Niklas atmete noch einmal tief durch, dann sah er sich nach Steppi um, damit er seinen Auftrag beginnen konnte. Steppi stand nur ein paar Meter weiter und unterhielt sich gerade noch mit Lexi, aber seine Handbewegung deutete einen Abschied an. Bevor Steppi die Chance hatte, in sein Auto zu steigen, lief Niklas los.
"Hey, Steppi, warte mal noch kurz", hielt er ihn auf und Steppi drehte sich mit verwirrtem Gesichtsausdruck zu ihm herum.
"Was ist?".
Nervös kaute Niklas an seiner Unterlippe herum. Wenn er doch nur die richtigen Worte hellsehen könnte, um Steppi dazu zu bewegen, mitzukommen. "Ähm, hat du noch was vor?".
"Nein, eigetlich nicht. Warum?".
"Weil...".
Während Niklas nach Worten suchte, verschränkte Steppi die Arme vor seiner Brust. Er kannte Niklas mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sein Kollege gerade nervös war und etwas wollte, was Steppi nicht gefallen würde.
"Hast du mit Julia Kontakt?", fragte Niklas schließlich und Steppi presste die Lippen aufeinander. Ruckartig schüttelte er den Kopf und fixierte Niklas mit zusammengezogenen Augenbrauen. Wieso sprach er ein Thema an, das bisher zwischen ihnen Tabu war und möglichst auch bleiben sollte?
"Dann weißt du bestimmt nicht, dass sie ist durchgefallen durch Latein heute. Liv hat sie mitgenommen und sie sagt, dass du hast gute Chance bei Julia wenn du jetzt willst."
Obwohl sein Deutsch gar nicht so schlecht war, fand Niklas es schwer, die richtigen Worte zu finden, und wenn er Steppis Gesichtsausdruck richtig deutete, hatte er ihn damit auch noch nicht wirklich überzeugt.
"Wieso soll ich ein Chance haben jetzt? Außerdem, vielleicht ich will gar keine haben", grummelte Steppi abweisend, aber Niklas klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. "Das letzte ist aber gelogen".
Widerwillig musste Steppi grinsen, stimmte Niklas insgeheim aber zu. Natürlich wollte er noch eine Chance haben, aber wieso sollte sie jetzt so gut sein?
"Ich denke, dass es ist so ein Ding mit Frauen, Liv weiß das immer gut, wenn was funktioniert. Komm doch einfach mit und vielleicht Liv kann dir sagen, was sie denkt."
Steppi ließ sich noch ein paar Sekunden Zeit, hatte sich aber schon entschieden. "Na gut, ich versuche es. Wir fahren zu dir."
Triumphierend grinsend stieg Niklas in sein Auto und tippte noch schnell eine SMS an Liv, bevor er losfuhr. Vielleicht wollte sie ja noch etwas vorbereiten.
Nachdem Steppi, der direkt neben Niklas parkte, ausgestiegen war, bemerkte er ein flaues Gefühl im Magen. Unsicher sah er zu dem Fenster hoch, hinter dem sich Niklas' und Livs Wohnzimmer befand. Er hatte Angst, dass heute Abend alles schief ging, dass Liv sich getäuscht hatte. "Kein Angst. Das wird schon. Komm", riss ihn Niklas aus seinen Gedanken, beruhigte ihn aber nicht damit. Mit jedem Schritt auf der Treppe wuchs Steppis Nervosität. Als er hinter Niklas die Wohnung betrat, konnte er schon Geräusche aus dem Wohnzimmer hören, da musste Julia sein. Unsicher, ob er Niklas folgen oder ins Wohnzimmer gehen sollte, bemerkte er Liv erst gar nicht, die dazugekommen war.
"Hey Steppi, schön, dass du mitgekommen bist. Traust du dir zu, gleich ins Wohnzimmer zu gehen und zu reden? Niklas und ich kochen in der Zeit, du isst natürlich mit."
"Danke für die Einladung. Meinst du, ich kann? Ich weiß nicht ob es klappen kann".
Liv lächelte nur und tätschelte Steppis Arm. "Glaube mir, ich kann sowas riechen. Und wenn es nicht gut geht, können wir ja eingreifen. Aber es wird gut gehen, ich weiß das. Trau dich."
Niklas gab ihm noch einen aufmunternden Klaps auf die Schultern, dann folgte er seiner Freundin in die Küche und Steppi stand alleine im Hausgang. Nur wenige Schritte nach links, dann würde er im Wohnzimmer stehen und entweder wartete dort der Himmel oder die Hölle auf Erden. Das Schluchzen, dass aus dem Wohnzimmer zu ihm drang, ließ seinen Beschützerinstinkt erwachen. Er wollte sie gleichzeitig in den Arm nehmen und alles beseitigen, was ihr Sorgen machte. Er musste mit ihr reden. Mit wildem Herzklopfen machte er ein paar Schritte ins Wohnzimmer, immer noch bereit jederzeit zu flüchten. Julia saß auf dem Wohnsofa, in eine rote Decke gepackt, vor dem Laptop und weinte.
Der Anblick brach Steppi das Herz und die wenigen Körnchen Wut, die er noch in sich hatte, waren mit einem Mal verschwunden. Er setzte sich neben sie und streichelte ihr über den Rücken, wusste aber nicht was er sagen sollte. Julia rückte näher und bettete den Kopf in seine Halsbeuge. Davon irritiert, aber dennoch glücklich nahm Steppi sie in eine beschützende Umarmung und streichelte ihr mit einer Hand über die Haare, um Julia weiter zu beruhigen. Er war froh über die widerstandslose Nähe, aber dass es so unkompliziert sein würde, hatte er sich nicht vorgestellt. In Gedanken dankte er Liv, aber er verstand sein Glück nicht.
"Danke, dass du mich mal in den Arm nimmst, Niklas", murmelte Julia und Steppi verstand schlagartig, wieso die Situation so gelaufen war. Die Angst, die Nähe gleich wieder einbüßen zu müssen, lähmte seine Gedanken.
"Äh.. nicht Niklas."
Julia schaute auf, blinzelte sich die Tränen aus den Augen und versteifte sich, als sie Steppi erkannte. "Schande, Steppi, was machst du hier? Und wieso nimmst du mich in den Arm?".
"Niklas hat... Liv hat... ich weiß alles. Und ich will dich beschützen", brachte Steppi gerade noch hervor. Sein Herz klopfte wie wild gegen seinen Adamsapfel. Er wollte die Nähe nicht aufgeben, er wollte, dass alles gut wird. Julia brachte immerhin ein kleines Lächeln zustande.
"Bist du mir denn noch böse? Ich habe mich nicht getraut, mich bei dir zu melden, das tut mir leid. Ich wusste nicht, ob du mich überhaupt sprechen willst und ob du meine Entschuldigung willst."
Sie löste sich nicht aus seiner Umarmung, viel zu schön war die Nähe, die sie tröstete.
"Entschuldigung angenommen. Ich war nicht mehr böse. Ich habe gesprochen mit mein Schwester und sie hat Recht, sie sagt dass ich war genau so, in Island, beim Handball. Das habe ich vergessen. Ich verstehe dich."
Julias Lächeln wurde breiter. So schlimm der Tag begonnen hatte, so schön wurde er gerade. "Danke, dass du meine Entschuldigung annimmst. Damit geht es mir besser."
"Nimmst du auch etwas an?", fragte Steppi. Dass er sich dabei zu ihr beugte, beschleunigte Julias Herzschlag merklich.
"Was denn?", fragte sie mit trockenem Mund zurück.
Quälend langsam überbrückte Steppi die letzten Zentimeter, bis er schließlich seine Lippen sanft auf Julias legte. Der Kuss war kurz, aber er reichte, um beiden den Verstand völlig zu vernebeln. Am liebsten hätte sich Julia nie mehr von diesen weichen Lippen gelöst, aber sie zwang sich, ihren Atem zu beruhigen. In den letzten Stunden war ein Vorsatz in ihr gereift, und jetzt war sie entschlossen, ihn umzusetzen.
"Steppi, ich habe viel nachgedacht jetzt. Vielleicht habe ich das Studium viel zu ernst genommen. Ich habe so viel gelernt und investiert und wofür? Für nichts. Ich will nicht mehr so verkrampft im Studium sein, wenn ich denn noch eins anfange. Und ich will Zeit haben für Freunde, naja, und für einen Freund. Ich will nur, dass du das weißt...".
Wieso sie nicht aussprach, was sie sich wünschte, wusste sie selbst nicht genau. Steppi allerdings nahm ihr die Arbeit ab. Er streichelte mit seiner Rechten sanft über ihre Wange, dann zog er sie im Nacken zu sich und küsste sie wieder.
Der Kuss war lang, atemraubend, intensiv. Immer wieder trafen die Lippen aufeinander, neckte er mit seiner Zungenspitze ihre Lippen. Die Schmetterlinge, die vorher schon in Julias Bauch geflattert waren, wuchsen gerade zu einer gigantischen Kolonie heran.
"Ist alles okay bei euch...oh", unterbrach Liv sie und das Paar sprengte wie vom Blitz getroffen auseinander. "Schon okay. Dann können wir essen? Esst ihr beiden mit?".
Liv grinste amüsiert in die beiden geröteten Gesichter, die sie mit großen Augen und außer Atem anstarrten.
"Ja, also ich denke mal, wir essen mit, oder?". Fragend schaute Julia hoch zu Steppi, der mechanisch nickte. "Jaja, das haben wir gesagt."
"Dann könnt ihr mir vielleicht helfen, den Tisch zu decken, okay?". Immer noch grinste Liv und ging wieder in die Küche. Das Knarzen des Sofas verriet, dass die beiden folgen würden.
Niklas stand am Herd und rührte in verschiedenen Töpfen.
"Und? Leben alle noch?".
"Mehr als. Ich hatte Recht. Wir haben ein Paar", triumphierte Liv und reckte stolz das Kinn in die Höhe.
Lachend schüttelte Niklas den Kopf. "Das ist gut. Herzlichen Glückwunsch zu deinem siebten Sinn."
"Wo sind denn die Teller?", fragte Steppi mit leiser Stimme. Er und Julia standen hintereinander im Türrahmen der Küche und sahen immer noch etwas beschämt aus.
"Links oben, Besteck kann Julia machen, die weiß wo das ist. Danke".
Nachdem sie die Utensilien eingesammelt hatten, schlichen die beiden wieder aus der Küche, ohne ein Wort gesagt zu haben.
"Ähm, die sehen nicht gerade glücklich aus, oder?", warf Niklas ein.
"Die sind verwirrt, glaube ich. War alles etwas viel. Gib ihnen ein bisschen Zeit, sich aneinander zu gewöhnen", meinte Liv und sah dabei den beiden nach.
"Du solltest eine Paarberatung aufmachen, wieso studierst du eigentlich Kunstgeschichte?", neckte sie ihr Freund und Liv grinste.
"Weil ich es interessant finde. Ich rede vielleicht nochmal ein Wort mit den beiden, sonst schweigen sie uns beim Essen auch so an. Warte."
Liv erwischte die beiden mitten im Eindecken der Tische. Immer noch sprachen sie nichts, auch nicht miteinander. "Geht es euch gut?", fragte Liv vorsichtig. Julia errötete bis unter die Haarwurzel und Steppi wandte sich von ihnen ab.
"Ja, ich denke schon", brachte Julia schließlich heraus, dann wandte sich Steppi ihr zu und sein Gesichtsausdruck entspannte sich merklich. "Das ist nur so neu."
Er nickte, dann legte er eine Hand an ihre Hüfte. "Wir müssen uns gewöhnen. Am ersten Abend es ist noch anders neu."
"Na wenn es das ist, dann ist alles gut. Wir essen jetzt und dann schauen wir mal, wie wir dein Studium retten können, mh?".
Schon kam Niklas mit dem ersten dampfenden Topf ins Wohnzimmer, den er umsichtig auf dem Tisch abstellte. Liv verschwand in die Küche, um den zweiten Topf zu holen, während sich die anderen drei bereits an den Tisch setzten.
Das Curry und der Reis wärmten Julia von innen und gaben ihr ein entspanntes Gefühl. Es war bestimmt möglich, noch irgendetwas aus ihrem Studium zu machen und mit Steppi, Liv und Niklas als Rückhalt würde sie das auch schaffen. Immer wieder blickte sie kurz von ihrem Teller auf, um mit Steppi einen Blick und ein kleines Lächeln tauschen zu können.
Als die Teller langsam leer wurden, ergriff Niklas das Wort. "Also, was machen wir jetzt mit dein Studium?", fragte er an Julia gewandt.
"Heute erst mal nichts mehr, es ist schon spät und ich bin müde. Morgen muss ich nur arbeiten, danach werde ich mich drum kümmern."
"Wir haben nur morgens Training, so ich kann zu dir kommen und dir helfen bei dein Suche", bot Steppi an und Julia lächelte.
"Gerne, danke."
"Und ich höre mich auch mal um, vielleicht weiß jemand was. Das kommt alles bestimmt in Ordnung", ergänzte Liv.
Julia spürte, dass ein großer Stein von ihrem Herzen fiel. "Danke Liv."
Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ist okay. Schläfst du dann heute hier oder gehst du noch nach Hause?".
"Ich fahre sie heim", bestimmte Steppi, bevor Julia antworten konnte, sie beschränkte sich auf ein Nicken. "Das haben wir vorhin kurz besprochen", ergänzte sie noch.
"Okay, das ist schade. Aber wir telefonieren dann morgen, wenn du gearbeitet hast, ja?".
Julia nickte, dann half sie Liv dabei, den Tisch abzuräumen.
"Bist du glücklich so?", fragte Liv, nachdem sie in der Küche alles abgestellt hatten.
"Ja, gerade sehr, mit Steppi", strahlte Julia und Liv nickte zufrieden.
"Dann geht nach Hause und genießt es ein bisschen. Das hast du dir verdient. Den Rest kriegen Niklas und ich schon aufgeräumt. Nimm dir Steppi und fahre nach Hause."
Unsicher musterte Julia den dreckigen Tellerstapel, aber aus Erfahrung wusste sie, dass Widerstand bei Liv zwecklos war. Deshalb ging sie ins Wohnzimmer zurück.
"Steppi? Wir werden gerade rausgeworfen, kannst du mich nach Hause bringen?".
"Natürlich ich kann", antwortete er sofort und stand auf. "Wer wirft raus?".
"Liv will, dass wir Zeit zu zweit genießen und ich habe nichts dagegen. Du etwa?".
"Nein, gar nicht."
Grinsend ging er zu Julia und hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. "Hast du dich schon verabschiedet?".
Julia verneinte und eine Umarmung von Niklas und eine Umarmung von Liv später standen Steppi und Julia dann vor der Tür im Treppenhaus.
"Danke Steppi, dass du mich nach Hause bringst", meinte Julia und griff lächelnd nach seiner Hand.
"Für meine Freundin ich tu das gerne", grinste Steppi zurück und beugte sich nach unten, um sie zu küssen.