Die Tüten in Julias Rucksack knisterten laut bei jedem Schritt, den sie die Treppe zu Livs und Niklas’ Wohnung hinauf ging. All die Knabbersachen waren für die Spiele heute gedacht. Sowohl Island als auch Deutschland spielte zeitgleich, was hieß, dass ein Spiel am Pc und ein Spiel am Fernseher geschaut werden musste. Die Dänen um Niklas hatten gestern bereits einen Sieg eingefahren und so war Liv bester Laune, als sie Julia an der Tür begrüßte.
”Hoffen wir, dass du heute auch so Glück hast”, begrüßte sie Julia und ging dann in die Küche, dort hatte sie Getränke im Kühlschrank gelagert.
”Was möchtest du trinken?”.
Julia stellte den Rucksack ins Wohnzimmer, dann erschien sie im Türrahmen der Küche.
”Oh, hm, ich weiß nicht. Irgendwie ist mir heute nach Tee, mein Magen benimmt sich seit ein paar Tagen sehr komisch. Hast du was da?”.
”Natürlich”, wunderte sich Liv, ”erst mal Pfefferminze? Ich setze dir Wasser auf, warte.”
Während Liv sich am Wasserkocher zu schaffen machte, überlegte sie, was mit Julia los war. Sie verdarb sich nie den Magen, ganz egal was sie aß. Aber vielleicht war das ja doch das erste Mal.
Julia hatte inzwischen den Inhalt ihres Rucksackes auf dem Wohnzimmertisch ausgebreitet, neben Chips und Flips auch ein wenig Schokolade, dafür hatten sie beide eine Schwäche.
Liv kam mit einer dampfenden Tasse in der einen und einer Flasche Wasser in der anderen Hand dazu. Auf den ersten Blick fiel ihr der Süßigkeitentisch auf, und was sie dort entdeckte ließ sie stutzen. Sie beschloss allerdings, noch nichts zu den Flips zu sagen, vielleicht hatte Julia sie auch ihr zu Liebe gekauft.
Julia bediente den Fernseher, um das Deutschlandspiel einzustellen, während sich Liv um den Laptop kümmerte. Nachdem beide Spiele zu sehen waren, machten es sich die Frauen auf dem Sofa bequem und Julia griff zielsicher nach den Erdnussflips, die sie mitgebracht hatte.
Liv registrierte die Bewegung und konnte sich dann nicht mehr zurückhalten, sie musst es ansprechen.
”Julia, seit wann isst du diese Flips? Ich dachte, du magst die gar nicht?”.
”Weiß nicht, irgendwie stehe ich in den letzten Tagen total drauf”, schmatzte Julia und griff nach einer weiteren Hand voll in die Tüte.
Skeptisch runzelte Liv die Stirn, allerdings erstickte der Beginn der Nationalhymnen die Unterhaltung im Keim. Während Julia mal hier, mal da ein paar Minuten des Spiels verfolgte, hing Liv ihren Gedanken nach.
Julia hasste Flips, so lange sich Liv erinnern konnte. Dass sie so plötzlich Lust hatte, ließ für Liv eigentlich nur einen Schluss zu.
Liv entschuldigte sich kurz, dann ging sie auf die Toilette. Dort hatte sie eigentlich für eigene Zwecke Schwangerschaftstests gelagert, aber sie war zu neugierig, ob sie recht hatte. Sie steckte die Verpackung in die Tasche ihres Schlabberpullis, dann ging sie ins Wohnzimmer zurück. Die erste Halbzeit war nun so gut wie gespielt und für beide Mannschaften, Deutschland und Island, sah es momentan nicht gut aus. Dementsprechend unglücklich wirkte Julia und Liv beschloss deshalb, ihren Plan auf nach den Spielen zu verlegen.
”Magst du noch einen Beruhigungstee?”, fragte sie stattdessen.
Julia grummelte nur und vergriff sich an der nächsten Packung Chips. Ihr Bauchgefühl sagte, dass ein Tee sicher nicht die schlechteste Idee wäre, aber die Spielstände hielten ihre Laune auf einem Tiefpunkt, sodass sie sich am liebsten verkrochen hätte.
Insgeheim hoffte Liv, dass sich beide Spielstände noch drehen würden, damit Julia wieder besserer Laune war. Ihr niedergeschlagen vielleicht noch den nächsten Schock zu verpassen hätte sie nicht über das Herz gebracht.
Und Liv hatte Glück. Nicht nur die Deutschen, auch die Isländer drehten ihre Spiele in der zweiten Halbzeit und so konnte Julia heute mit zwei Siegen nach Hause fahren. Ihre Laune hatte sich wieder deutlich gebessert, als sie schon die Sachen zusammenräumten.
Liv räusperte sich vernehmlich, sie hielt das jetzt für einen guten Zeitpunkt, um Julia anzusprechen.
”Du, sag mal. Wegen den Flips und so weiter. Ich weiß, dass du verhütest, aber meinst du, da kann was schief gegangen sein? Du hasst Flips eigentlich...”.
Julia hielt mitten in der Bewegung inne und starrte Liv mit großen Augen an. Langsam ließ sie die Chipstüte auf den Tisch zurück sinken.
”Ich? Niemals. Ich meine, wir schlafen miteinander, klar, aber wir verhüten.”
”Das kann auch mal daneben gehen”, warf Liv ein, ”komm, mach einfach kurz einen Test, mir zu Liebe, dann bin ich beruhigt. Du bekommst auch einen von mir. Bitte.”
Unschlüssig betrachtete Julia die Verpackung in Livs Händen. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, schwanger zu sein. Liv hatte Recht, das mit den Flips war tatsächlich komisch, aber konnte sich Geschmack denn nicht einfach so mal ändern? Musste man dann gleich schwanger sein?
Livs Gesichtsausdruck verriet, wie besorgt sie war und das alleine bewegte Julia dazu, das Angebot anzunehmen. Es würde ein negativer Test rauskommen und ihre Freundin wäre wieder normal.
”Na gut. Gib her den Test, ich gehe schnell auf die Toilette.”
Liv seufzte erleichtert und folgte Julia, die sich mit dem Test in der Hand auf zur Toilette machte.
Eigentlich rechnete Liv selbst kaum mit einer Schwangerschaft, aber da sie selbst schwanger werden wollte, reagierte sie vielleicht auf Symptome ein bisschen empfindlicher.
Die Minuten, bis der Test etwas anzeigte, war für die beiden unterträglich. Julia hatte sich im Bad eingeschlossen und starrte die Anzeige nieder. Es musste einfach negativ sein.
Je länger der Test brauchte, desto heftiger klopfte Julias Herz. In ihren Gedanken bohrte die Frage, was sie tun sollte, wenn sie doch schwanger wäre. Mitten in der Endphase des Studiums und noch recht frisch in einer Beziehung waren das keine optimalen Bedingungen.
Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen stiegen und dann die Wangen hinabkullerten. Die Anspannung war nahezu unerträglich und am liebsten hätte Julia den Test in den Müll geworfen.
Schließlich schimmerten allerdings langsam, aber deutlich rosa Streifen auf der Anzeige.
Julia wollte erst nur einen Streifen sehen, aber der zweite schimmerte unübersehbar direkt daneben. Schwanger.
”Scheiße”, entfuhr es ihr lauter als geplant und die Anspannung entlud sich in Tränen.
Liv riss die Tür auf und nahm Julia in eine feste Umarmung. Sie brauchte nicht nach dem Test zu sehen, sie ahnte schon, was das Ergebnis war.
Behutsam streichelte sie Julia über die Haare und hielt sie dabei in einer festen Umarmung, in der Hoffnung sie zu beruhigen.
”Es wird alles gut. Es ist noch nichts passiert. Mach dir keine Panik. Steppi wird begeistert sein, ich weiß es. Bitte nicht weinen. Wir unterstützen dich.”
Livs Worte fanden nur langsam den Weg in Julias Bewusstsein. Der positive Test hatte ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie sollte sie das nur Steppi erklären?
Erst als Liv seinen Namen erwähnte, fing sie an, klar zu denken.
”Meinst du, er freut sich?”, brachte sie krächend heraus.
”Ich bin mir sicher. Steppi ist kinderlieb, das weißt du. Es ist ungeplant aber ihr liebt euch doch. Mach dir nicht so viele Gedanken darüber. Möchtest du heute vielleicht hier schlafen, brauchst du Gesellschaft?”.
Julia wog die Vorteile und Nachteile ab, heute bei Liv zu schlafen und entschied sich schließlich dafür. Sie brauchte seelischen Beistand.
”Danke Liv für das Angebot, ich schlafe gerne hier. Ich muss nur nochmal nach Rot, ein paar Sachen von mir holen.”
Liv lächelte. Julia wirkte wieder gefasster und hatte aufgehört zu weinen, sie machte den Eindruck, den Schock ganz gut zu verkraften.
”Sollen wir schnell das Auto nehmen? Ich kann dich auch fahren, ich weiß ja nicht, wie viel du schon verdaut hast von der Nachricht.”
”Es geht”, grinste Julia matt, ”aber das mit dem Auto ist eine gute Idee, lass uns fahren.”
Liv schnappte sich die Autoschlüssel von der Kommode und warf sich eine Jacke über, während Julia ihren Mantel anzog.
”Unterwegs halten wir noch irgendwo und besorgen dir Flips. Dein Kleines scheint sie ja gerade besonders zu brauchen”, schlug Liv vor und zum ersten Mal seit der Nachricht lächelte Julia breit.
Liv umarmte ihre Freundin und drückte sie fest an sich.
”Oh meine Liebe, alles Gute zum Baby! Auch wenn es nicht geplant ist, ich freue mich für euch. Wenn ich mich dann jetzt beeile, können unsere Kinder miteinander spielen.”
”Danke, die Idee klingt auch gut”, grinste Julia, ”aber ich weiß noch nicht, wie ich das Steppi verkünden soll. Ich glaube, davor hab ich richtig Bammel...”.
”Das kriegen wir hin, immerhin haben wir noch eine gute Woche Zeit, um uns darüber Gedanken zu machen. Wir fahren jetzt zu dir und machen uns erst mal noch einen gemütlichen Abend. Komm.”
Liv stand schon im Treppenhaus und deshalb beeilte sich Julia, aus der Wohnung zu kommen und gleichzeitig ihren Mantel zu schließen, was gar nicht so einfach war. Julia zog die Tür hinter sich zu, dann folgte sie Liv das Treppenhaus hinunter.
Dabei wanderten ihre Gedanken noch einmal zu dem Schwangerschaftstest und sie legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie konnte es immer noch kaum glauben, dass sie wirklich schwanger sein sollte. So schlecht der Zeitpunkt auch war, hatte Livs Aussage, dass sie sie unterstützen würde, Julia irgendwie ein wenig beruhigt.
”Kommst du jetzt oder fahr ich alleine?”, rief Liv, die schon ein paar Stockwerke weiter unten war.
”Ich komme, sorry, war in Gedanken”, rief Julia zurück und ging ein bisschen schneller die Treppen als gewöhnlich, um Liv einzuholen.