Irgendwo auf dieser Welt.
In einer Stadt, die du kennst.
Vielleicht in deiner Nachbarschaft.
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Es war bereits spät in der Nacht, als der Junge das Haus verließ und die wütende Stimme seiner Mutter, die ihm nachschrie, hinter sich ließ.
Es war immer das gleiche, wenn er von einer Party heimkam. Mal wurde sie wütend, weil er zuviel getrunken hatte, mal, weil er zu spät wieder heim gekommen war und einmal hatte sie ihm sogar vorgeworfen, Drogen konsumiert zu haben. Der Junge schüttelte bei dem Gedanken daran nur den Kopf.
Es würde einige Tage dauern, bis sich die Wogen zwischen ihm und seiner Mutter wieder geglättet hatten.
Für diese Nacht jedoch, zog er es vor ihr und dem Haus fernzubleiben.
Er durchquerte die leeren Gassen der Großstadt. Selbst jetzt, mitten in der Nacht, fuhren noch Autos auf den Straßen, blendeten den Jungen mit ihren Scheinwerfern.
In der Ferne konnte er gelegentlich das Hupen der Autos wahrnehmen, wenn den Fahrern mal wieder ewas nicht passte.
Am Himmel sah man die grellen Lichter einer Diskothek und je näher der Junge dieser kam, desto lauter wurde die Musik, die aus dem Gebäude drang.
Der Junge durchquerte die Stadt, lief an zahlreichen Hochhäusern vorbei und versuchte sich auszumalen, welche Art von Menschen wohl in den Wohnungen lebte. Und was sie gerade taten. In manchen Stockwerken brannte noch Licht und durch die Fenster konnte man das Flimmern des Fernsehers erkennen. In anderen wiederum war es stockdunkel.
So unterschiedlich wie die Stadt ist, sind auch die Menschen, die sie bewohnen, dachte der Junge.
Er lief weiter, entfernte sich immer mehr vom Zentrum der Stadt und je weiter er an den Rand kam, desto ruhiger wurde es. In der Ferne hörte er einen Hund jaulen, kurz darauf das genervte Brüllen eines Mannes.
Der Junge bog in eine kleine Gasse ein, die kaum beleuchtet war.
Wäre er das erste mal an diesem Ort, hätte er den Eingang in das Gebäude vermutlich nicht so schnell gefunden. Doch er kannte diese Gegend mittlerweile in- und auswendig. Das Hochhaus war unter all den Einfamilienhäusern, die es umgaben, nicht zu übersehen. Doch es war, wie die meisten anderen Gebäude in dieser Gegend auch, einsturzgefährdet und daher nicht mehr bewohnt.
Das war dem Jungen mehr als recht. Seit ihn ein Freund mit in das Innere des Gebäudes genommen hatten, war er öfter her gekommen. Meist, um alleine zu sein und um nachzudenken. Es war selten, dass er Freunden diesen Ort zeigte. Es sollte etwas ganz besonderes bleiben, bis hoch auf das Dach zu steigen und von dort nahezu die gesamte Stadt zu überblicken.
Der Junge kroch unter einem Holzbrett hindurch, das an der Tür festgenagelt wurde, um den Bürgern zu signalisieren, dass das Betreten verboten war. Erfolglos.
Er tastete sich den Gang entlang, bis er das Geländer der Holztreppe zu fassen bekam und lief hinauf. Insgesamt zwölf Stockwerke musste der Junge passieren, bevor er oben auf dem Dach stand.
Kaum hatte er die schwere Metalltür hinter sich geschlossen und einmal tief durchgeatmet sah er ihn: Den fremden Jungen der wenige Schritte von dem Vorsprung entfernt stand und hinuntersah.
" 'tschuldigung. Brauchst du noch lange?", fragte er.
Der Fremde hatte ihn bisher wohl noch nicht bemerkt, so erschrocken wie er sich umgedreht hatte. Mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen sah er den Neuankömmling an.
"Nein, bin gleich weg", antwortete der Fremde. Er war trotz dem Schreck von eben wieder vollkommen ruhig.
Jetzt, da sich der Fremde Junge zu ihm umgedreht hatte, konnte er erkennen, dass sie wohl in ungefähr gleichalt sein mussten. Der Fremdling hatte kurze blonde Haare und dunkelbraune Augen. Eine ziemlich ungewöhnliche Kombination, hatte er doch bisher nur Leute mit blondem Haar und blauen oder grünen Augen getroffen.
"Na dann noch viel Spaß", meinte er schulterzuckend und setzte sich vor die Tür, aus der er gerade gekommen war.
Erwas irritiert sah der Blondschopf ihn an, nickt jedoch und wandte sich wieder dem Vorsprung und der Straße unter ihn zu.
"Wie heißt du eigentlich?", fragte er nach einigen weiteren Minuten, in denen Blondi sich keinen Zentimeter bewegt, sondern nur nach unten gestarrt hatte.
"Paul", kam die Antwort.
"Okay Paul. Ich bin Benjamin, aber Freunde dürfen auch Ben sagen", er lächelte leicht, obwohl er wusste, dass Paul es nicht sehen würde, da er ihm den Rücken zugekehrt hatte.
"Okay ... Benjamin", kam es nach einer Weile.
"Und wie alt bist du?", fragte Ben erneut.
"17"
"Okay ... Ich auch." Er hatte also recht gehabt, mit seiner anfänglichen Vermutung.
"Und wo kommst du her? Weißt du, ich hab dich hier noch nie gesehen und ich bin oft hier", fragte Benjamin nach einer Weile. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte, da Paul immer noch keine Anstalten machte, sich in geringster Weise auf den Abgrund zu oder fort zu bewegen.
Jetzt drehte er sich jedoch wieder zu Ben um. Er ballte seine Hände zu Fäusten, seine Stimme war aber immernoch ruhig.
"Hör mal zu, Benjamin. Wenn du willst, kannst du gerne als erster", er deutete auf den Dachvorsprung, "und wenn nicht, dann sei jetzt endlich leise."
"Warum?"
"Weil ich hierfür meine Ruhe brauche. Kannst du nicht auf anderen Dächern sitzen?"
"Nein, ich meinte, warum du springen willst?", erklärte Benjamin.
Paul sah ihn lange an. "Unser aller Leben endet mit den Tod. Wieso sollten wir dem nicht ein wenig nachhelfen, wenn wir denken, dass der richtige Moment gekommen ist? Ich habe alles gesehen, was ich sehen muss. Ich kann gehen."
Es gibt keinen richtigen Moment zum sterben, dachte Ben.
"Achso. Du bist also noch einer von der Sorte, die rumweint, das Leben scheiße findet und es beenden will, wegen irgendwelchen Lappalien. Was ist es diesmal? Hat deine Freundin Schluss gemacht?
Hast du nicht das Neuste iPhone bekommen?" Benjamins Stimme hatte einen sarkastischen Unterton angenommen. Er konnte solche Leute nicht besonders gern leiden, die schon wegen kleinsten Problemen alles hinwerfen wollten.
Paul blinzelte. "Wenn du nur gekommen bist, um mich vom Springen abzuhalten, kannst du gleich wieder gehen. Du weißt ja offenbar wo die Tür ist und wie man sie benutzt."
"Nein, ich habe es nicht nötig, dir irgendwelche Vorträge darüber zu halten, wie toll das Leben ist. Deine Entscheidung steht ohnehin schon fest. Und es ist dein Leben. Mach damit, was du willst", antwortete Benjamin schulterzuckend und kramte einen Schokoriegel aus seiner Jackentasche, den er eingesteckt hatte, bevor er das Haus verlassen hatte.
Paul war sichtlich überrascht von dieser Antwort, drehte sich jedoch wieder um und ließ seinen Blick über die Skyline schweifen.
"Du musst fliehen. Bevor sie dich so weit manipulieren, dass du nur noch existierst, um ihre Befehle auszuführen. Bevor du kein eigenständig denkender Mensch mehr bist.", erklärte Paul nach einer Weile, in der beide geschwiegen hatten.
"Aber vor wem?", nun war es für Benjamin an der Zeit verwirrt zu sein.
"Vor unserer Gesellschaft.", antwortete Paul düster, ohne Ben anzusehen.