Mit Drachenaugen
Ich liege im Schnee, den Kopf auf die einst so mächtigen Klauen gebettet, die Augen geschlossen. Durch die Spalten meiner gepanzerten Brustplatten entweicht die Wärme.
Mein Körper dampft. Hunderte Grad Kerntemperatur wollen fallen und sich der Schwermut des Winters anpassen, ehe es zu Ende geht.
Dies ist keine Klage, und soll auch keine werden. Ich bin Mutter vieler tausend Drachenkinder, ich kenne Anfang und Ende vieler Jahrhunderte, meine Zeit ist gekommen. Ich gräme mich nicht.
Die unbezähmbare Schönheit der Natur hat mich jederzeit für alle Fehler dieser Welt entschädigt. Auf großen Lederschwingen habe ich jeden Kontinent überflogen, das Fleisch unzähliger Kreaturen verspeist und alle Herausforderungen gemeistert. Der Tod ist nur ein weiteres Abenteuer, den mein Drachenherz nicht fürchtet.
Eiskalter Wind streicht über meine Haut und hinterlässt funkelnde Eiskristalle darauf. Aus halb geschlossenen Augen sehe ich, wie wunderschön sie funkeln. Aus meinen Nüstern dringt Lebensatem. Geisterhaft tanzt er in den Himmel hinauf und entzieht sich meiner Blicke.
Die oberste Schicht des Frostes löst sich, der harte Kern des Winters bleibt.
Der Wind, den ich einst so liebte, der meine Schwingen trug und meine Nase umwehte, ist bei mir. Im Angesicht meines einsamen Todes nehme ich all die Stimmen des Universums wahr, die mir zuflüstern, ich bin nie reicher an Gefährten gewesen, als in diesem Augenblick. Der Wind, der Sternenhimmel, Schnee und Kälte und Stille sind alte Freunde. Sie sind gekommen, um einen Hauch der Wehmut von mir zu nehmen, der unweigerlich naht, wenn das Ende kommt.
Ich lasse sie gewähren, heiße sie willkommen und schmiege mich in ihren wortlosen Gruß. Während mein Kopf schwer auf meine erfrierende Klaue sinkt und meine Augenlider herabfahren wollen, schnellt ein Licht über den Horizont. Einer der vielen tausend Sterne am klaren Nachthimmel hat sich gelöst und in einen brennenden Blitz verwandelt. Zischend, wie eine aufgeschreckte Schlange, rauscht er durch die Nacht. Ein funkensprühender Schweif aus Feuer teilt das vollkommene Dunkel.
Ein Stern fällt herab und zerschellt wie Glas auf Andheras gefrorenem Grund. Dort, wo er die Erde küsst, steigt Rauch auf. Ein Zweiter folgt ihm, ein dritter. Alle Sterne, die am Himmel stehen, scheinen sich lösen und vergehen zu wollen. Der Himmel verwandelt sich in einen Hagel herabfallender Gestirne, die wie brennende Pfeile den Frost vom Grund schmelzen.
Der Widerhall ihrer aufglimmenden Körper weckt ein letztes Mal die Neugier in mir. Ihr Zischen verdrängt die Stille. Das ohrenbetäubende Schweigen ist von Klang und Licht erfüllt. Etwas derartig Seltsames und Schönes habe ich noch nie gesehen.
Verborgene Lebensgeister geben mir die Kraft, den Kopf zu heben. Ich recke den schlanken Hals in die Höhe und überblicke die verschneite Ebene. Aus der sanften, weißen Fläche ist ein Meer dampfender Krater geworden. Am Himmel steht kein einziger Stern mehr.
Die Nacht hüllt sich in vollkommene Finsternis. Nur die Luft knistert. Auf meiner Netzhaut hallen die Lichter nach, die schon lange verstummt sind. Ihre Schönheit hat ein Abbild auf mir hinterlassen, dass ich, würde ich nicht sterben müssen, wohl niemals loswerden könnte. Die Ankunft der Sterne, ihr kometengleicher Fall, bedeutet etwas Großes. Etwas, unendlich viel bedeutsameres, als ich es mir je erträumen könnte.
Ich recke den Kopf weiter in die Höhe und erblicke einen Umriss. Eine Gestalt, die durch die nahtlose Dunkelheit wandert. Ausgestreckte Finger streifen die Halme der steufgefrorenen Gräser. Der Winter kam schnell und gnadenlos. Alles, was ihm nicht entgehen konnte, wurde an Ort und Stelle eingefroren und hat nichts von seiner Schönheit verloren.
Ein Fremder streicht über die Wiesen. Kein ER, ein ES. Ich sehe ihn an und durch ihn hindurch. Ich weiß, wer er ist, weil ich die Form hinter seiner Hülle deutlicher sehen kann, als den Mantel, in den er sich gekleidet hat, um sichtbar zu sein. Er geht an mir vorüber. "Hast du so etwas schon einmal gesehen?", fragt er mich. Ob ich sterbe oder nicht, kümmert ihn nicht. Seine Stimme klingt freundlich, sie klingt bedeutsam. Seine Finger streichen über die erkaltenden Schuppen auf meinem Rücken. Ich erschauder. Diese Geste ist nicht nur für mich bestimmt. Sie gilt allen Drachen Andheras.
"Nein?" Er schmunzelt. "Nun, ich auch nicht. Und ich habe schon sehr viele Dinge gesehen. Ich werde mir das aus der Nähe. Kommst du mit?"
Ein tiefes Grollen entweicht meiner Kehle. Ich bin müde. So müde, dass ich alle Kraft brauche, um den Kopf oben zu halten. Aufstehen? Ihm folgen? Mir die Sterne ansehen? Unmöglich.
"Ich kann dir nicht helfen, alter Freund", dringt die Stimme erneut an meine Ohren. "Aber ich kenne jemanden, der es kann."
Er hebt die Hand, die nicht seine ist, an den Mund und stößt einen Pfiff aus. Wie aus dem Nichts erscheint ein zweiter Umriss in der Finsternis.
"Liebste Schwester", erklingt die alte Stimme noch einmal. "Wie wäre es, wenn du an diesem seltsamen Tag ein Wunder für meinen Freund geschehen lässt?"
Ein Hauch von Wärme fährt durch meine Glieder. Ich spüre eine Hand auf mir, ohne von ihr berührt zu werden. Das altersschwache Herz beginnt wieder zu schlagen. Die kalten Schuppen rücken sich zurecht und füllen sich ein zweites Mal mit Wärme. Ich halte die Augen offen und das Bild wird wieder klarer. Alles, was zuvor im Trüben lag, ist nun ein zweites Mal geklärt. Ich halte den Atem an und tauche ein in diese neue Welt.
Behutsam bewege ich die alten, müden Beine, die nun weder alt, noch erschöpft sind. Ich fühle mich jung. Frei. Grenzenlos. Eine neue Macht lässt dieses junge Herz in mir die Schmetterlingsflügel schlagen. Ich bin so frei, als hätte ich nie einem Drachenkind Leben geschenkt und nie den Fehler gemacht, an den Tod zu glauben.
"Heute ist ein bedeutsamer Tag", sagt die sanfte Stimme wieder und der zweite Schemen verschwindet an ihrer Seite spurlos. Ich weiß, wer das war. Die Quelle des Lebens. Allen Lebens. Jene Hand, die mich am Tag meiner Geburt schon einmal berührte. "Ein Tag der Überraschungen. Kein Tag des Sterbens. Nun komm, wir wollen uns das Ganze aus der Nähe ansehen."
Ich nicke, erhebe mich und trete an seine Seite. Was kann an einem einzigen Blick schon falsch sein, wenn man im Gegenzug ein neues Leben dafür bekommt?