Obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, vermochte ihr wärmender Schein den dichten Nebelschwaden nichts entgegenzusetzen. Feucht und klamm schlang sich die Kleidung um ihre Träger. Zum Leidwesen jener, die wachten, befand sich zur Frühjahrszeit der Sonnenstand noch äußerst niedrig und wurde dazu unangenehm blendend.
Eindrückende feuchtkalte Winde seeseitig und der hohe Bergkamm rückseitig verhinderten dieser Tage einen austauschenden Luftstrom, der die Nebel auseinander blies. Oberhalb der Turmzinnen stand die Luft nahezu und sorgte für unbehaglich stickige Verhältnisse. Wie ein Stöpsel wehrte die bleiche Suppe die Abwinde ab.
Mit ausgestreckter linker Hand beschattete er seine Augen und kniff sie dennoch geblendet zusammen. Seine von Natur aus gestählten Gesichtszüge ließen sein Antlitz verdrießlich wirken. Bereits seit Tagen bestieg er den Rechten der mittleren Türme und hielt Ausschau nach Zeichen, die seinen Vermutungen Zeugnis boten. Auf seinen Schultern lastete Verantwortung. Verpflichtungen über mittlerweile viele Hundert Menschen, die kamen, um zu helfen die einst glorreiche Metropole wieder zu errichten. Er war es, der vor beinahe einem Jahr einen Trupp von wenigen ins verfluchte Land anführte, um zu finden, was bisweilen niemand fand, gar in der Lage war die Nähe des Fundortes zu betreten.
Annähernd täglich nahten Kolonnen, die nebst Nahrung, Ausrüstung und Material auch von Soldaten begleitet wurden. Diese trafen nicht zum Schutze der Baustellen ein, sie kamen, um die Arbeiter als Geleit zurück in ihre Heimatländer zu führen.
Es waren noch immer harte und beschwerliche Zeiten. Bislang streiften versprengte Einheiten feindlicher Truppen umher, die versuchten sich durch die mittlerweile gesicherten Grenzen zu schleichen, um jenseits rückeroberte Gefilde zu gelangen. Auch galt gemeinhin das Geheiß des Wiederaufbaus. Höfe, Mühlen, Siedlungen und Weiler, gar die alten Gutshöfe und Grenzwachten nach Usnal sollten im einstmaligen Ganzen auferstehen. Der Druck und die Last, die auf einem jeden in den hoffnungslos überfüllten Städten lastete, löste sich schleppend aber beständig. Zu tief saß die Angst.
Trotz, dass der Nebel die alltäglichen Geräusche der handwerklichen Arbeiten auf ein Mindestmaß dämpfte, trüget sein Gefühl ihn in keinster Weise. Nahende Schritte, ganz in der Nähe.
Eine Hand nährte sich seiner Schulter und berührte ihn beinahe zaghaft. Eine weibliche, ihm geläufige Stimme sprach ruhsam auf ihn ein. »Wie lange willst du noch auf ihn warten?«
Er wendete den Blick und senkte die beschattende Linke. »Solange es sein muss.« Seine Worte klangen weder gequält noch gepresst, eher enttäuscht.
Sein Gegenüber verschränkte die Arme, lehnte sich rücklings an die Brüstung und hob abstützend den rechten Fuß dagegen. Der Kopf neigte sich seicht zur Seite und ein Lächeln umschmeichelte liebevoll dreinblickende Züge einer gleichaltrigen Frau. »Du kannst mir nichts vormachen, dafür kennen wir uns zu lange. Du vermisst ihn und vermutest hinter jeder Ecke einen Feind, der auf ihn lauert. Bisher ist immer heil und munter zurückgekehrt.«
Einzig der rechte Mundwinkel verzog sich einen Hauch aufwärts und verbarg seine wahren Gefühle. Sein Blick hingegen sprach von Ahnungen und Dingen, die seine Lippen nicht zu formen vermochten. Er schluckte und schaute ihr direkt ins Angesicht. Seine Augen suchten nach den ihren. Ihrem Tor zur Seele.
Auf dem Wege dorthin passierten diese ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Eine zierliche Stupsnase, eines kleinen Mädchen gleich. Sommersprossen und der Nase angepasst fragile eng anliegende Ohren. Ihre Augen standen leicht schräg abgesetzt und beherbergten stechend grüne Pupillen. Umrahmt wurde ihr Antlitz mit einer rötlich schimmernden Kurzhaarfrisur. Kaum länger als die eines Mannes, absichtlich strubbelig und zur linken Scheitelseite hin abstehend nach vorn gerichtet.
»Du machst dir zu viele Sorgen. Er war doch schon immer eigensinnig, stur und einige Tage unauffindbar. Mehr oder weniger gewollt.«
»Du hast wohl recht, aber ...«
»Nichts aber«, unterbrach sie. »Er vertraut dir, wie seine Leute ihm vertrauen. Du bist der ›Falke‹ und deine Sorgen sollten nicht nur deinem Bruder gelten.« Sie stieß sich ab, führte ihn zur gegenüberliegenden Seite des Turmes und lenkte sein Augenmerk in die Tiefe. »Sie sind nicht nur hier um Aardale freizulegen und wieder zu dem zu machen, was es einst war. Sie sind deinetwegen hier. Du bist der ›Falke‹. Ihr Leitbild. Ihr Befreier und Anführer, zu dem sie aufblicken.«
Seine Hände legten sich auf die Brüstung und er schob den Blick weit darüber hinaus. Was sich unterhalb der Zinnen tat oder bewegte, blieb schemenhaft und eigenartig verzerrt. »Mmh, du hast natürlich recht, jedoch habe ich mir nicht ausgesucht zu sein, was man mir aufbürdete. Ich werde dennoch versuchen, das Beste daraus zu machen. Allerdings befürchte ich, dass die Zeit nicht ausreichen wird, bis Thule Wind von alledem hier bekommt. Unser Schauspiel wird sie nicht ewig täuschen und dann ...«, er schwieg.
Arme, bis zu den Oberarmen frei von Kleidung und Stulpen umschlangen seinen noch immer gebeugten Oberkörper. Hände umschlossen sich vor seinem Bauch und ein Kinn schmiegte sich auf seine rechte Schulter. Sie roch nach frischem Flieder und er genoss ihre Nähe. Seine starre Haltung entkrampfte spürbar und nickte zustimmend. Ein Hauch warmen Atems säuselte um sein Ohr. »Denke doch nur daran was Du bisher alles erreicht hast. Wie es war, als ihr zwei noch klein und unbeschriebene Jungs wart. Was ihr erleben durftet. Der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten.«
Er konnte nicht umhin, schloss die Augen und lächelte. Er glaubte weitere Worte zu hören, verstand sie jedoch nicht mehr. Seine Gedanken schweiften in die Ferne ...