Eine gefühlte Ewigkeit saßen sie nur da und blickten unmutig drein. Auch wenn Alric es vollbrachte die unschöne Situation zu entschärfen, schwängerte das Gesagte die Luft nachhaltig.
Alna sortierte ihr weniges Geschirr und Besteck von der einen auf die andere Seite und polierte es währenddessen erneut. Klarich drehte zum unzähligsten Male seinen Becher und stierte auf die Wellen seines Getränkes darin. Und Alric? Dieser hingegen beobachtete seinen Vetter. Kaydens Vorwurf hatte sie zutiefst betrübt, wohl wissend, dass jener Tag unausweichlich bevorstünde, an welchem sie mit eben dieser Frage konfrontiert werden würden. Sein Augenmerk richtete sich erneut zum Kamin.
Klarich stellte seinen Becher vor sich und schnaubte. »Genug getrübt. Wir sollten besprechen, wie es weitergeht. Wir können Kays Vorwurf nicht ewig vor uns herschieben.« Sein Blick heftete sich an den Alrics und wurde eisern.
Alna trat Rücken deckend hinter ihm und stützte ihre Hände auf seinen breiten Schultern. »Ja, aber wie?«
»Vetter. All die Jahre über, hast du geschwiegen und wir haben dich nie bedrängt. Es ist an der Zeit, uns endlich zu beichten, woher du das Mündel hast und vor allem wer seine Eltern waren oder womöglich sind.«
Alna, erschrocken, welch Kühle ihr Geliebter fähig war, drückte unbewusst zu und weitete die Augen. Ihre Stimme glich einem Hauch. »Sie, sie leben noch? Hast du ihnen das Kind geraubt?«
Angesprochener wendete unnahbar den Blick, kein Anzeichen von Reue war darin zu lesen und sein linker Mundwinkel zuckte kaum merklich aufwärts. Seine Brust hob und senkte sich und ein deutlich zu vernehmendes Stöhnen entwich ihm. Seine Augen hefteten sich abermals auf das zur Zierde hängende Schwert. »Ihr zwei.« Wiederholt verlangten seine Lungen nach einem tiefen Atemzug. Er schüttelte mit geschlossenen Liedern das Haupt. »Erinnere dich Klarich.«
»An was Alric? An was soll ich mich erinnern?«
Angesprochener griff zu seinem Becher und trank. Dass das Gefäß in seiner Hand inhaltlos war, schien ihn nicht zu stören. Er suchte sichtlich nach Worten und sprach weiter, den Kopf weiterhin gesenkt. Alna trat näher heran und lieh ihm ihre Hand. Tröstend fand sie auf seiner linken Schulter halt. »Als Waise wuchs ich bei meinem Großvater auf. Einem geschlagenen und verkrüppelten Veteran der Invasion. Die Bastarde schlugen ihm ein Bein ab, als er sich weigerte, das Banner des ›Falken‹ zu verbrennen.« Er hob den Kopf und in seinen Liedern schimmerte es feucht. Vermutlich das erste Mal in seinem Leben, erfuhr er, was es bedeutete, sein Leid mit vertrauten Personen zu teilen. »Könnt ihr erahnen, was dieser Mann durchmachen musste? Mit einer schartigen Klinge, besudelt mit dem Blut vieler, hieben sie mehrfach zu. Sie lachten und höhnten ihn. Sie spuckten auf ihn, doch des ›Falken‹ Banner gab er nicht frei. Mehr noch als dem Banner harrte er über den wahren Schatz, welchen sein Körper verbarg.«
Diesmal war es Klarich, der den Blick hob, um das Werk seines Vaters zu betrachten. Es hing, wo und wie es stets hing, seit dieser es dort vor vielen Jahren aufhängte, und verbot Hand anzulegen. »Ich erinnere mich an die Worte und an jene, die seine bestätigten. Dein Großvater, Bruder meines Großvaters, war mir ebenso nahe wie dir. Sie hatten viel gemein, nur das der meine nicht an direkter Front sein Mann stand. Er kam gesund von Bord der ›Albatros‹ und starb nur wenige Jahre nach deinem. Auch wenn sich nach alldem so manches zum Schlechteren veränderte, war deinem Großvater mit einundsechzig Lebensjahren ein langes Leben beschieden.«
Alric nickte und verzog erneut die Mundwinkel. »Kannst du dich auch erinnern, was geschah als die Front vollends viel? Als der geschlagene Rest unserer einst stolzen Armee zurück zu ihren Familien kroch? Als die Matrosen zusahen, wie sie ihrer Schiffe enteignet und gezwungen wurden ihnen beim Brennen zuzusehen?«
Er wartete nicht auf eine Antwort und fuhr in seiner monotonen Darlegung fort. Klarich und Alna hegten das Gefühl, das ihr Vetter versuchte auf Umwegen zu berichten, wie er einst zu jenem Kleinkind kam - es gab anscheinend keine einfache Erklärung. Veyed, das Findelkind, welches Alric eines Tages im Arm trug und in die schützende Umarmung Alnas legte. Jenes Kind, welches sie über die Jahre hinweg wie ihr Eigen aufzogen, und lernten nicht minder zu lieben.
Es war keinem fremd, was nach dem Krieg geschah oder sich änderte. Oft genug saßen sie bei den Eltern wie Großeltern und lauschten abendlichen Geschichten. Dennoch besaßen sie ausreichend Anstand, ihren Vetter nicht zu unterbrechen. Er brauchte Zeit ihnen seinen Weg zu offenbaren und eben diese sollte er nutzen und so fuhr er fort.
Die herrschenden Adelsfamilien wurden von aufsteigenden Machthabern aus den Reihen der Invasoren aber auch aus Speichelleckern des Inlandes ersetzt, die sodann begannen Recht und Ordnung wieder herzustellen. Aus welchen Blickwinkeln heraus blieb zweifelsfrei umstritten. Jene, die sich verweigerten und als rebellisch galten, wurden wie einst die Vögel gejagt, gefoltert und nicht selten getötet. Umgangssprachlich wurden diese als vogelfrei bloßgestellt. Zu meist waren es eben jene, welche am Wegesrande aufgeknüpft oder gepfählt Schritt um Schritt zierten.
Als die Veteranen, die Großväter den Vätern wichen, sprach man nur noch hinter vorgehaltener Hand von vergangenen Tagen. Tagen, an welchen der Adel und Hochadel dem Volk noch Gehör schenkte. Unmut klärte und Ingrimm beilegte. Recht und Ordnung gesprochen, nicht verbrochen wurde.
Inzwischen waren sie selbst Mütter und Väter von der bereits nächsten heranwachsenden Generation und die Hoffnung auf Erlösung schwand mit jeder dahinscheidenden.
Immer wieder keimten Gerüchte in den Straßen und den Schenken der Armen über Vorstöße und Überfälle vogelfreier. Die einst großen Häuser, obwohl beflissentlich versucht auszumerzen, hegten auch nach Jahren der Niedertracht einen Funken Hoffnung auf ein Leben in Freiheit. Die Sehnsucht nach längst vergangenem, aus Zeiten, derer Geschichten ihre Großväter erzählten, war ihr Bestreben und so schmiedeten sie Ränke um Ränke.
Niemand vermochte zu sagen wie und wo sich mögliche Nachkommen jener Familien aufhielten oder Unterschlupf fanden, noch inwieweit diese in der Lage waren zu operieren. Selbst ein vermeintlich armer Bettler, der seinen Durst in trüben Lachen der Wege stillte, konnte einer der ihren sein. Ihr Leben führte sie durch schmerzliche Lehren und Entbehrungen. Schmach, Schande und leid wurden zu ihren täglichen Begleitern und so verkrochen sie sich in schmutzigste Löcher, um verwertbare und womöglich wertvolle Informationen zu erhaschen.
Einer Weissagung zu urteilen, bestünde ein Tag bevor, an welchem die Vögel beginnen im Sturm zu fliegen. Das Volk werde sich um das Banner scharen und einer Sinnflut gleich über das Land hinwegfluten. Es hieße, die Raubvögel suchten nach einem Kind, eines, welches das Mal trage. Ob und inwieweit dieser Klatsch einem wahren Hintergrund Verfolgte, blieb bisweilen unbewiesen. Die Obristen nahmen die Voraussage zum Anlass, das Volk weiterhin zu malträtieren und jeden Vogel, der größer als eine Handvoll wuchs, zu töten. Sie ließen Kinder aufspüren, welche als Nachkommen einstiger Adelsgeschlechter verdächtigt werden konnten. Nachfahren einstmaliger Veteranen und hochgestellten Familien wurde kaltblütig nachgejagt und vielerorts aufgegriffen. In Scharen ritten die Schergen Thules aus, um dem Geheiß folge zu leisten. Auch wenn so mancher unter ihnen nicht freiwillig tat, wozu man ihn zwang, war die Angst sein eigenes Leben zu verlieren zu groß.
Die angebliche Überlieferung umschrieb ein Blag mit einem Mal, nicht jedoch, wie dieses aussah oder worauf zu achten blieb; welche Ausmaße es einnehmen würde, noch wo es zu finden sei. Folglich suchten sie nach der berühmten Nadel im Heuhaufen. Irgendetwas bei irgendjemandem an irgendeinem Ort zu unbekannter Zeit. Ein unförmiges Muttermal, eine auffällige Narbe, einfach alles was nach Gesuchtem hätte aussehen können, nahmen sie zum Anlass, der jeweiligen Familie zu entreißen. Jene, deren Mal von einem Obristen eindeutig als unbegründet bezeichnet wurde, durfte gehen, wohin immer es ihm oder ihr beliebte. Nicht minder wenige fanden den Weg niemals zurück. Es gab zuweilen viele, die aufgrund ihrer gierigen Gelüste nach Jungfräulichkeit, egal ob Mädchen oder Junge, nicht von ihnen lassen konnten und wollten. Andere hingegen, jenen, deren Mal mit hinreichender Fantasie als Symbol, als Zeichen zu erkennen war, führte man der öffentlichen Hinrichtung zu.
Alric verstummte und starrte aus leeren Augen. Es war sein Vetter der Aufstand, ihm seinen Becher füllte und an die Lippen hob. Aufmunternd nickte er ihm zu und begab sich zurück in die wohlige Umarmung seiner geliebten Frau. Alric trank in kurzen Zügen und umklammerte den Becher mit beiden Händen, als er seine Erzählungen wieder aufnahm. Er berichtete von Memnach und was ihn dort widerfuhr, bevor er Bestlin kennenlernte.
Es blieb einzig den Obristen vorbehalten, Gericht über ausfindig gemachten zu sprechen und über das Ausmaß der erfolgenden Bestrafung zu entscheiden. Der Urteilsspruch hingegen, blieb stets der gleiche. Lediglich die Art der Hinrichtung wechselte, je nach Vorlieben und dem entgegengebrachten Entsetzen der Bevölkerung. Es gab nur den schnellen und den leidvollen Tod. Enthauptung oder Scheiterhaufen. Wurde dem Obristen das Volk zu überdrüssig, die Überfälle und Gewalttaten auf Ordnungshüter zu häufig, gab es eine weitere Methode. Eine bei derer man ausschließlich Frauen nötigte beizuwohnen.
Ordneten die Wachhabenden übermäßige Wachgänge mit erhöhter Anzahl Schwadrone an und forderten die Männer der Stadt zu Außeneinsätzen auf, stand ein solches Ereignis unmittelbar bevor. Es war bis auf Angehörigen der Gerichtsbarkeit und zu deren Schutz abgestellte, keinem männlichen Anwohner erlaubt, Memnach zu betreten gar innerhalb seiner Mauern zu verweilen.
Alrics Becher viel klappernd zu Boden, als er sich die zittrigen Hände vors Gesicht hob und seine schon schwer lastende Stimme klagend aufheulte. Immer wieder schüttelte er den Kopf. »Sie verabreichen ihnen ein Mittel, welches die Sinne raubt und Schmerzen unterdrückt.«
»Sch...« Alna schlug ihre Arme um ihn und hielt ihn fest. »Sprich nicht weiter.«
»Sie schlitzen sie auf, hört ihr?«
Mit geweiteten Augen sah sie hinüber zu ihrem Mann und ihre Lippen öffneten sich fragend.
»Bei lebendigem Leibe schneiden sie ihr Bäuche auf und wühlen mit ihren krankhaften Klauen in ihnen herum.« Seine Stimme brach vollends und er rutschte haltlos vom Stuhl. Alric, stets hart im Nehmen. Der Unnahbare, der Unerschütterbare, weinte. »Vor Müttern und welchen die es noch werden wollen, reißen sie ihnen die Herzen raus!«