»Ein Jahr, Gregoire. Was ist denn bitteschön ein Jahr? Oder auch eineinhalb ... was ist das denn?« Madame Walace saß in die Ecke des Sofas gedrückt, die Knie an die Brust gezogen, die Haare nicht frisiert und eine Tasse Tee in den zittrigen Händen haltend.
»Es ist nicht viel. Aber alles, was wir noch haben, Muriel.« Ihr Gatte hatte die Arme auf die Knie gestützt und starrte auf den bunten Teppich.
»Das ist ... das kann nicht ... das ist so ...« Madame Walace fand keine Worte und nippte an ihrem Getränk. »Warum hat er nie etwas gesagt? Wir hätten ...«
»Sei ehrlich zu dir selbst. Hättest du gedacht, dass es mehr als Migräne ist? Ich hätte das nicht. Wer hätte das wissen sollen.«
»Wir, Gregoire. Gott, wir sind doch seine Eltern. Es ist doch unsere Aufgabe, unser Kind zu beschützen ...« Die Frau begann zu weinen und verstummte. Ihr Mann legte ihr sanft die Hand auf die Finger.
»Wir können nichts tun außer ihm die Zeit so schön wie möglich zu machen. Wir sollten im Herbst unbedingt noch mal an die Côte d'Azur mit ihm fahren und nach Monaco. Das hat ihm doch gefallen, erinnerst du dich?«
Sie nickte und ein feines Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht. »Ja. Und das sollten wir unbedingt. Aber ... vielleicht ... Gregoire, er ist ein Teenager. Vielleicht ist es nicht sein Wunsch, die letzten Monate mit seinen Eltern zu verbringen, sondern mit seinen Freunden ... mit einem Mädchen vielleicht. Du weißt doch, wie Jungs in dem Alter sind ...«
»Wir finden einen Weg, dass er beides haben kann. Zeit mit uns und mit seinen Freunden. Nenn' mich egoistisch, aber ich werde die letzten Monate meines Sohnes nicht verstreichen lassen, ohne so viel Zeit wie möglich mit ihm zu haben.«
Muriel nickte und ließ sich etwas in das Polster sinken. Sie war erschöpft, weil sie die ganze Nacht unruhig gewesen war. Trotz des Schlafmittels, das ihr verabreicht worden war, hatte sie schlecht geschlafen, wirre Träume hatten sie geplagt und in der Früh war sie aufgeschreckt, als das laute Bellen des Familienhundes Sasha durch den Hof geschallt hatte. Hektisch war sie aufgesprungen und hatte im Zimmer ihres Sohnes nach ihm gesucht, doch sowohl seine Jacke als auch die Hundeleine waren verschwunden gewesen. Sein Handy hatte er auf dem Bett liegen lassen, obwohl er wusste, dass seine Mutter das hasste.
Sie hatte wie auf Kohlen dagesessen, bis er schließlich gegen Mittag nach Hause zurück gekommen war. Gern hätte sie den Tag mit ihm verbracht und über alles gesprochen, doch er hatte abgeblockt. Sie verstand ihn. Einerseits. Denn er war noch ein halbes Kind und sah sich nun seinem Ende gegenüber.
Sterblichkeit war etwas, über das man in diesem Alter nicht nachdachte. Doch er musste es nun. Als er sie angeschrien hatte, dass sie ihn in Ruhe lassen solle, war sie zusammengezuckt. Doch sie war ihm nicht böse deswegen. Er musste ebenso mit der Situation zurechtkommen wie sie und sein Vater.
Und Lucien war noch nie ein Kind gewesen, das sich gern seinen Eltern anvertraut hatte. Er machte alles mit sich selbst aus. Das war schon immer so gewesen. Als er im Kindergarten von dem kleinen Grantaine-Jungen geärgert worden war, hatte er ihnen nichts davon gesagt. Sie hatten es von der Kindergartenleitung erfahren müssen.
Madame Walace war sich sicher, dass er auch diesmal nicht von sich aus kommen und über die Situation würde sprechen wollen. Er würde weiter abblocken und so tun, als wäre nichts.
Das betrübte sie. Doch sie konnte ihn nicht zwingen. Sie hatte einen Eigenbrötler aufgezogen, der frech war, der die Schule schwänzte und der schon immer seinen eigenen Kopf gehabt hatte. Doch sie liebte ihn deswegen nicht weniger und er war deswegen nicht weniger ihr Sohn. Ihr kleiner Junge.
Sie hingegen hatte das unbedingte Bedürfnis, über diese Sache zu sprechen. Sie musste dieses bedrückende Gefühl der Endgültigkeit mit jemandem teilen. Dieses Gefühl, zu zerspringen und alles zu verlieren, was sie liebte.
Wie ging man um mit einer solchen Situation? Wie verarbeitete man den bevorstehenden Tod des eigenen Kindes, wenn dieses nicht darüber reden wollte?
Ebenso wenig wie ihr Mann es wollte. Beide, Gregoire und Lucien, waren vom selben Schlag. Sie saßen beide Sachen lieber aus und sprachen nicht gern über sich selbst.
Es kam selten vor, dass Gregoire seinen Gefühlen durch Worte oder Taten Ausdruck verlieh. Umso mehr freute und tröstete es sie, dass er sie nun sanft mit einer Decke zudeckte und mit der Hand über ihr Haar strich.
»Ruh' dich etwas aus. Es bringt nichts, wenn du dich jetzt kaputt machst. Noch haben wir ihn nicht verloren.«
»Noch haben wir etwas Zeit, ja ...«
.
Lucien schulterte seinen Rucksack, als er vor dem Lycée zum Stehen kam. Er schloss einen Moment die Augen und ließ alles auf sich wirken. Das Leben war in die Stadt zurückgekehrt und der Verkehrslärm sowie das Lachen, Reden und Murren seiner Mitschüler vermischte sich in seinen Ohren zu einem Brei aus Geräuschen. Gänsehaut kroch unter seiner Jacke über seine Arme und er schmunzelte.
Leben. So einfach und doch so komplex, wunderbar, laut und aufregend. Er hatte allerdings nicht die geringste Lust, jetzt in den Unterricht zu gehen und seine Zeit zu vergeuden.
Stattdessen hatte er sich in der Nacht etwas überlegt. Er musste ein Zeichen setzen, etwas, wodurch man ihn nicht so schnell vergaß, wenn er erst einmal weg war. Klar konnte er überall an jede Wand in der Schule seinen Namen hinschreiben - was er bereits fest geplant hatte - aber das würde man irgendwann überpinseln und weg war er.
Er wollte Spuren hinterlassen, mehr sein als der kleine Querulant, der gern Widerworte gab und dem Unterricht fernblieb oder dem Schulsprecher auf die Nerven ging. Er musste sichtbar sein, auffallen, irgendetwas tun, um zu verdeutlichen, wie er sich fühlte, ohne dass er dafür Worte benutzen musste.
Und da er nicht alles zu Klump hauen konnte, was ihm vor die Füße kam - auch wenn er das gern wollte, denn tief drin in ihm war ein Gefühl, das er nicht beschreiben konnte, das er aber auch nicht fühlen wollte. Etwas Nagendes, Heißes, Niederträchtiges und Gemeines, das heraus wollte, um jeden zu verletzen, der ihm vor die Linse kam, einfach nur, weil dieser Jemand gesund war und leben würde.
Lucien atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und wandte sich dann ab. Er hatte etwas zu erledigen, bevor er in die Schule gehen konnte.
Seine Eltern waren, damit ihnen zuhause nicht die Decke auf den Kopf fiel, zur Arbeit gegangen. Sein Vater konnte als Pilot einer französischen Airline nicht einfach nicht zur Arbeit gehen und seine Mutter war in der Verwaltung derselben Fluglinie. Der Jugendliche hatte die Wohnung also für sich, obwohl er sich sicher war, dass er keine Rüge zu erwarten hätte für dieses Schwänzen. In seiner Situation, blablabla ...
Er wusste, dass er genauso gut sagen könnte, dass er die Schule schmeißen wollte, da sie nun unnötig für ihn geworden war. Immerhin würde es keine Zukunft mehr geben, für die er würde arbeiten müssen.
Doch er wollte das gar nicht. Er hatte zwar keine Lust auf den Unterricht, aber er wollte auch nicht den ganzen Tag zuhause hocken und auf sein Ende warten. Er wollte Leute um sich haben, die er bereits sein ganzes Leben kannte, auch wenn er bis auf Etienne eigentlich keine engen Freunde hatte und die meisten ihn für einen arroganten Tyrannen hielten, der Mädchen schlecht behandelte und mit ihren Gefühlen spielte. Doch es war nicht sein Problem, wenn diese Hühner sich immer wieder in ihn verliebten, ihm Liebesbriefe zusteckten und er ihnen dann einen Korb gab, damit sie damit aufhörten.
Er hatte kein Interesse. Er spielte gern, aber er wollte weder eine Freundin noch irgendwelche Liebesprobleme haben.
So etwas war ohnehin nichts für ihn. Die Person, die er lieben könnte, die gab es in seinem Leben nicht und er hatte nicht mehr die Zeit, sie zu finden. Vielleicht sollte er stattdessen annehmen, was die Mädchen ihm anboten. Ein paar Erfahrungen sammeln, bevor er abtrat.
Ohne auf seine eintrudelnden Mitschüler zu achten, schlenderte er vom Schulhof weg und wollte gerade an der Ampel die Straße überqueren, als er eine Stimme hörte, die er nur zu gut kannte.
»Ich schreibe dich auf, wenn du nicht in der ersten Stunde sitzt, Lucien!«
Der Angesprochene pustete sich den schwarzen Pony aus dem Gesicht und wandte sich halbherzig um.
»Dir auch einen guten Morgen, Mathieu. Danke, mir geht es gut. Mann, mach dir nicht gleich in die Hose. Ich komm' schon noch in die Schule. Ich hab was zu erledigen!«
»Der Unterricht beginnt um Punkt Neun Uhr. Das ist in sieben Minuten!«
»Uhrenlesen kann ich auch, vielen Dank.«
»Du ...«, setzte Mathieu an, doch die Ampel schlug auf Grün und Lucien bewegte sich vorwärts.
»Ich komme nachher. Schreib einfach, mir ist schlecht. Eine Entschuldigung hast du morgen.«
Der blonde Mathieu sah dem Jungen verdutzt nach und schüttelte den Kopf. Hinter dieser Entschuldigung würde er wochenlang hinterher rennen, das wusste er jetzt schon! Resignierend bewegte er sich zügig auf das Schulgebäude zu, um selbst nicht zu spät zu kommen.
Lucien hingegen schlenderte gemütlich die Straße entlang, bis er die kleine Einkaufsmeile erreicht hatte. Zielsicher steuerte er eine Drogerie an und suchte nach dem, was er haben wollte.
Zufrieden und hochmotiviert trat er den Heimweg an und betrat die leere Wohnung. Eigentlich eine Zeit, die er liebte. Er mochte es, vormittags, wenn alle anderen woanders waren, zuhause zu sein in der vertrauten Umgebung. Normalerweise rastete seine Mutter regelmäßig aus, wenn sie bemerkte, dass er wieder einmal geschwänzt hatte. Aber da seine Noten trotz allem stabil waren und nicht absackten, konnte sie ihm nicht einmal etwas vorhalten außer der Faulheit, auf der Schulbank zu sitzen.
Seine Sachen im Flur liegen lassend, verschwand er im Badezimmer.
.
»Was hast du dir dabei gedacht?!« Madame Walace krallte ihre Finger in die hölzerne Lehne des unbequemen Stuhls und starrte ihren Sohn entgeistert an. Ihr Gatte war nicht erschienen, weil er irgendwo über Südeuropa in der Luft war.
Der Junge zuckte mit den Schultern und schürzte trotzig die Lippen.
»Madame Walace, ich muss Ihnen nicht sagen, dass das gegen die Schulregeln verstößt, oder?« Eine feiste, kleine Frau in einem blassroten Tweetkostüm saß den beiden gegenüber. Lucien war zur Direktorin bestellt worden in der Sekunde, in der er am späten Vormittag das Schulgebäude betreten hatte.
»Die Schulregeln besagen klar und ausdrücklich, dass jede übermäßig unnatürliche Haarfarbe als Ablenkung zählt und nicht gestattet ist«, presste sie nun hervor und funkelte den Jungen vor sich an, der mit einem Schmunzeln seine Finger durch sein Haar gleiten ließ. Es war nun nicht mehr schwarz, sondern erstrahlte in einem satten, glänzenden Rubinrot.
»Ich verstehe das, Madame, er wird diese Haarfarbe nicht behalten.«
»Doch, das werde ich!«, entgegnete Lucien entschieden.
»Lucien!«
»Was denn? Was will sie tun? Mich rauswerfen? Soll sie doch. Was macht es jetzt noch?«
Die Direktorin verfolgte den Wortwechsel mit verständnislosem Gesicht, bis sich Madame Walace an sie wandte, einen Moment tief und zittrig einatmete und dann versuchte, zu lächeln.
»Richtig. Er spricht da etwas an, über das ich Sie ohnehin informieren muss. Und zwar muss Lucien ab sofort vom Sportunterricht und allen körperlich anspruchsvollen Angelegenheiten befreit werden. Ich habe dafür ein Attest vorliegen«, sie entnahm das Schreiben ihrer Handtasche und schob es der anderen Frau zu, »Ich möchte, dass er weiter die Schule besucht, damit er seine Routine nicht verliert. Und es ist selbstverständlich, dass ich Sie als Direktorin über seinen Zustand informiere, aber es ist auch klar, dass das vertraulich behandelt werden muss. Ich möchte ihm den Stress ersparen, den er bekommen könnte, wenn alle es wüssten.«
Die Frau in dem roten Kostüm las das Dokument mit der Diagnose und nickte schließlich. Ihr verkniffener Gesichtsausdruck war sanfter geworden.
»Das tut mir wirklich sehr leid für dich und deine Familie, Lucien.«
Der Junge zuckte nur mit den Schultern.
»Vielleicht ... können wir die Sache mit der Haarfarbe durchgehen lassen, wenn er sie ein, zwei Nuancen weniger grell färbt, es etwas natürlicher aussehen lässt. Ich werde es vertraulich behandeln, aber ich muss natürlich die Sportlehrkräfte darüber informieren.«
»Natürlich.« Madame Walace erhob sich, ebenso wie die Direktorin, und die beiden reichten sich die Hände. Anschließend nickte die Dame in Rot dem Jungen zu, der trotzig die Hände in den Taschen hatte.
»Auf das wir uns so schnell hier nicht wiedersehen, Lucien«, sagte sie mit einem leichten Schmunzeln, was bei ihr schon fast ein Lächeln war, weil sie sonst immer eher wie eine hungrige Bulldogge aussah.
Es war noch Unterricht, als die beiden Walaces auf den Schulhof traten. Lucien würde heute nicht mehr daran teilnehmen, sondern mit seiner Maman nach Hause fahren, seine Haare dunkler färben und sich erholen. Er hatte Kopfschmerzen bekommen und ihm war schwindelig, aber das wollte er seine Mutter nicht wissen lassen.
»Warum provozierst du so, Luci?«
»Weil ... ach, du verstehst es nicht.«
»Dann versuch, es mir zu erklären. Ich bin nicht dumm, weißt du?«
Der Junge nickte. »Es ist ... keine Ahnung. Ein Fußabdruck. Ich meine ... vorgestern, da war ... alles noch unendlich. Da war ich noch unsterblich. Heute bin ich es nicht mehr. Und ich ... ich will, dass etwas bleibt. Und wenn es nur eine Erinnerung ist.«
Madame Walace lächelte ihren Sohn liebevoll an und strich ihm durch die neuerstrahlten Haare.
»Und was soll die Haarfarbe?«, fragte sie leise glucksend und lachte dann.
»Das ist mein Neubeginn.«