Alric sah zuerst zu seinem Vetter und hoffte wohl, dass dieser im Riet. Alna rang noch immer mit der Fassung. Gewissenhaften Beobachtern entgingen nicht ihre zittrigen Schultern. Veyed schaute trotz der Tragweite, die ausschließlich ihn betraf, aufmunternd drein. Und sein Bruder? Dessen Augen zuckten nahezu im Takt mit seinem Kinn. Seine Haltung verriet, wie sehr ihm das Gesagte bedauerte. Womöglich suchte er nach einem Ausweg, sich der Situation zu entziehen.
»Um auf deine Frage antworten zu können, muss ich weit ausholen und versuchen euch zu erklären wieso und wozu das Ganze. Es gibt viel zu berichten und hoffe ihr seid nicht zu müde?« Ihr Onkel wappnete sich und bedrängte die getrübte Stimmung.
Der Ältere der Gebrüder verneinte kopfschüttelnd, der Jüngere ließ noch immer den seinen hängen. Es schien ihm sichtlich peinlich.
»Komm schon Kayden. Dass was ich zu erzählen habe, sollte euch beide interessieren. Kopf hoch und sei aufrecht, in Ordnung?«
Veyed sah hinüber zu ihm, raffte sich und hob die Rechte ausgestreckt. »Los kleiner Bruder, ich habe doch angefangen und es tut mir leid.« Angesprochener hob die Brauen und schielte hervor. Seine Stimme klang fipsig. »Ehrlich?«
»Ehrlich.« Seine Aussage bekräftigte er mit einem Nicken. »Ich weiß, dass du auch so fühlst. Wir sind schließlich Brüder.«
Alna legte ihm beschwichtigend eine Hand auf die hängende Schulter und drückte sie sanft. Der junge Heißsporn sah endlich auf, wechselte Blicke mit seinem Onkel, seinem Vater und tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand an die Unterlippe. Er wippte mit dem Kopf und schlug dann die Dargebotene ein. »Aber nur weil ich dich doch irgendwie mag«, gab er kleinlaut von sich.
Alric lächelte und senkte zustimmend die Lider.
Seine Hände vollführten beinahe akrobatische Übungen, als diese Vögel und seine Arme deren Flugbahnen nachahmten. Er beschrieb ihnen, wie viele verschiedene Arten es einst gegeben haben solle. »Habt ihr zwei schon mal mehr als nur die Hühner hier auf dem Hof gesehen? Mehr als nur diese Kleinen, die flink von links nach rechts huschen? Vögel auf breiten Schwingen, die aus den Lüften heraus zur Jagd ansetzen und den Bauern die Nager von den Feldern fernhalten?« Seine Worte waren so voller Elan und ansteckend, dass sogar Klarich aufmerksam lauschte und dezent nickte. Seine Lippen formten still und wortlos nahezu die gleichen, wie sie Onkel Alric in Laute kleidete.
Er führte an, jene zu meinen, die wie Pfeile aus hohen Höhen herabstürzten, um ihre Beute mit Klauen zu greifen. Jene, die krächzend ihre Wildheit kundtaten und mit ihren gespreizten Flügeln eine Länge von mehr als einer Elle erreichten. Es gab sie in schierer Zahl und verschiedensten Größen. Die größten ihrer Art bemaßen sich von Flügelspitze zur Flügelspitze mit nicht weniger als zwei Ellen. Von eben jenen Tieren sprach und träumte er. Es waren die Adler, die Bussarde und auch die Falken die vom Himmel fielen, als Thule seinen Vormarsch begann. Sie bekämpften die Moral des Volkes, indem sie ihnen ihre Leittiere nahmen.
Er erklärte den beiden, dass der hiesige Hof, in welchem sie lebten und wohnten, einst eines der wichtigsten Umschlagplätze des Handels gewesen sei. Begonnen mit einem bescheidenen Wohnhaus, ähnlich diesem, begann eine Familie namens Berengar an seiner Grundposition bereits lange vor Gründung der bekannten Reiche zu arbeiten. Ihre Anfänge nahmen sie gemeinhin als einfache Bauern, die den Vorteil genossen, das wohl fruchtbarste Land bestellen zu dürfen. Sie pflanzten nicht nur Getreide und Erdknollen wie derzeit üblich. Auf den Feldern gediehen verschiedenste Arten von Gemüse, die regelmäßig in den Handel flossen und so manche Münze und Schuld wechselte in deren Besitz. Sie leisteten sich helfende Hände, die sie nährten und resultierend ihren Einfluss ausdehnten.
Mehr noch. Nachdem einzelne Siedlungen, große Familien mit weitläufigen Erblinien, Weiler und Städte sich zu Ländern gar zu Reichen zusammenschlossen, erkannte eben jene den Bedarf nach soliden Baumaterialien. Die Berengar schlugen kräftige Bäume im angrenzenden Rabengehölz und lieferten weiterverarbeitbares Gestein aus den Sandsteingruben. Die üppigsten Gewinne hingegen erzielten sie mit dem härtesten Holz, welches bisweilen bekannt war. Steinholz aus dem ›flüsternden Wald‹.
»Häh? Moment mal«, ereiferte Kayden und zeigte mit ausgestreckter Hand in eben jene Richtung, in welcher sich besagte Ausläufer befanden. Seine Stimme klang aufgebracht. »Nichts und niemand wagt sich auch nur in die Nähe. Dort leben Geister und grauenvolle Kreaturen. Sie wandern zwischen den Bäumen umher und die, die es nicht wissen werden wahnsinnig. Sie sind tot, wenn sie gefunden werden.«
Klarich verschränke die Arme vor der massigen Brust und nickte anerkennend. Seine linke Braue hob sich und in seinen Augen begann es zu funkeln. Die Jungs wussten, sobald sie diesen besonderen Glanz, dieses Glitzern, in den Augen ihres Vaters bemerkten, war es beinahe schon zu spät. »Mmh, so erzählt man und viele dieser Geschichten entsprechen ganz gewiss der Wahrheit.«
Kayden schluckte in Erwartung einer bevorstehenden Schelte. Der mahnende Blick jedoch galt nicht ihm, sondern seinem Onkel und so entwich ihm ein nicht zurück zu haltender Jauchzer. Der linke Mundwinkel seiner Mutter schob sich kaum merklich nach oben und eine Falte entstand an ihrem linken Auge. Zwinkerte sie ihm gerade zu?
Auch Veyed entging es keinesfalls, verhielt sich dessen ungeachtet so, als bemerke er es nicht. Klarich fixierte seinen Vetter und die Temperatur im Raum kühlte fühlbar ab. »Es gab aber auch eine Zeit, in welcher es einigen Wenigen erlaubt war, in eben jenem Wald Holz zu schlagen. An vorbezeichneten Orten in vorbestimmten Mengen.«
Den Jungs war deutlich anzusehen, dass sie kein Wort von alledem glauben schenkten, allem voran Kayden behielt die Stirn Kraus gezogen, bewahrte sich jedoch jedweden Kommentar. Diesen seltsamen Wald umgab etwas, das wussten beide. Etwas dass unaussprechlich schien und dafür sorgte, dass es ihrem Vater nahe ging.
Alric tat es seinem Vetter gleich, rückte sich auf dem Stuhl zurecht, zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und fuhr unbeeindruckt fort.
Der Familie schlossen sich nach und nach weitere helfende Hände an, die unter dem Schutze geworbener Söldner standen. Das Haus der Berengar wuchs nicht nur in ihrer Anzahl Angehöriger, es gewann länderübergreifend an Bedeutung und kontrollierte vielerorts den Handel - wenn auch gerecht den kleineren gegenüber. Ihre unbestrittene Macht symbolisierten sie Jahre später in Form einer Burg, einem Vorposten gleich und verstärkten mit eigenen Soldaten, einstmalige Söldner, den Schutz des gesamten Umlands. Das Wappen ihrer Gewänder und Banner zierte ein Handelskarren, auf dem stolz das Leittier des ›Falken‹ thronte. Die Tragweite wie das Zeichen, welches sie damit setzten, galt als herausragend und bedeutend. Sie erwogen kein ein eigenes und unabhängiges Reich oder waren einem Einzigen untertan. Sie fühlten sich dem großen Ganzen zugehörig. Das Haus Berengar unterstand keinem der sieben Hoheitsgebiete, galt stattdessen als frei und bekleidete einen Platz im Rat der Herrscher.
Niemand außerhalb der federführenden Köpfe jener Familie vermochte mit Bestimmtheit zu benennen, über welche Truppenstärke sie zu Glanzzeiten wahrhaftig verfügten. Spekulationen zu urteilen nicht weniger als zwei Rotten und ebenso vielen Schwärmen.
Kurzum, das umfassende Gelände, beginnend der Ackerflächen bis hinab zu den Sandsteingruben und heran an den Rand des ›flüsternden Waldes‹ war Freiland und unterlag dem Geheiß des Hauses der Berengar. Den Rest Agreas, diesseits wie jenseits der hiesigen Ansprüche teilten sich zwei Adelsgeschlechter. Die Ländereien im Norden gehorchte dem Wort der Myrefall, wohingegen jene im Süden sich der Tamaronds fügten.
Kommend aus Usnal, der Hochebene, gabelte sich Zuwegung und Hauptstraße zu den Großstädten Memnach und Holmfirth. Die Dreiländergrenze, wie man sie im Volksmund nannte, hielten die Soldaten beider Reiche gemeinsam besetzt und unterhielten zur Sicherung jeweils einen Vorposten. Ein scharfes Auge vermochte den Gruß auf den Zinnen der Nachbarsburg erkennen und so verständigten sich deren Besatzungen über die Ferne hinweg. Was die einen sahen, wurde den anderen mit Fahnen- und Blinkzeichen übermittelt.
Abermals war es der Jüngere beider Knaben, der Einwand hegte und seinen Wissensdurst zu stillen verlangte. »Was sind Blinkzeichen?«
Die linke Braue Klarichs hob sich ein weiteres Mal, als ihn eine Vorahnung beschlich, und öffnete bereits den Mund, als ihm Veyed zuvorkam. »Weißt du überhaupt etwas? Onkel Alric hat das schon mal erzählt, überleg doch mal.«
Bevor die beiden sich begannen zu plänkeln und wiederholt unschöne Worte folgten, hob benannte Person beschwichtigend die Hand. »Lass gut sein, die Frage ist berechtigt und der Abend fortgeschritten«, besänftigte Alric und erntete dankende Gesichtszüge des jüngeren Neffen.
Blinkzeichen wurden zur Nachtzeit genutzt, sowie Fahnen am Tage Informationen von der einen zur anderen Feste überbrachten. Die Soldaten nutzten zumeist eine Kerze oder Fackel, deren Schein sich auf einem polierten Untergrund brach. Je nachdem wie dieser gehalten oder verdeckt wurde, entstanden Signale, die wiederum andere verstehen konnten.