Die Termine der nächsten Tage erlaubten es Stefán nicht, seine Schwester sofort anzurufen. Lediglich für ein kurzes Gespräch via SMS, in dem er ihr die Sache grob erklärte, reichte es. Erst der Abend nach einer ausgedehnten Auswärtsfahrt war lange genug frei, um ausgiebig zu skypen. Er hatte es sich bereits mit Laptop, Headset und gemütlichen Klamotten auf dem Sofa bequem gemacht und wartete nun darauf, angerufen zu werden.
Während er wartete, surfte er ziellos durch das Internet und landete schließlich auf der Seite des Sprachinstituts, in dem er bis gestern angemeldet gewesen war. Steppi wollte es Julia und sich ersparen, nach dem letzten Treffen noch miteinander zu tun zu haben. Da er Deutsch recht gut beherrschte, war der Hauptgrund, den Kurs zu besuchen weggefallen, also warum noch weiter machen? Der vertraute Klingelton des Skypetelefons riss ihn aus seinen Gedanken und er schloss rasch die Internetseite, um sich auf das Telefonat zu konzentrieren. Kaum angenommen, erschien seine Schwester in einem kleinen Webfenster.
Steppi konnte durch das verpixelte Bild nicht viele Details erkennen, aber Steinunn sah zerzaust aus, ihre Haare waren unordentlich. „Na, gerade von draußen gekommen?“, begrüßte er sie in seiner Muttersprache.
„Ich habe die Mädchen gerade noch zum Ballett gefahren und hier ist es gerade unglaublich windig. Die Götter wissen, wieso es im Sommer so windig sein muss, es ist noch nicht mal kalt. Aber das ist nicht wichtig. Wie geht es dir denn? Du siehst entspannt aus.“
„Bin ich auch, zumindest halbwegs. Ich war nach der Fahrt noch duschen und kann morgen ausschlafen bis neun Uhr, da sollte ich entspannt sein.“
Steinunn nickte und legte dann den Kopf schief. Bevor sie weitersprach, schien sie ihn erst eine Weile zu beobachten, oder überlegte sie? Stefán war die Stille unangenehm und er überlegte schon, sie zu unterbrechen, als Steinunn schließlich doch sprach. „So, jetzt erzähl mal genauer. Deine SMS waren ein bisschen durcheinander. Du hast also jemanden kennengelernt. Wo und wie? Vor allem, wo ist denn dann da das Problem?“.
„Das Problem ist, dass sie mich nicht will“, brummte Steppi abweisend und seiner Schwester entfuhr ein leises, aber deutliches ‚oh‘. „Ich wollte einen Sprachkurs machen, weil ich nach meinem Wechsel mitten in der Saison letztes Jahr besseres zu tun hatte. Mein Deutsch ist zwar ganz gut, aber wir kriegen den Kurs bezahlt, also wieso nicht machen, dachte ich. In Heidelberg gibt es eine Schule, die das unterrichtet und weil Mads und Harald, zwei neue Kollegen, das auch machen müssen, bin ich einfach mit. Da haben wir uns kennengelernt, sie macht den Lehrerjob neben dem Studium noch. Weil ihre Wohnung auf meinem Heimweg liegt, habe ich ihr dann angeboten, sie mit heim zu fahren und…“.
Steinunn hob eine Hand und brachte ihn damit zum Verstummen. „Du hast sie einfach so mitgenommen? Dann musst du sie aber schon sehr mögen, oder? Das klingt doch eigentlich alles gar nicht so schlimm.“
„Abwarten“, seufzte Steppi, „jedenfalls haben wir uns auf den Fahrten immer super unterhalten, wir verstehen uns gut. Letzte Woche sind wir dann statt gleich nach Hause noch ein bisschen an den Fluss gegangen, den Neckar und haben gesprochen. Ich dachte, dass sie mich sehr gerne hat. Sie hat das irgendwie auch gesagt, aber dass sie im Moment keine Beziehung will, sie hat so viel zu tun. Trotzdem habe ich sie geküsst, das kam alles so zögerlich und ich dachte, dass ich sie überzeugen kann, aber dann ist sie einfach weggelaufen. Sie reagiert auf keinen Anruf mehr und naja, aus dem Kurs habe ich mich auch abgemeldet, denn sie will mich ja offenbar nicht mehr sehen.“
Für einige Augenblicke blieb die Leitung stumm, aber dann konnte sich Steinunn ein leises Lachen nicht mehr verkneifen. Aus Mitleid versuchte sie es zu einem Hüsteln zu biegen. „Die Geschichte hast du nicht erfunden, oder? Ich wusste ja, dass ich dir einiges zutrauen kann, aber das ist wirklich schon verrückt.“
„Wieso sollte ich denn sowas erfinden, mh?“, brummte ihr Bruder. In Stefáns Brust zog sich ein unangenehmer, kleiner Knoten zusammen, der sich verdächtig nach Wut anfühlte. Dadurch, dass er das Nesthäkchen war, wurden seine Beziehungsversuche immer ein bisschen lächerlich gemacht, dabei stellte er sich doch gar nicht so dumm an, wie man ihm unterstellte.
„Lass mich das nochmal zusammenfassen“, meinte dann Steinunn, sie bemühte sich um einen neutralen Tonfall, „du magst ein Mädchen. Sie dich eigentlich auch, aber sie möchte das Studium beenden und hat dich deshalb abblitzen lassen. Du küsst sie und beschwerst dich dann, dass sie dich sitzen lässt. Stimmt das alles?“.
Von der nüchternen Schilderung demotiviert nickte Steppi. Wie hatte er sich denn einbilden können, sie wollte ihn?!
„Kleiner, du bist filmreif. Wenn es das Mädchen wert ist und es nicht so lange dauert, dann warte doch auf sie. Ist sie es wert?“.
Kurz überlegte er, was sein Herz dazu sagte. „Ich denke schon. Es ist nur so unfair, dass ich jetzt mal Zeit habe und dann sie nicht. Soll sie sich doch Zeit nehmen.“
Steinunn erwog erst, darauf gar nichts zu erwidern, entschied sich dann aber dagegen. Zwar kannte sie das Mädchen nicht, aber Steppi tat ihr gerade unrecht und eigentlich hätte er das wissen sollen. Vielleicht konnte sie ja noch etwas retten und wenn die Beziehung doch in die Brüche gehen würde, dann war es eben so. „Sag mal, findest du nicht, dass du ein wenig unfair bist?“, begann Steinunn deshalb und sofort verschloss ihr Bruder die Lippen zu einem schmalen Strich, „ich meine, so viel anders als das Mädchen warst du früher auch nicht. Wie viele Mädchen sind bei dir wegen deiner Handballkarriere abgeblitzt? Ich kann mich noch gut erinnern, wie du dich über Lilja aufgeregt hast, weil sie nicht locker lassen wollte.“
„Das war doch was völlig anderes!“, empörte sich Stefan ein bisschen lauter, „das waren doch nur irgendwelche Mädchen, an denen ich kein Interesse hatte. Da waren nicht viele Gefühle dabei.“
„Sie hat dich aber aus den gleichen Gründen abgelehnt. Jetzt komm mal runter von deiner Wut, vielleicht erkennst du das dann auch. Vernünftig scheint sie doch zu sein und wenn du meinst, sie ist es wert, auf sie zu warten, dann tu das.“
Die Laune am Tiefpunkt, weil seine Schwester ihn nicht tröstete, verschränkte Steppi missmutig seine Arme vor der Brust. „Ja, vielleicht, keine Ahnung. Versetzt werden ist ziemlich scheiße.“
„Ich weiß“, lächelte Steinunn nachsichtig, „aber das geht auch wieder vorbei. Bist du noch in ihrem Kurs angemeldet?“.
Steppi schüttelte den Kopf und fühlte, wie sein Herz in dem Moment wenigstens ein bisschen leichter wurde. Dass sie sich aus dem Weg gingen, konnte nur gut für ihn sein. „Na also. Jetzt schlaf mal eine Nacht drüber, vielleicht ist die Welt morgen schon wieder ganz anders. Ich finde jedenfalls, dass du nicht böse sein musst. Außerdem bist du niedlich, wenn du versuchst, eine Freundin zu kriegen.“
Er warf Steinunn einen bösen Blick zu. Wenn er mit 22 Jahren etwas nicht war, dann ganz sicher niedlich, egal in welcher Situation. „Jaja, ist schon gut“, seufzte er, bevor Steinunn noch mehr Gemeinheiten einfielen, „ich habe es verstanden. Danke, dass du mir zugehört hast. Ich werde drüber nachdenken.“
In seinen Gedanken arbeitete es bereits. Nach einer kurzen Verabschiedung stellte Steppi Laptop samt Headset zur Seite und machte es sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Sofa gemütlich.
Die Löcher, die er beim Denken in die Decke starrte, erschienen schon bald als schwarze Flimmerpunkte vor seinen Augen, deshalb schloss er sie vorsichtshalber. Steppi ließ sich Steinunns Rat noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatte Recht gehabt, er war ziemlich sauer, zurückgewiesen zu werden. Vielleicht nagte sogar schon etwas wie Liebeskummer an ihm, schließlich war das seine erste Abfuhr. Durfte man denn nicht sauer sein, wenn man abserviert wurde? Doch, natürlich. Aber eigentlich konnte der vernünftige Teil seiner Gefühle auch Verständnis aufbringen für Julias Situation, das hatte er bisher erfolgreich verdrängt. Zufrieden stellte er fest, dass ihr Name in seinen Gedanken keine Enttäuschung mehr auslöste, sondern nur noch Sehnsucht. Die Wut war verraucht.
Konzentriert kramte er in seiner Erinnerung nach Gesprächsfetzen und er meinte, dass Julia bald mit ihren Studium fertig sein würde- ein volles Jahr noch? Ja, daran konnte er sich erinnern. Dass er ihr die Daumen drückte für eine Klausur, durch die sie bereits ein Mal gefallen war und dass sie bei deren Bestehen wirklich nicht mehr lang brauchte. Das würde er sicher noch durchhalten können, wenn Julia ihn dann noch wollte, oder er sie. Dann könnten sie eine schöne Beziehung führen und wieder so viel reden und lachen.
Leise stöhnend fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht. Sich in solchen Gedanken verlieren war überhaupt nicht gut. Auch er musste sich auf seine Arbeit konzentrieren. Mit steifen Gliedern erhob er sich vom Sofa und tapste ins Bad, ein paar Spritzer kalten Wassers im Gesicht würden ihm jetzt gut tun. „Verliere dich auch nicht so in Tagträumen und bleibe geduldig“, erklärte er seinem Spiegelbild, dann wischte er sich grob die Wassertropfen vom Gesicht. Dass er seine Gefühle mit seinem Spiegelbild diskutierte durfte er in der Mannschaft auch keinem erzählen, nahm er sich dann vor, zog sich um und kuschelte sich in sein Bett.
Einen kurzen Gedanken an Julia erlaubte er sich und er tat wirklich nicht mehr weh. Vielleicht hätten sie in einem Jahr eine Chance. Steppi beschloss für sich, er würde warten. Allerdings mit Abstand, denn das Warten würde ihm sicher schwer fallen, würde er sie öfter sehen. Sollte er die Nummer löschen? Nein, das wäre so endgültig. Es reichte, sie nicht mehr anzurufen. Damit würde er schon leben können. Zufrieden mit seinem Beschluss gähnte er, drehte sich auf die Seite und zog sich die Decke über die Schultern. Ja, damit könnte er leben.