Auch an diesem Morgen warten Ruby und ich am Treppenabsatz wieder auf Hilley. Als sie die Treppe herunter geschritten kommt, wende ich den Blick vom Boden meines Wasserglases ab und schaue sie an. Ruby tut es mir gleich.
"Gut, seid ihr fertig?" Wir beide nicken."Perfekt! Lasst uns los gehen. Wir müssen uns beeilen, sonst schaffen wir die Sachen, die ich für heute geplant habe, nicht mehr", sie klatscht in die Hände und macht sich auf in Richtung Haustür. Ruby und ich sehen uns erst kurz an, doch dann springen wir gleichzeitig von unseren Stühlen auf, als uns klar wird, dass sie nicht wieder kommen und uns noch ein zweites Mal auffordern wird.
Als wir das Haus ebenfalls verlassen haben, steht Hilley schon an der Straße und winkt eine Nightingale heran. Der Kutscher kommt mir bekannt vor und als ich neben Ruby stehe, erkenne ich ihn. Es ist Taylor. Der Kutscher, der uns noch vor wenigen Tagen zu dem pompösen Grundstück hier gefahren hat.
Hilley hält uns die Tür auf und alle steigen ein. Es ist dieselbe Kutsche wie vorhin noch vor wenigen Tagen. Ledersessel, Holztische und vorhänge vor den Fenstern. Eigentlich ziemlich gemütlich, aber trotzdem nicht so ganz mein Geschmack. Ich mag es lieber einfach und bin kein Fan von diesen Luxussachen.
Als die Kutsche anfährt, wirft Hilley jeder von uns einen Kleiderstapel zu. Ich mustere die Kleider und blicke fassungslos von Ruby zu Hilley. Ruby hat den gleichen Gesichtsausdruck aufgesetzt wie ich, was mir zeigt, dass sie weder eine Ahnung davon hat, wieso sie uns diese Sachen gibt, noch weiß was Hilley vor hat. "Und was sollen wir jetzt damit machen? Die Sachen der Altkleidersammlung spenden?", blafft Ruby und sofort ist die Ruby zurück, die ich am See kennen gelernt habe. Die Ruby, die mich am See mit einem Feuerball abwerfen wollte und die immer das von sich gibt, was gerade in ihrem Kopf herum spukt. Doch leider hat sie Recht. Auch ich weiß nicht, was wir damit anfangen sollen.
Die Kleider sind durchlöchert und an einigen Stellen sogar zerrissen. Sie sehen wie die Kleidungsstücke aus, die die Bettler auf den Straßen unserer Städte oft tragen. Doch leider kommt mir die Kleidung auch sehr bekannt vor.
"Nein, die sind für euch. Ihr werdet euch gleich in Schale schmeißen und dann tun, was ich euch sage", erklärt sie. Ruby und ich verstehen beide, was sie meint. "Es sind die Sachen, die auch das Mädchen im Traum getragen hat, oder?", frage ich nachdenklich. "Kein Traum! Eine Vision", berichtigt Hilley. "Ich werde das auf keinen Fall anziehen", ruft Ruby hysterisch aus. "Doch, genau das wirst du tun", sage ich streng. Sie runzelt die Stirn:"Wie kommst du darauf, dass ich irgendwas von den Dingen tue, die du von mir willst?" "Weil ich dich sonst nicht weiter unterweisen werde", sagt Hilley streng. "Was? Das kannst du nicht tun", ruft Ruby geschockt. Ich starre Hilley genauso überrascht an. Das hätte ich echt nicht erwartet. Das nervige Mädchen verdreht die Augen:"Na gut. Dann ziehe diese Obdachlosenverkleidung eben an." Ich trete sie unter dem Tisch gegen das Schienbein.
Wieso ich das tue weiß ich gar nicht so genau. Wahrscheinlich stört es mich einfach wie abfällig sie über die Leute, die auf der Straße leben müssen, äußert. Es stimmt zwar, dass einige von ihnen selbst daran schuld sind, weil sie alles, was sie haben irgendwie verwettet oder verspielt haben, aber es gibt auch viele, die daran nicht selbst schuld sind, zum Beispiel Kinder, die in diese Situation geraten, weil ihre Eltern gestorben sind oder ermordet wurden nun niemand anderen mehr haben. Kinder, die im Waisenheim nicht gut behandelt wurden und sich dort schon immer fehl am Platz gefühlt haben. Kinder wie ich.
Als Nightingale anhält, steigen wir alles schnell aus. Während Hilley sich jedoch noch kurz mit Taylor unterhält, streiche die alten Kleider glatte. Sie erinnern mich an die Kleidung, die ich im Waisenheim oft getragen habe, weil die Betreuer kein Geld für mich ausgeben wollten und merkwürdigerweise haben sie etwas Vertrautes an sich.
"Da sollen wir rein?", fragt Ruby, die neben mir steht, mit zitternder Stimme. Ich hebe den Kopf und erstarre. Vor uns ragt ein großes dunkles Steingebäude auf. Es hat etwas von einem Schloss, aber nicht wie ein Schloss in den vielen Märchen von Rittern und Prinzessinnen, sondern wie eine Festungen mit Folterkammern und Höllenhunden. Um das steinerne Gebäude herum, schlängelt sich ein hoher schwarzer Zaun. Von einer der vielen messerscharfen Spitzen auf dem Zaun tropft etwas Blut. Dieser Anblick jagt mir einen Schauer der Angst über den Rücken. Am liebsten würde ich jetzt meine Beine in die Hand nehmen und so schnell es geht weglaufen, doch das ist leider unmöglich.
Langsam beginne ich mich echt zu fragen wie ich es immer schaffe in solche scheiß Situationen zu geraten!