Die erste Nacht bei Liv und Niklas zu Hause war schrecklich gewesen. Julia hatte kein Auge zugetan, aber sich auch bemüht, leise zu leiden, um Liv und Niklas nicht zu wecken. Irgendwann hatte sie Liv weggeschickt, damit diese auch die Möglichkeit bekam, zu schlafen. Erst am nächsten Morgen begrüßte sie Liv mit einer Tasse Kaffee an ihrem Bett und weckte damit in Julia wenigstens ein paar Lebensgeister. Diche, aufgequollene Augen mit schwarzen Ringen zeichneten Julias Gesicht und Liv vermutete rictig, dass sie die ganze Nacht wach gelegen hatte. Behutsam setzte sie sich neben Julia auf das Bett und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Möchtest du vielleicht erst mal duschen, damit du wach wirst? Ich kann in der Zeit ein kleines Frühstück machen. Und noch mehr Kaffee?“.
Nach einem leichten Nicken von Julia stand Liv auf und ging in die Küche. Niklas war auch bereits wach und deckte gerade den Tisch.
„Und, wie geht es ihr?“, fragte er.
„Ich weiß nicht. Ich glaube sie ist einfach müde, sie hat bestimmt kaum geschlafen. Ich habe ihr gesagt, sie soll erst mal duschen und dann können wir gemeinsam frühstücken, wenn sie will. Hast du was gehört von Steppi? In der whatsappgruppe vielleicht?“.
Niklas schüttelte den Kopf und seufzte. Gestern beim Training hatte er nicht besonders darauf geachtet, weil er noch gar nichts gewusst hatte, aber ihm war nicht aufgefallen, dass Steppi sich seltsam verhalten hätte. Auch sonst hatte er bisher nichts gehört.
Inzwischen war Julia aus dem Bett gekrochen und schleppte sich unter die Dusche. Die Müdigkeit machte ihre Glieder schwer und ständig musste sie gähnen. Kopfschmerzen begleiteten sie seit dem Aufwachen und sie hoffte, dass eine warme Dusche ihr helfen könnte, sie loszuwerden.
Dennoch galten ihre ersten klaren Gedanken Steppi, und Julia war froh, dass das warme Wasser die aufkommenden Tränen gleich fortspülte. Sie hatte den Abend gestern immer noch nicht realisiert und in ihr keimte die Hoffnung, dass das alles nur ein übler Scherz gewesen war, auch ohne ersten April.
Die Dusche tat ihr gut, das warme Wasser ließ sie ihre Haut wieder spüren und ein wenig wacher werden. In frischen Klamotten und mit zusammengebundenen, nassen Haaren tappte sie dann in die Küche, denn Liv wartete sicher nicht ewig mit dem Frühstück.
Am kleinen Küchentisch saßen Niklas und Liv, die beide aufschauten, als Julia den Raum betrat. Obwohl die Augenringe noch deutlich waren, sah sie schon viel besser und vor allem wacher aus.
Niklas stand auf und nahm sie in den Arm.
„Hej, wir haben uns noch gar nicht gesehen. Möchtest du was frühstücken? Liv hat gesagt, du isst gerne Obst, und Nutella ist auch da?“.
Die Erwähnung von Nutella entlockte Julia ein kurzes Grinsen.
Sie setzte sich zwischen das Pärchen und griff nach einem Brötchen, denn langsam meldete sich ihr Hunger tatsächlich.
Eine Weile frühstückten die drei schweigend zusammen. Julia war froh über den Kaffee und Niklas und Liv wussten beide nicht so richtig, wie sie Julia am Besten auf alles ansprechen sollten. Schließlich rang sich Liv trotzdem dazu durch, denn irgendwie musste die Hilfe ja beginnen.
„Wenn du magst, kannst du erst mal auf dem Schlafsofa bleiben, vielleicht hat sich ja auch in ein paar tagen alles erledigt, okay?“.
Liv hatte über die Worte lange und sorgfältig nachgedacht, aber selbst diese ausgewählten Worte brachten Julia nahe an den Rand eines Tränenausbruchs. Sie konnte es ihr nicht verübeln, aber wenigstens etwas essen sollte Julia in Ruhe. Deshalb streichelte sie ihr behutsam über den Arm.
„Weinen ist wichtig, ich weiß. Aber iss wenigstens etwas zwischendurch, sonst hat dein Körper keine Kraft mehr, zu weinen, okay?“.
Bemüht, die Tränen unter Kontrolle zu halten, nickte Julia nur und trank einen Schluck Kaffee, um sich abzulenken.
„Und wenn es sich nicht geklärt hat, bleibst du eben länger. So unser Babyzimmer ist noch frei, zumindest ein Weile und ich denke, dass wenn wir ein Kind kriegen wir gehen sowieso nach Kiel“, setzte Niklas hinzu und das überforderte Julia.
Allein der Gedanke, dass es sich nicht wieder schnell einrenken würde, war zu viel und sie brach doch in Tränen aus.
Liv strafte Niklas mit einem abwertenden Blick und nahm Julia in den Arm.
„Großartig Niklas, wirklich. Das hast du ganz wunderbar gemacht. Manchmal kannst du wirklich ein Trampeltier sein.“
Niklas verstand nicht wirklich, was an seinem Verhalten falsch gewesen war, aber er beeilte sich, schuldbewusst auszusehen. Dass Julia wegen ihm weinte war wirklich nicht beabsichtigt gewesen.
„Julia, lass dich doch von uns ein bisschen ablenken“, schlug Liv vor, „was hältst du davon, irgendwas zu unternehmen, wir könnten in den Zoo gehen oder so. Damit du etwas anderes siehst.“
„In den Zoo wollte ich mit Steppi auch“, schniefte Julia und Liv dämmerte, dass auch ablenken gar nicht so einfach war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Hilfesuchend warf sie einen Blick zu Niklas, aber der hob nur fragend die Schultern. Liv war in solchen Dingen immer besser gewesen und das hatte sich bisher auch nicht geändert. Niklas hatte keine Ahnung, was er machen sollte.
„Ich telefoniere mal meine Jungs durch. Vielleicht hat sich Steppi ja bei einem gemeldet und wir erfahren mehr“, schlug er vor.
„Die Idee ist gar nicht schlecht“, meinte Liv anerkennend, „mach das. Vielleicht wissen wir ja dann mehr.“
Weil Niklas nicht alles vor Julias Ohren bereden wollte, verließ er mit seinem Handy den Raum.
Julia war inzwischen dabei, sich wieder zu beruhigen. Mittlerweile fehlte ihr auch die Kraft, denn die ganze Situation überforderte sie. Liv reichte ihr ein paar Taschentücher und stellte dann den Kaffee vor sie.
„So, jetzt aber einen Schluck Kaffee und dann ist wieder alles in Ordnung“, versuchte sie, Julia aufzumuntern. Sie hatte Glück, mit einem grenzenlosen Optimismus gesegnet worden zu sein und sie hoffte, dass er in diesem Fall auf Julia abfärbte. Tatsächlich griff Julia nach der Kaffeetasse und widmete sich auch wieder ihrem Brötchen.
„Wohin ist Niklas?“, fragte sie, erst jetzt war Julia aufgefallen, dass er gar nicht mehr am Tisch saß.
„Er telefoniert. Vielleicht weiß jemand von der Mannschaft irgendwas genaues, er hat versprochen, mal alle zu fragen. Er weiß nämlich nichts“, erklärte Liv und sie hoffte, dass Julia nicht gleich wieder weinte, aber sie hatte Glück.
Julia antwortete nur ein leises „achso“, dann war sie still.
Während Liv sich jetzt auch ihrem Frühstück widmete, beäugte sie Julia skeptisch. Die Stille war ungewöhnlich und Liv war sich nicht sicher, ob mit Julia alles so in Ordnung war, wie es wirkte. Natürlich sah sie kaputt aus, aber nicht eine einzige Träne fand mehr den Weg nach außen.
Schließlich kam Niklas wieder ins Zimmer und seinem Gesicht nach zu urteilen hatte er keinen Erfolg gehabt. Die Frauen schauten beide von ihrem Essen auf.
„Sorry Mädels, keiner weiß etwas. Alle waren nur schockiert oder sie haben gedacht dass ich verarsche sie. Aber jetzt weiß es wenigstens jeder. Ich hoffe dass Steppi überlebt das nächste Training heute Mittag.“
Auch wenn sich Enttäuschung in Julia breit machte, freute sie sich über den Rückhalt der Mannschaft, die sie teilweise ja noch nicht einmal wirklich kannte.
„Das ist schade“, kommentierte Liv, „aber irgendwie kriegen wir das schon raus, da bin ich mir sicher. Steppi kann sich nicht für immer vor allen verstecken, früher oder später muss er etwas sagen. Und bis dahin machen wir uns ein entspanntes Leben.“
Liv lächelte Julia zu, und diese lächelte sogar zurück. Vielleicht war es nicht die schlechteste Möglichkeit, bei Liv und Niklas zu wohnen. So bekam sie noch einiges von Steppi mit und konnte ihm wenigstens irgendwie nahe sein.
Auch Niklas setzte sich jetzt endlich zum Frühstück an den Tisch und griff nach einem Brötchen. Die Telefonate waren allesamt komisch gewesen. Er hatte nicht jeden angerufen, aber Mads, Harald, Lexi und Steini hatten nichts zu berichten gewusst. Aus Erfahrung konnte er sich aber darauf verlassen, dass sie jetzt die Ohren offen halten würden, wenn sie mit Steppi Kontakt hatten.
„Lass uns einen großen Eisbecher essen und dann ins Kino um die Ecke“, schlug Liv vor, wild entschlossen, Julia abzulenken. „Wir werden uns schon auf einen Film einigen können.“
Julia hob die Schultern. Sie fand die Idee eigentlich gar nicht so schlecht, hatte aber keine Ahnung vom aktuellen Kinoprogramm, das warf sie dann auch ein.
„Das ist doch kein Thema, wir gucken nachher einfach mal auf die Plakate und entscheiden uns dann. Oder wir gucken im Internet. Aber erst nach dem Eis. Und im Kino dann Nachos!“.
„Na zum Glück muss ich nicht mit, die Essen würde man mir niemals verziehen“, lachte Niklas. Manchmal vermisste er das hemmungslose Schlemmen sogar, aber bald war ja wieder Sommerpause.
„Okay, machen wir so“, stimmte Julia zu und Liv seufzte erleichtert. Sie würde auch Spaß haben an dem Tag, aber noch viel wichtiger war es, dass Julia abgelenkt war.
Gemeinsam räumten die drei dann das Frühstück ab und Niklas verabschiedete sich zum Training, er wollte vorher noch einkaufen.
„Wir beide machen uns jetzt erst mal hübsch. Es gibt wohl kein verschlafenes Gesicht, dass Makeup nicht wieder hinkriegen würde“, beschloss Liv, „und die Haare mache ich dir auch. Wir machen einen Mädelstag und erst heute Abend fällt dieser böse Name wieder, okay?“.
Mittlerweile war Julia Liv richtig dankbar, dass sie sich so ins Zeug legte für sie. Die Ablenkung tat ihr zunehmend gut und deshalb bemühte sie sich auch, auf alles einzusteigen, was sie sonst vielleicht nicht getan hätte.
Lächelnd nickte sie und folgte Liv ins Bad.