Steppi freute sich schon die ganze Woche auf den Besuch seiner Schwester. Sie hatte sich ihm per SMS angekündigt und da er fand, dass sie sich sowieso viel zu selten sahen, hatte er sofort zugesagt. Dafür musste ein Treffen mit den Jungs ausfallen, aber die hatten natürlich alle Verständnis gezeigt. Das Wetter war wunderbar und so konnten sie sich gemütlich in den Garten setzen und hoffentlich eine Menge Neuigkeiten austauschen.
Gespannt erwartete er ihr Taxi, die Fahrt von Frankfurt konnte manchmal, je nach Staulage, schon nervig lang werden. Ungeduldig tigerte er in der Wohnung umher, er konnte das Klingeln aber nicht abwarten und stand schon vor der Ankunft des Taxis an der Tür und spähte die Straße hinauf und hinunter, immer auf der Suche nach einem Auto.
Schließlich wurde seine Ausdauer belohnt und ein typisch gelber Wagen mit Taxiaufsatz bog in die Straße ein, tatsächlich stieg auch seine Schwester aus ebenjenem Auto. Der Fahrer half ihr noch, ihr Gepäck aus den Kofferraum zu laden, dann verabschiedete er sich und fuhr weiter.
Inzwischen lagen sich die Geschwister in den Armen. Nach so langer Zeit waren alle Streits vergessen, dafür hatten sie sich zu sehr vermisst. Da die meisten Streits ohnehin nur Banalitäten waren, war das auch keine große Sache. Nur Steinunn schluckte schwer bei dem Gedanken, Steppi heute noch konfrontieren zu müssen. Dennoch freute sie sich sehr, ihren kleinen Bruder zu sehen und umarmte ihn fest zur Begrüßung. Er sah nicht sehr traurig aus, stellte sie auf den ersten Blick fest.
„Wie geht es dir in letzter Zeit, Schwesterherz? Erzähl mal ein bisschen von dir und meinen Nichten, ich vermisse sie sehr“, forderte sie Steppi auf, während er ihr den Koffer ins Wohnzimmer trug. Sie würde nur eine Nacht bleiben, dann müsste sie wieder zurückfliegen.
Bereitwillig erzählte Steinunn von ihren beiden Töchtern, die Steppi abgöttisch liebte, ihnen ging es umgekehrt nicht anders. Sie zeigte ihm ein paar Fotos von Schulauftritten und obwohl Steppi sich darüber freute merkte Steinunn, dass es ihm weh tat, bei alldem nicht dabei sein zu können. Weil Steinunn meinte, dass jetzt der richte Augenblick war, startete sie ihre Offensive.
„Sag mal Steppi, wie gerne hast du Julia eigentlich noch? Bist du über sie hinweg?“.
Seine Reaktion hätte die meisten anderen Antworten Lügen gestraft, aber auch seine Antwort passte nicht ganz zu seiner aufgewühlten Reaktion. Steppi sprang vom Sofa, auf dem er bis eben bequem gesessen hatte, auf und lief vor seiner Schwester auf und ab.
„Wieso fragst du sowas? Das ist doch jetzt überhaupt kein Thema mehr. Sie ist weg und das ist auch gut so.“
„Mh“, machte Steinunn nur, dann lehnte sie sich zurück und beobachtete ihren Bruder. Er wirkte nervös und sie fragte sich, was ihn so nervös machte, wenn er eigentlich mit Julia abgeschlossen zu haben schien.
„Wieso fragst du?“, wiederholte Steppi seine Frage, dieses mal argwöhnischer. Er wusste, dass wenn seine Schwester etwas fragte, auch ein Grund dahinter steckte. Und er befürchtete, dass ihm der Grund nicht gefallen würde.
Steinunn zögerte einen Moment, sie befürchtete einen Wutausbruch. Aber das hatte sie sich selbst eingebrockt.
„Weil ich mich gestern mit ihr getroffen habe“, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme.
Steppi stöhnte auf und war versucht, gegen das Tischbein des Wohnzimmertisches zu treten, entschied sich dann aber wegen des Schmerzes dagegen.
„Warum triffst du dich mit ihr? Was hat sie dir schon zu sagen? Hat sie dich mit ihren Lügen eingewickelt?“.
„Bist du dir sicher, dass es Lügen sind?“, fragte Steinunn ruhig, „oder, warum bist du dir denn so sicher, dass es Lügen sind? Wer hat dir das gesagt?“.
Steppi fühlte sich ertappt und starrte seine Schwester durchdringend an. Was hatte Julia nur getan, um sie zu überzeugen?
„Natürlich bin ich mir sicher, wie soll man denn schwanger sein und dann plötzlich beim Test doch nicht? Das ist ausgemachter Unsinn, so etwas geht nicht.“
Wut kochte in Steinunn hoch, auch wenn sie wusste, dass es nicht ganz berechtigt war. Steppi war noch sehr jung gewesen und wenn sie zurückdachte war sie sich nicht einmal mehr sicher, ob sie ihm damals überhaupt davon erzählt hatte. Deshalb bemühte sie sich, ruhig zu bleiben.
„Dass das schräg klingt, kann ich mir wirklich gut vorstellen, Bruderherz, das kannst du mir glauben. Aber leider ist das gar nicht so ungewöhnlich, wie du vielleicht meinst. Viele Frauen leiden darunter. Ich auch, übrigens. Du warst damals noch ziemlich klein, ich glaube, du hast das nicht richtig verstanden.“
Abrupt blieb Steppi stehen. War das denn noch eine Lüge? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass Steinunn ihm jemals etwas in der Art erzählt hatte, aber wenn er wirklich so klein gewesen war wie sie sagte, dann hatte er Verständnis dafür, oder? Und wenn das wirklich stimmte, vielleicht konnte es ja dann auch sein, dass Julia ihn gar nicht angelogen hatte? Hatte er sich tatsächlich blenden lassen von… ja von wem? Von Lilja? Beschämt schlug er die Hände vor das Gesicht. Er konnte gar nicht glauben, wie dumm er gewesen war.
Steinunn beobachtete Steppi geduldig. In ihm schien es zu arbeiten, deshalb schwieg sie. Sie hatte den Eindruck, dass sie Steppi hatte überzeugen können. Dann war seine Haltung gegen Julia vermutlich auch nie wirklich ausgeprägt gewesen.
Steppi rieb sich aufkommende Tränen aus den Augen.
„Dein Ernst? Was du mir gerade erzählt hast?“, fragte er mit belegter Stimme.
Steinunn nickte nur.
„Ich habe keine Zweifel daran, dass Julia die Wahrheit erzählt, sie hat dieselben Symptome und Behandlungen wie ich. Sie hat dich nie hintergehen wollen. Das passt einfach nicht zu ihr.“
„Scheiße“, murmelte Steppi und senkte den Kopf. Er hatte seine Beziehung weggeworfen für nichts. Nervös fuhr er sich mit einer Hand über Gesicht und Haare. Vermutlich würde er das nie wieder gut machen können. In Beziehungen war er noch nie so erfahren gewesen, aber die erste richtige Beziehung hatte er wohl gründlich vergeigt.
„Was mache ich jetzt?“, fragte er mehr zu sich selbst, aber Steinunn hatte ihn dennoch gehört.
„Was willst du denn machen? Dich entschuldigen ist das mindeste, aber ob das reicht weiß ich ehrlich gesagt nicht.“
„Keine Ahnung. Soll ich überhaupt noch was machen? Was hat Julia denn gesagt? Wie geht es ihr? Wenn du sie getroffen hast, kannst du mir noch ein bisschen was erzählen, oder?“.
Mitleidig seufzend machte Steinunn es sich auf dem Sofa bequem. Ihr kleiner Bruder hatte es mal wieder geschafft, sie weich zu kochen, sie war absolut auf seiner Seite.
„Ich hatte das Gefühl, es geht ihr ganz gut, jedenfalls habe ich sie nicht weinen sehen. Aber ich glaube, dass die Ausschabung und deine Abfuhr ganz schön was hinterlassen hat. Trotzdem hat sie gesagt, dass sie immer noch etwas für dich empfindet. Ich denke, wenn ihr das beide richtig angeht, dann sollte es kein Problem sein, nochmal miteinander auszukommen. Aber nur dann, wenn ihr alle Karten offen legt.“
Dieser letzte Satz trieb Steppi den Schweiß auf die Stirn. Als hätte Steinunn Bescheid gewusst, hatte sie eine sehr empfindliche Stelle getroffen. Auch Steinunn war die nervöse Reaktion ihres Bruders nicht entgangen und sie runzelte die Stirn. Sie war sich fast sicher, dass er noch etwas vor ihr zu verbergen hatte und auf die Auflösung war sie sehr gespannt.
„Was ist los, Bruderherz? Du verschweigst mir noch irgendetwas, du siehst nervös aus.“
Steppi rang mit sich, Steinunn wirklich davon zu erzählen. Er konnte sich das Donnerwetter ausmalen und wenn sie das dann noch Julia erzählen würde, könnte er die Versöhnung begraben gehen. Andererseits war es nicht fair, nichts zu sagen. Außerdem war er technisch gesehen single gewesen, machte er sich Mut.
„Naja, ja, da gibt es etwas, das habe ich noch nicht erzählt. Nach dem Streit war ich zwei Tage auf Island, ich habe bei Aron geschlafen. Da habe ich dann Lilja eher zufällig getroffen und naja, sie hat sich mir ja schon immer angeboten, und ich war frustriert und single und...“.
Steinunn hob die Hand, um ihren Bruder zum Schweigen zu bringen. Sie konnte sich den Rest denken und hätte ihn dafür am liebsten geächtet.
„Ist das dein Ernst? Du hast dich mit der da eingelassen? Von mir aus bist du single gewesen wenn du das meinst, aber die Frau ist wirklich sehr ekelhaft. Und ob Julia das interessiert, dass du deiner Meinung nach single warst, das wage ich mal zu bezweifeln.“
Steppi presste die Kiefer aufeinander, die Antwort schien ihm nicht zu passen, wie Steinunn feststellte, aber sie hob die Schultern.
„Ich habe nicht jemand so Billigen an mich ran gelassen, da bist du selbst Schuld. Aber ich werde es nicht petzen, da kannst du schön selbst schauen, wie du wieder raus kommst.“
„Du verpetzt mich nicht?“, fragte Steppi verwundert.
„Nö. Ich denke, du hast mit der Last genug zu tragen. Ich jedenfalls gehe jetzt erst mal schlafen, ich bin echt müde und so viele Gespräche sind auch anstregend.“
„Du, ähm, kannst in meinem Bett schlafen, ich schlafe auf dem Sofa“, bot Steppi immer noch verwirrt an und Steinunn lächelte.
„Na immerhin ein bisschen Anstand vor Frauen hat sie dich gelehrt. Danke, Bruderherz. Wir können morgen gerne nochmal über alles reden, aber ich bin echt beeindruckt, wie viel Mist du gebaut hast.“
Sie stand auf und ging in Richtung des Schlafzimmers, sodass sie nicht mehr sah, wie Steppi hinter ihr die Augen verdrehte. Hoffentlich würde er Julia von sich aus alles beichten, denn sie hatte keine Lust, den Spielverderber zu spielen, es würde nur Hass säen, wen sie sich einmischen würde.
„Gute Nacht“, rief sie noch, dann schloss sie die Tür und machte sich bettfertig.
Währenddessen zog sich Steppi ebenfalls aus und machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Dabei grübelte er darüber nach, wie er am besten wieder mit Julia in Kontakt kommen könnte. Aber vielleicht sollte er erst einmal alle Neuigkeiten mit seinen Freunden besprechen und einen Schlachtplan entwerfen.