „Ein persönliches Lieblingsrestaurant von mir. Ein Geheimtipp. Exzellente Küche, aber so weit ab vom pulsierenden Herz der Stadt, dass die ganzen Hipster ihren Weg nicht hierher finden. Man kann also ungestört die Gesellschaft gehobener Gäste genießen.“
Ein Schauer lief Mina den Rücken hinunter, als er so arrogant über Menschen mit weniger Reichtum als er selbst sprach. Gleichzeitig löste sein Arm um ihre Schulter widersprüchliche Gefühle in ihr aus. Es war definitiv eine viel zu vertraute Geste, aber da sie ihr Spiel nicht aufgeben wollte, ließ sie zu, dass es sich angenehm anfühlte und beschloss, ihm diese vertrauliche Annäherung durchgehen zu lassen.
„Geheimtipp, mh?“, sagte sie stattdessen: „Und was gibt es hier?“
Sein Arm wanderte weiter hinunter, bis er schließlich auf ihrer Hüfte ganz knapp oberhalb ihres Hintern liegen blieb: „Essen, Mina. Was hast du erwartet?“
Sie presste ihre Kiefer fest aufeinander, während sie sich von ihm in die Villa führen ließ. Seine Hand war jetzt definitiv in Regionen angekommen, die nicht mehr anständig waren, aber sie würde nicht nachgeben. Sollte er sich nur einbilden, dass seine Berührungen willkommen waren. Je schneller sie ihn um den Finger gewickelt hatte, umso eher konnte sie die Akte von Hohenstein schließen und seiner Gegenwart entfliehen.
Nachdem sie sich von dem Personal an einen schönen Tisch in einer abgeschiedenen Ecke hatten führen lassen, nahm Daniel ihr mit einer eleganten, geübten Bewegung den Mantel ab, hängte ihn für sie auf und rückte ihr den Stuhl zurecht. Am liebsten hätte sie die Augen gerollt über diese antike Manieren, doch sie konnte sich nicht helfen, es fühlte sich trotzdem gut an, von einem Mann so behandelt zu werden.
„Und nun erzähl mal“, begann er das Gespräch, nachdem er ihnen einen halbtrockenen Wein bestellt hatte: „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen heute?“
„Was?“
Sein heiterer Gesichtsausdruck machte ernster Sorge Platz: „Ich dachte, du würdest mich mit deinen Blicken erdolchen, als ich eben in dein Büro kam. Viel Arbeit?“
Misstrauisch beobachtete Mina sein Mienenspiel. Wie konnte er nur so furchtbar überzeugend darin sein, ihr ernsthaftes Interesse vorzuspielen? Sie konnte keinerlei Unaufrichtigkeit entdecken, obwohl sie sich sicher war, dass es ihn in Wahrheit kein Stück interessierte, wie es ihr ging. Unwillig verzog sie den Mund. Schön, wenn er es unbedingt wissen wollte, konnte sie ihm ruhig eine Facette der Wahrheit erzählen: „Nicht unbedingt viel Arbeit. Aber gewisse Personen haben in der letzten Woche meine Arbeitskraft von meinen eigentlichen Aufgaben abgezogen und jetzt habe ich viel nachzuholen.“
Überraschung schwappte über sein Gesicht: „Ich hätte gedacht, du liebst es, bis über beide Ohren in Arbeit zu stecken.“
Tief seufzte sie: „Ja, ja, das Klischee der strebsamen Jura-Studentin, die im Kampf für ihre Wohltätigkeitsorganisation sogar auf Schlaf verzichten würde. Meinst du das?“
Mina konnte sehen, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte: Daniel schaute ertappt auf seine Fingerspitzen. Wieder seufzte sie und fuhr sich durch ihre Lockenmähne: „Das Leben ist nicht so leicht. Ich liebe meine Arbeit, natürlich. Aber am Ende des Tages ist es eben Arbeit. Ich muss das Team koordinieren, ich muss Spender an Land ziehen, egal, ob ich gerade will oder nicht. Ich kenne genügend Menschen, die ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht haben, und die das später bereut haben, weil sie angefangen haben, ihre Leidenschaft zu hassen. So will ich nicht enden. Ich glaube fest daran, mit diesem Verein etwas Gutes zu tun, aber genau deswegen will ich nicht, dass er zu meinem einzigen Lebensinhalt wird und ich alles andere dafür aufgebe. Dann werde ich den Job nämlich früher oder später wirklich hassen.“
Aufmerksam lag Daniels Blick auf ihr. Mina fragte sich plötzlich, ob er sie bisher wirklich immer nur als Streberin gesehen hat, die problemlos wie ein Rädchen im Getriebe funktionieren konnte, ohne jemals eine Auszeit oder gar ein Privatleben zu brauchen. Oder war ihm das Konzept, für seinen Lebensunterhalt arbeiten zu müssen, einfach fremd?
In einer völlig unerwarteten Geste griff Daniel über den Tisch und legte seine Hand sanft auf ihre: „Und heute war so ein Tag, wo du deinen Job hasst?“
Erschüttert von seiner Zärtlichkeit antwortete Mina ohne nachzudenken: „Heute ist einfach alles schräg. Alles.“
„Geht es hier um René?“
Scharf sog Mina die Luft ein. Daniel von Hohenstein war der letzte Mensch auf Erden, mit dem sie ihre Beziehungsprobleme besprechen wollte. Und doch. Seine warme Hand, sein aufmerksamer Blick, der in ihr das Gefühl weckte, als ob er wirklich zuhören wollte, ließen sie für einen Moment alles andere vergessen. Sie sackte in ihrem Stuhl zusammen: „Ja und nein. Wir haben eine Pause, das hab ich ja schon gesagt. Und ich glaube, das kriegen wir auch nicht wieder hin. Insbesondere, weil ich … weil es da … einen anderen Mann gibt.“
Daniel konnte nicht glauben, was hier gerade geschah. Er hatte nur den guten Zuhörer spielen wollen, den Gentleman, der eine Frau trösten und anschließend in sein Bett holen konnte – nicht, dass er letzteres bei Mina wirklich vorgehabt hätte –, aber dass sie sich ihm so öffnete, hatte er nicht erwartet. Und was sollte dieser scheue Blick, den sie ihm zuwarf, als sie von einem anderen Mann sprach? Wieso diese beschämte Röte auf ihren Wangen? Instinktiv begann er, mit seinem Daumen über ihren Handrücken zu streichen. Er hatte sie an der Angel, wie einen Fisch, der zu dumm war, den Köder zu erkennen. Doch ihre Reaktion hatte echtes Interesse in ihm geweckt. War dieser andere Mann, von dem sie sprach, der, an den er dachte?
Die Kellnerin unterbrach den intimen Moment, als sie den Wein brachte und ihre Bestellungen aufnahm. Als sie wieder unter sich waren, schwieg Daniel absichtlich für einen Moment, um nicht zu neugierig zu wirken.
„Einen anderen Mann?“, hakte er dann vorsichtig nach, die Stimme absichtlich leise, um sie nicht zu verschrecken. Er hatte Mina noch nie so offen und verletzlich gesehen, und zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er das vermutlich ausgenutzt, um sie noch tiefer zu verletzen, doch jetzt wollte er nichts dergleichen tun. Im Gegenteil, er wollte mehr wissen.
„Ja“, hauchte sie, den Blick immer noch gesenkt, die Wangen rot, die freie Hand zu einer Faust auf dem Tisch geballt: „Es ist … es ist einfach nicht richtig. Ich weiß, dass ich René verletzen werde. Er wird es nicht verstehen. Niemand wird das. Und bitte zwing mich nicht dazu, auszusprechen, wer das ist. Es ist so schon einfach zu viel. Ich …“
Endlich hob sie den Kopf. Aus großen, braunen Augen starrte sie ihn an, völlig offen, absolut verzweifelt. Daniels Herz setzte einen Schlag aus. Wer hätte gedacht, dass Mina Richter wie jede andere Frau auch schwach werden konnte, wenn es um Männer ging? Sie hatte nie so gewirkt, als ob sie wegen eines Mannes Tränen vergießen könnte oder sich überhaupt tiefere Gefühle erlauben würde. Ihre kaltschnäuzige Auskunft über ihre Beziehungspause mit René hatte diese Ansicht nur verstärkt. Und nun?
Seine Gedanken überschlugen sich. Hatte er mit seinem Charme etwa so schnell solche Erfolge erzielen können, dass sie tatsächlich anfing, Gefühle für ihn zu entwickeln? Er konnte verstehen, dass sie ihm das nicht auf diese Nase binden wollte, ebenso wie er verstehen konnte, dass ihre Freunde sie dafür verurteilen würden. Er hatte eigentlich nur spielen wollen. Genug Vertrauen und Zuneigung gewinnen wollen, um sie davon zu überzeugen, nicht eine Spende von ihm zu wollen, sondern sich vor der Presse mit ihm als Paar zu inszenieren. Der Gedanke, dass sich Mina in ihn, Daniel von Hohenstein, verlieben würde, war einfach zu absurd, als dass er da auch nur eine Sekunde wirklich dran geglaubt hätte.
Aber genau das war anscheinend auf mysteriöse Weise geschehen. Und er konnte nicht anders, als sie plötzlich mit ganz anderen Augen zu betrachten. Seit er sie an der Universität kennengelernt hatte, war sie stets nur ein Jagdobjekt gewesen, ein Mädchen, das er wie so viele andere auch einfangen und kosten wollte. Aber hier vor ihm saß eine Frau, eine echte Frau mit komplexen Emotionen, die so viel mehr war als nur Beute.
„Ist schon gut“, sagte er überfordert, „ich will dich gar nicht zwingen, mir irgendwelche Details zu erzählen.“
Sie schenkte ihm ein gequältes Lächeln: „Danke. Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du das verstehst.“
Daniel atmete tief durch, um sich zu zwingen, seine Gedanken wieder auf das eigentliche Ziel zu fokussieren. Mina musste ihm nicht sagen, wer der Mann war, für den sie René verlassen hatte, da er es sowieso schon wusste. Wichtig war jetzt, dass er seine Karten richtig spielte. Lächelnd erklärte er: „Wir alle sind mehr, als wir scheinen. Ich glaube, wir zwei haben während des Studiums einfach irgendwie nur die negative Seite des anderen gesehen. Vielleicht sollten wir uns die Chance geben, auch mal die positiven Seiten zu zeigen?“
Daniel musste ein Schütteln unterdrücken. Wann immer er seichte Worte herausholte, um Frauen zu becircen, wurde ihm ein wenig übel. Dass solche gefühlsduseligen Phrasen tatsächlich zogen, war doch immer wieder ein Wunder.
Für einen langen Moment blieb Mina stumm, dann erwiderte sie endlich: „Sehr gerne. Ich werde dir schon zeigen, dass ich mehr als ein wandelnder Gesetzestext bin!“
Inzwischen war auch ihr Essen gekommen und Daniel war dankbar für die Ablenkung. Obwohl Mina positiv auf seinen Vorschlag reagiert hatte, hatte er doch das Gefühl, dass sie wieder eine Mauer um sich herum aufgebaut hatte. Als wäre der kurze, intime Moment schon wieder verflogen. Vielleicht war das auch gut so. Emotionale Frauen überforderten ihn meistens, weil er keine Geduld hatte, ihre Tränen zu trocknen. Stattdessen nutzte er die beiden Gerichte, um in eine belanglose Plauderei über ihre Lieblingsspeisen überzugehen.
Erschöpft schloss Mina die Tür zu ihrer Wohnung auf. Das Abendessen mit Daniel war insgesamt positiv verlaufen, sie hatten tatsächlich zivilisierte Konversation betrieben, ohne sich ständig gegenseitig zu attackieren. Trotzdem wäre es ihr lieber gewesen, die kleine Episode zu Anfang auszulassen. Was hatte sie nur geritten, so offen über ihr Gefühlsleben zu sprechen? Nicht, dass sie irgendetwas wirklich gesagt hatte, doch der wissende Blick von Daniel, sein Erstaunen, das sich langsam in Überheblichkeit umwandelte, hatte ihr deutlich gezeigt, dass er ganz genau wusste, wer der neue Mann in ihrem Leben war. Sie betete, dass er diese Information nicht irgendwie gegen sie nutzte. S ie brauchte wirklich keine Öffentlichkeit in ihrem Privatleben, solange sie ihre Gefühle für René und Henrik noch auseinander sortierte.
Außerdem war inzwischen offensichtlich, dass er ein Spielchen mit ihr spielte. Er war innerhalb einer Woche von beleidigend und abweisend übergegangen zu Gerede von positiven Seiten und näher kennenlernen. Obwohl sie sich darauf eingelassen hatte, war ihr nur zu bewusst, dass er niedere Motive für seinen plötzlichen Sinneswandel hatte. Umso gefährlicher war es, ihr Seelenleben vor ihm auszubreiten.
Fahrig öffnete sie die Knöpfe ihres Mantels, wickelte den Schal ab und stellte ihre Aktentasche wie immer auf das Sofa.
„Wie schön, dass du auch wieder nach Hause findest.“
Erschrocken blickte Mina zu ihrer Badezimmertür. Dort stand Henrik, mal wieder nur mit einem Handtuch bekleidet, die Arme vor der nackten Brust verschränkt, und starrte sie finster an.
„Hey“, sagte sie unsicher. Nach der gemeinsamen Nacht war sie immer noch nicht sicher, wo genau sie standen, und das letzte Gespräch, bevor sie sich am Morgen auf den Weg zur Arbeit gemacht hatten, war auch nicht hilfreich gewesen.
„Hey?“, kam es ungläubig von Henrik: „Mehr hast du nicht zu sagen? Wo warst du?“
Sie stöhnte. Wollte er wirklich diesen Weg einschlagen, jetzt schon, noch ehe sie richtig zusammen waren. Frustriert trat sie auf ihn zu und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Wange: „Ich hatte noch Arbeit. Manchmal bin ich abends länger weg.“
Ungeduldig umfasste er ihr Handgelenk mit einer starken Hand: „Arbeit? Ich hatte dich zum Feierabend abholen wollen, aber deine Kollegin hat mich informiert, dass du heute früher nach Hause gegangen bist.“
Wütend wollte Mina ihre Hand wegziehen, doch Henrik hielt sie unerbittlich fest, sein finsterer Blick schien sie förmlich zu durchbohren. Unwirsch erklärte sie: „Ich bin früher gegangen, weil eine Person, die als Spender in Frage kommt, überraschend vorbeikam, um mich zum Abendessen einzuladen. Ich sah eine günstige Möglichkeit, außerhalb meiner Tätigkeit beim FFF dieser Person näher zu kommen. Networken gehört zu meinem Job.“
Der Griff von Henriks Hand wurde fester: „Näher an ihn heranzukommen? Wer ist er?“
„Henrik Zimmer!“, sagte Mina schrill, die langsam wirklich ihre Geduld verlor: „Willst du mir jetzt ernsthaft eine Eifersuchtsszene machen?“
Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hatte Henrik sie herumgewirbelt und gegen den Rahmen der Badezimmertür gepresst. Wütend wollte sie ihn von sich wegstoßen, doch er fing auch ihre zweite Hand mühelos ein. Heißes Feuer loderte in seinen Augen: „Wenn du dich von Anfang an so verhältst, wird es niemals was mit uns, Mina.“
„Falsch“, zischte sie eisig zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Wenn DU so bist, wird es nichts! Was denkst du eigentlich, wer du bist? Ich habe mein eigenes Leben, Henri! Und dazu gehört, dass ich meiner Arbeit nachgehe und mit anderen Menschen zu tun habe. Wenn dir das nicht schmeckt, tut mir leid.“
Ohne Vorwarnung griff Henrik in ihre Haare und zog sie in einen Kuss. Er war nicht zärtlich, sondern fordernd und offensichtlich voller Wut. Kurz kämpfte Mina gegen ihn an, versuchte, ihn von sich zu stoßen, doch als sie erkannte, dass es ein aussichtsloser Kampf war, ließ sie sich auf den Kuss ein. Mit heißem Zorn, in den sich ebenso das leidenschaftliche Verlangen nach ihm mischte, erwiderte sie seinen Kuss, öffnete ihre Lippen für ihn, um seiner Zunge Einlass zu gewähren.
Mit einem wütenden Knurren packte Henrik ihre beiden Handgelenke in einer Hand, pinnte sie über ihrem Kopf gegen den Türrahmen und begann, mit der anderen Hand ihre Bluse aufzureißen. Das Handtuch um seine Hüfte war inzwischen achtlos zu Boden geglitten und enthüllte so den ganzen Zustand seiner Erregung.
„Ich will dich, Mina“, stieß er rau hervor: „Wieso machst du es uns so schwer? Es war immer so einfach zwischen uns. Du hast ich verstanden, ohne dass du fragen musstest. Und ich dachte immer, ich verstehe dich genauso.“
Schwer atmend versuchte sie, ihre Gedanken zu konzentrieren. Das hier war nicht der Henrik, der voller Zärtlichkeit ihren Körper erkundet und angebetet hatte. Das hier war die Seite von ihm, die immer dann zum Vorschein kam, wenn er das Gefühl hatte, dass man ihn ungerecht behandelte. Sie kannte diese Seite nur zu gut – er konnte ganz schön ausrasten, wenn man ihm nicht gab, was er wollte. Kopfschüttelnd beobachtete sie, wie er sich am Reißverschluss ihrer Hose zu schaffen machte. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt.
„Das ist der Unterschied zwischen Freundschaft und Beziehung“, sagte sie langsam: „Als Freunde können wir einander verstehen, ohne alle emotionalen Untiefen kennen zu müssen. Aber in einer Beziehung muss man über alles reden. Über alles. Henrik!“
Überrascht schaute er ihr in die Augen. Es war offensichtlich, dass er so abgelenkt davon gewesen war, die störenden Lagen Stoff zu entfernen, dass er sich kaum auf ihre Worte hatte konzentrieren können. Sie holte tief Luft und versuchte zu ignorieren, dass Henrik vollständig nackt vor ihr stand oder dass ihre Hose und ihr Slip zwischen ihren Schenkeln hing oder dass ihre Bluse aufgerissen ihren spitzenbesetzten BH entblößte: „Wir sind kein Paar, Henri. Ich habe gesagt, ich will es langsam angehen. Ich weiß noch nicht, ob wir beide eine Beziehung eingehen sollten. Du hast kein Recht, jeden Aspekt meines Lebens kontrollieren zu wollen.“
„Aber du hast mit mir geschlafen!“, erwiderte Henrik, der offensichtlich nicht verstand, was sie ihm sagen wollte.
„Wir sind hier nicht im Kindergarten!“, kommentierte sie ungeduldig: „Wenn ich sage, ich bin noch nicht bereit, mich auf das emotionale Abenteuer einer Beziehung mit dir einzulassen, dann hast du das zu respektieren!“
Noch immer hielt er ihre Hände über ihrem Kopf gefangen, doch sie konnte sehen, dass seine Erregung nachließ. Warum verstand er sie bloß nicht? Wärmer fügte sie hinzu: „Ich habe dich wirklich gern, Henri. Als besten Freund und als Liebhaber. Aber wenn ich mich auf eine Beziehung einlasse, dann mit hundert Prozent. Und das will ich nur, wenn ich mir wirklich sicher bin. Ich will dich nicht verletzen. Und ich will auch René nicht leichtsinnig verletzen. Er wird so schon genug leiden. Ich will nicht einfach so eine Beziehung mit dir eingehen und damit René das Gefühl geben, als würde ich ihm ein Messer in den Rücken stechen, wenn ich mir nicht sicher bin, dass etwas aus uns werden kann.“
Schnaubend ließ Henrik von ihr ab. Er bückte sich, um sein Handtuch wieder aufzuheben und erneut um die Hüfte zu binden, dann entgegnete er kalt: „Also geht es wieder nur um René hier. Es ist okay für dich, mit mir zu schlafen, aber lieben kannst du mich nicht? Was bin ich für dich? Eine bequeme Affäre? Ein Freund mit gewissen Vorzügen? Ein Untermieter, der seinen Anteil in Naturalien bezahlt?“
Mit offenem Mund starrte Mina ihn an. Henrik konnte so gehässig sein, wenn er wollte. Verletzt und beschämt richtete sie ihre eigene Kleidung, ehe sie zu einer Antwort fähig war: „Du solltest mir zuhören, wenn ich rede. Gerade weil ich so viel für dich empfinde, will ich nichts überstürzen. Bitte, Henri. Ich will das zwischen uns nicht kaputt machen. Ich will, dass du mein bester Freund bleibst. Und wenn du mir die Zeit gibst, ein wenig mit meinen Gefühlen zur Ruhe zu kommen, dann kann ich mich auch für dich öffnen und eine ernsthafte Beziehung eingehen. Aber dafür brauche ich Zeit.“
Lange starrte Henrik sie bloß an, sein Gesicht eine ausdruckslose Maske, doch schließlich ließ er seine Schultern sinken und legte ihr eine Hand auf die Wange: „Es tut mir leid, Mina. Ich … ich kann ein ganz schönes Arschloch sein. Ich sollte dich nicht so bedrängen. Manchmal vergesse ich einfach, dass … manchmal vergesse ich einfach die Welt um uns herum. Ich hab seit ich denken kann nur gelernt, war diszipliniert und strebsam, um trotz meiner Herkunft etwas zu werden. Und an der Uni haben das dann alle von mir, dem Mega-Stipendiaten, erwartet. Ich will einfach endlich tun und lassen können, was ich will. Ich will mit der Frau zusammen sein, die ich will, ohne mich um andere Menschen kümmern zu müssen. Ich will endlich einmal egoistisch sein und tun, was ich will.“
Ein gequältes Lächeln formte sich auf Minas Lippen. Sie verstand dieses Gefühl nur zu gut. Sie hatten wirklich jahrelang nichts anderes tun können, als Bestnoten an der Uni einzufahren, und das war in Jura ein Vollzeitjob. Die Presse hatte sich zu jeder Gelegenheit auf Henrik gestürzt und sie alle hatten gewusst, wenn er auch nur ein einziges Mal versagte, ein einziges Mal nicht der beste in einer Klausur oder Prüfung war, dann hätte sie ihn hämisch auseinander genommen. Sie verstand wirklich, dass er endlich einmal nur seine Wünsche erfüllen wollte.
„Ich kann das nicht“, erklärte sie, während sie lächelnd seinen Blick festhielt: „Ich wäre gerne in der Lage, mir ganz egoistisch das zu nehmen, was ich will. Aber ich kann nicht. Da ist immer diese Stimme in meinem Hinterkopf, die mich fragt, was wohl René oder Giselle oder meine Eltern oder … sonst wer dazu sagen würde. Ich kann ihre Gefühle nicht einfach so ignorieren.“
Mit einem schiefen Grinsen wuschelte Henrik ihr durch das Haar: „Ja, ich weiß. Dein verdammtes großes Herz. Eigentlich ist das ja auch einer der Gründe, warum ich dich so liebe.“
Seufzend trat er an ihr vorbei, um zu seinem improvisierten Kleiderschrank zu gehen.
„Schön“, sagte er schließlich: „Ich gebe dir Zeit. Aber ich kann nichts dagegen tun, wenn ich von Zeit zu Zeit eifersüchtig oder besitzergreifend werde. Ich will dich, Mina. Vergiss das nicht.“
Erleichtert drehte sie sich zu ihm um: „Das könnte ich niemals. Dafür sorgst du schon.“
Sein herzhaftes Lachen zauberte Mina ein Lächeln ins Gesicht. Sie verstand, dass es schwer für Henrik war, auf sie zu warten. Und sie rechnete ihm hoch an, dass er auch sie verstand und bereit war, sich zurückzuhalten. Trotz des Vorfalls, trotz des Streits hatte sie ein gutes Gefühl bei der Sache. Henrik war immer noch Henrik, ihr bester Freund, der voller Verständnis und Zurückhaltung sein konnte, wenn es angebracht war.