»Falke.«
Angesprochener nickte, hob den Blick und verzog staunend die Brauen. »Der Bataillonshauptmann Memnachs.« Er trat auf ihn zu, hob die Arme und beide umarmten sich in Freundschaft. »Was führt dich nach Damerel, Ogriir?« Er deutete hinüber zu den Stufen.
»Die Rückführung unserer Leute. Die Ernten stehen bevor und das Land selbst verlangt nach Aufmerksamkeit. Es gibt viel zu tun, und wenn es allein nach dem Willen jener ginge ...«. Mit der Hand zeigte er abseits des Turmes, ließ den Satz jedoch unvollendet, als er seines gegenüber nicken bemerkte. Dieser verzog zudem die Lippen kraus und kaute sichtlich auf der Innenseite seiner Wangen.
»Ich habe um Hilfe bei den Grabungen gebeten, nicht darum, dass die Leute in Heerscharen auflaufen. Es wäre vermessen zu behaupten, sie seien mir und dem Gelingen nicht außerordentlich wertvoll. Demnach bin ich ihnen dankbar.«
»Wurde mir berichtet. Nun jedoch ist es an der Zeit, sie zurück nach Hause zubringen, auch wenn ich zuversichtlich bin, ein und dieselben im kommenden Jahr wieder hier vorzufinden.«
Gemeinsam betraten sie das zu einem Wohnraum hergerichtete Turmzimmer und traten hinüber zu einem ausladenden Tisch. Dessen Oberfläche war nicht zu erkennen, fanden sich auf jeder freien Fläche Notizen und Zeichnungen. Auf einer dem Anschein nach uralten Karte des Landes wurden jene Stellen bezeichnet, an welchen Grabungen stattfanden und auf einem Gegenstück der Darstellung notiert, was man wo fand. Das schiere Durcheinander schien weder Ordnung noch Struktur zu verfolgen, jedoch war es bemerkenswert, an wie vielen Orten dieses riesigen Geländes bereits die Schaufel angesetzt wurde. Vielerorts mit Erfolg. Egal um was für ein Fund es sich hierbei handeln möge, dieser war kolossal und deckte sich einfach nicht mit der Annahme, es handle sich um eine Festung.
»Wenn es genehm ist, möchte ich eine persönliche Frage einräumen.«
»Daher weht der Wind. Deine Reise war also nicht ganz uneigennützig«, stellte der ›Falke‹ zweckmäßig und ohne aufzublicken fest.
Die rechte Wange des Hauptmanns zuckte und seine ebenso rechte Hand kreiste über den verstreuten Unterlagen. »Ich bin nicht von hier, komme nicht einmal aus diesem - deinem - Land, geschweige denn aus einem, welches diesem angrenzt. Dennoch war ich niemals unvoreingenommen und ließ mich vor vielen Jahren von einem jungen Mann eines Besseren belehren.«
»Und dank dieses jungen Mannes und vielen anderen Menschen, die wie du Mut bewiesen, schafften wir es unsere Freiheit wiederzuerlangen. Das Volk erkannte, wenn auch mit Nachdruck, die Wahrheit und lernte, die Nachkommen einstiger Invasionsstreitkräfte mit anderen Augen zu betrachten. Ogriir, ich war dabei. Bitte, du gehst als Memnachs Bataillonshauptmann einen langen Weg, um mir was mitzuteilen.«
Der damalige Wachhabende der Stadtwache sah in einen fragenden Ausdruck mit hochgezogenen Brauen. Er rümpfte die Nase und schniefte. Er begann dem ›Falken‹ zu berichten, was er über Aardale und Damerel in Erfahrung brachte, seitdem man ihm Zugang zu den alten Bibliotheken zusprach. Niederschriften und Karten, angeblich aus dem Besitzstand der Myrefalls selbst gelangten auf geheimnisvollen Wegen in dessen Hände. Seiner Ansicht nach konnte es sich bei diesem Grabungsgelände nicht um die sagenumwobene Stadt handeln. Er ging sogar soweit, zu behaupten Aardale sei ein Possenspiel des damaligen Hochkönigs. Seine Feinde sollten in die Irre geführt werden und diese prachtvolle Großstadt mit ihren Mauern und Türmen habe es niemals gegeben. Einzig in der Stadt der Zwillingstürme könnte mit Bestimmtheit in den Annalen nachgegangen werden, um die wahre Existenz zu begründen.
»Marathea verweigert jeglichen Zutritt und weist jedwedes Gesuch von sich. Selbst die Schwergen Thules schafften es bisweilen nicht, Fuß in diesem Land zu fassen.«
»Zu Recht.«
Ogriir führte weiter an, dass die Position dieses Fundortes, der Turm und alles Drumherum, nicht zur beschriebenen Lage der Stadt passen könne. Aardale sollte zwar an einem Berghang errichtet worden sein jedoch nicht an einer zerklüfteten Klippenlandschaft, wie sie vor ihnen thronte. Den Turm, den er und seine Begleiter vor etwa einem Jahr fanden, sei nichts weiter als die Behausung irgendeiner okkulten Obrigkeit, wie die Einheimischen vermuteten. Aus welchem Grunde würde dieser sonst all die Jahre beinahe unbeschadet überstanden haben. Auch wenn in den Grabungsstellen Zeugnisse längst verfallener Gebäude gefunden wurden, es waren keine gepflasterten Straßen, keine unüberwindbaren Mauern und keine Festung, die den Erzählungen nach Platz für drei Korps bot.
Der skeptische Hauptmann fand kurzerhand eine Hand auf seiner Schulter ruhen und verstummte. »Ich weiß, dass es nahezu verrückt klingt. Wiederum weiß ich auch, dass dein Volk an für unsere Begriffe Unnatürliches glaubt. Dinge die unter den meinen als absurd abgegolten werden, gelten bei den deinen als allumgänglich. Stell dir diesen Berg da draußen nicht zerklüftet vor, sondern ebenmäßig und bewachsen.« Mit der freien ausgestreckten Hand zeichnete er die Umrisse nach. Wir wissen noch nicht, was passiert sein muss, aber dieser gesamte Hang dort ist nicht mehr, wo er hingehört. Die bloßen Massen haben scheinbar ausgereicht, all das hier unter sich zu begraben.« Seine Linke ruhte nun über einer Zeichnung, wie Aardale einst ausgesehen haben soll.
»Du bist unverbesserlich. Du willst daran glauben, dass du die Stadt der sieben Reiche gefunden hast.«
Er lachte und knuffte seinen Freund. »Wäre ich das nicht, stünden wir heute vermutlich nicht hier.« Ein paar der wirr liegenden Unterlagen legte er aufeinander und versuchte Ordnung in das vermeintliche Chaos zu bringen. »Erzähl, wie steht es um Memnach und wer gewährleistet während deiner Abwesenheit die Sicherheit«, begann er das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Er wollte, nein er konnte nicht weiter darauf eingehen, wolle er nicht über Dinge sprechen, die er selbst nicht verstand. Dennoch, sie waren gewesen und es gab unzählige Gläubiger. Aus allen winkeln der Länder schwoll die Anzahl derer Berichte an, die Zeugnis ablegten.
Erleichtert seinen Vorwurf nicht persönlich genommen zu haben, war Ogriir für den Themenwechsel dankbar. Seine Augen wirkten gelassener und ein seltsamer Glanz spiegelte sich in ihnen. »Es geht voran. Die Straßen und Wege werden stetig sauberer, seitdem die alten Zu- und Abwege der Abzugsgräben wieder geöffnet wurden. Der Schein kann trügen, aber es kommt einem so vor, als würde es von Tag zu Tag Heller in Memnach. Selbst das Blau des Himmels scheint satter als zuvor.« Er klopfte sich auf seine Rüstung. »Abgesehen von meinem.« Stolz hob er den Blick. »Ein ehrenvolles Geschenk, wenn auch Alt und abgewetzt.«
Der ›Falke‹ nickte mit erhobenen Brauen. »Wer gewährleistet während deiner Abwesenheit die Sicherheit? Die Schattenjäger halten sich derweil überwiegend in Holmfirth auf, sie sind es gewiss nicht.«
Ogriir verzog vorwurfsvoll die Lippen, neigte den Kopf und massierte sich mit der rechten den Nacken. »Nun ja. Nachdem bekannt wurde, dass es tatsächlich noch einen leiblichen Erben der Berengar gab ...«
Der ›Falke‹ schluckte und seine Augen weiteten sich. Ungläubig ahmte er seinen gegenüber nach und massierte gegenwärtig seinen eigenen Nacken. »Du willst mir jetzt nicht sagen, dass ...«
»Doch«, viel er ihm ins Wort. »Es ist beileibe nicht der gesamte Handel, der über dessen Bücher läuft aber doch beträchtliches. Das Haus Berengar erstarkt mit jedem vergehenden Tag und nicht minder wenige schließen sich ihm aus freien Stücken an. Arbeiter wie Soldaten. Memnach dankt ihm für die Unterstützung, die er dem Land trotz allem was vorfiel, dennoch bietet. Es wird dauern, bis die Stadt ihr eigenes Heer aufstellen kann. Mit dem Sturz der Obristen und der gewährten Gnade haben unzählige das Weite gesucht, die nun überall fehlen.«