Mathieu Grantaine, Schulsprecher des Lycée de Biarritz, saß noch einige Zeit nach Unterrichtsschluss in dem Zimmer der Schülervertretung und heftete Unterlagen ab.
Um den Jugendlichen mehr Verantwortung zu übertragen und damit sie lernten, diese auch zu tragen, hatten er und seine Assistentin Anais die Aufgabe, Umfragen unter der Schülerschaft durchzuführen, Anliegen und Wünsche mit den Lehrern zu verhandeln, die Anwesenheit der Schüler im Unterricht zu überwachen und die bei Abwesenheit erforderlichen Atteste und Entschuldigungen einzuholen, um sie sowohl in einem Ordner der Schülervertretung abzulegen als auch an die Klassenlehrer weiterzuleiten, sofern diese die nicht als erstes erhielten.
Die meisten Schüler des Lycée waren zuverlässig und reichten die notwendigen Unterlagen sofort nach der Rückkehr aus dem Krankenurlaub ein, doch es gab Ausnahmen. Natürlich.
Denn der Schulsprecher sollte es nicht zu leicht haben, nicht?
Mathieu seufzte und überflog seine Strichliste. Lucien war den ganzen Tag nicht im Unterricht erschienen. Der blonde Jugendliche hatte das auch nicht angenommen, denn der Andere war bekannt dafür, zu schwänzen. Er hatte allein für sich einen ganzen Ordner, der jede einzelne seiner Verfehlungen sammelte, ob es Rauchen auf dem Schulhof war, das Beschmieren der Wände in der Jungentoilette, Schwänzen oder Nachsitzen wegen ungebührlichen Verhaltens.
Mathieu hatte schon oft als Aufsicht in dem Klassenzimmer gesessen, in dem die Strafstunden abgesessen werden mussten, meistens an den eigentlich schulfreien Nachmittagen, die in Frankreich Mittwochs üblich waren, und innerlich den Kopf geschüttelt darüber, dass Lucien nicht im Geringsten das Interesse zeigte, sich zu bessern.
Wann war aus ihm so ein Provokateur geworden? Als sie Kinder gewesen waren, war es doch genau andersherum gewesen. Da war Lucien der Artige und er, Mathieu, hatte andauernd Ärger gemacht. Nur hatte er inzwischen dazu gelernt.
»Wenn ich jetzt wieder wochenlang hinter dem herrenne wegen dem blöden Wisch, hau’ ich ihm eins auf die Nase«, knurrte der Jugendliche und schlug die Mappe zu. Mit steifem Rücken vom langen Sitzen stand er auf und streckte sich wohlig.
Genug der Arbeit für heute. Immerhin war es bereits 18 Uhr, draußen war noch immer wunderbares Wetter und er hatte lange genug über seinen Pflichten gesessen. Mathieu packte seine Tasche und schloss das Zimmer der Schülervertretung sorgfältig hinter sich ab. Es gab ihm ein gutes, ein erwachsenes Gefühl, der einzige Schüler zu sein, der einen Schlüssel für alle Räume der Schule hatte.
Manche meinten, er würde sich darauf etwas einbilden. Doch darauf gab der Blonde nichts. Er war nicht Schulsprecher geworden, weil die Lehrer das so gewollt hatten, auch wenn sie ihn für den Besten dafür gehalten hatten. Der Großteil der Jugendlichen hatte ihn dazu gewählt, ganz demokratisch.
Das ließ ihn jedoch nicht glauben, dass er übermäßig beliebt war. Viel eher betrachtete er es nüchtern: Kaum ein anderer hatte diesen Posten gewollt, denn es bedeutete ziemlich viel extra Arbeit, bis über den Schulschluss hinaus, zusätzlich zu den Hausaufgaben. Er hatte alles zu überwachen, jeder Club, jede AG, jedes Komitee kam mit Fragen zu ihm. Er war es, der in Streit mit den Lehrern trat, wenn irgendetwas vorgefallen war, er vertrat die Schülerschaft wie ein Anwalt und er ärgerte sich mit Querulanten wie Lucien Walace herum, die es liebten, ihn an den Rand des Ausrastens zu bringen.
Mathieu kam gut mit seinen Mitschülern aus. Doch als Überflieger würden ihn wohl die wenigsten bezeichnen. Höchstens als Primus, der in beinahe jedem Fach der Klassenbeste war, als energisch, ehrgeizig und dabei doch nett und höflich galt.
Der Jugendliche sah das ganz leidenschaftslos. Er war weder interessant noch hatte er etwas, das Leute faszinierte. Vermutlich fanden die meisten ihn langweilig, weil er zugegeben wirklich ein Streber war, der es hasste, schlechtere Noten als fünfzehn Punkte zu erhalten. Er hatte den Ehrgeiz, das Abitur mit mindestens achtzehn Punkten abzuschließen, denn er wollte das schriftliche Lob der Lehrerschaft für diese Leistung. Das würde sich in seinen Bewerbungen für die Universität unheimlich gut machen.
Er machte sich nicht die Hoffnung, einen perfekten Abschluss, sprich zwanzig Punkte, zu erreichen, obwohl es toll wäre. Doch das hatte in der Geschichte seiner Schule ohnehin noch nie jemand geschafft.
Die Sonnenlicht war bereits etwas schwerer geworden, als er aus dem Gebäude trat. Es war noch immer sommerlich warm und der salzige Geruch des Meeres lag in der Luft. Doch das Licht hatte sich verändert, die Schatten waren tiefer und länger geworden. Man spürte, dass der Sommer seinen Abschied nahm und es bald ungemütlich und herbstlich werden würde.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, schulterte Mathieu seinen Rucksack und trat den Heimweg an. Da er bereits siebzehn und in der Oberstufe war, waren die Zeiten, in denen seine Eltern ihn abgeholt hatten, lange vorbei. Sein Vater war ohnehin der Meinung, er wäre alt genug, um selbst auf sich aufzupassen. Bei seiner jüngeren Schwester Celeste machte sein Papa allerdings eine Ausnahme, obwohl sie nur ein Jahr jünger war als er. Doch sie war halt das Prinzesschen. Das war Mathieu gewöhnt.
Während er allein durch die Menschen auf der Straße wanderte, grübelte der Jugendliche über wichtigere Dinge - zum Beispiel, wie er Lucien Walace dazu bekommen würde, ihm die fällige Entschuldigung für den heutigen Tag zu bringen.
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»Hau’ ab, Grantaine. Kannst du um diese Uhrzeit nicht jemand anderen nerven als mich?«
Lucien war noch nicht einmal ganz durch das Tor auf das Grundstück der Schule getreten, als der blonde Schulsprecher ihn überfiel.
Dieser zuckte jedoch einen Moment zurück, bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte und starrte den Jungen ihm gegenüber an.
»Du ... du weißt, dass die Haarfarbe gegen die Schulregeln verstößt, ja?«
Lucien fuhr sich mit seinen schlanken Fingern durch die inzwischen etwas dunkleren, karmesinroten Haare und schmunzelte. »Und was willst du dagegen unternehmen, Minou?«
»Ich werde dich melden, ist doch klar.« Mathieu weigerte sich beharrlich, den schmählichen Spitznamen, der ‚Miezekätzchen’ bedeutete, auch nur weiter zu beachten.
»Tut dir eigentlich nicht der Rücken weh von dem Stock in deinem Arsch?«
»Regeln sind Regeln, Lucien. Und die gelten nicht nur für einige von uns, sondern für alle!«
Der rothaarige Junge betrachtete Mathieu einen Moment lang schweigend, der ihn mit seinen bernsteinfarbenen Augen förmlich zu durchbohren schien.
»Von mir aus, geh zur Direx«, murmelte er schließlich und setzte seinen Weg einige Schritte fort, bevor er sich noch einmal umwandte, »doch nimm’ nicht alles zu ernst. Wer sich immer nur von Regel zu Regel hangelt, der verpasst sein Leben.«
Mit verkniffenem Gesicht drehte Lucien Mathieu den Rücken zu und ließ ihn stehen, verbissen die Zähne aufeinander beißend, damit niemand bemerkte, wie die von ihm selbst gesprochenen Worte ihn getroffen hatten. Er würde nicht eine Minute mehr damit verschwenden, die vom Schulsprecher so geheiligten Vorschriften allzu ernst zu nehmen. Es würde Mathieu gar nichts bringen, zur Direktorin zu gehen, da diese selbst ihm, Lucien, ja die Haarfarbe erlaubt hatte. Und auch sonst, hinter ihrer bärbeißigen Fassade, anscheinend viel weicher war als sie tat.
Sich die Stirn reibend marschierte der Jugendliche geradewegs auf den Fahrradunterstand zu, bei dem er sich immer mit seinem besten Freund Etienne traf und die Pausen verbrachte. Und wie immer saß der große und viel älter wirkende Junge bereits auf der alten Bank, die langen Beine elegant übereinander geschlagen und kritzelte in einem Notizbuch herum.
Lucien musste grinsen. Etienne hatte mausgraues Haar und der Jugendliche erinnerte sich noch daran, dass dessen Eltern eine Bestätigung anbringen mussten, dass diese Farbe natürlich und nicht gefärbt war. Denn dann wäre es verboten gewesen.
»Salut«, platzte Lucien in die kreativen Gedanken seines geistesabwesenden Freundes, der den Kopf hob und offenbar erst einmal realisieren musste, wo er sich befand. Etienne konnte in seinen Geist abtauchen wie niemand anderer. Doch als er seinen Kumpel erblickte, gingen seine grünen Augen auf.
»Salut ... was hast du denn mit deinem Haar gemacht?!«
»Cool, huh?«
Der Jugendliche nickte versonnen. »Aber Mathieu wird dich zusammenstauchen.« Sie alle kannten die schon nervtötende Art der Regelliebhaberei des Schulsprechers, der in ihrem Jahrgang war und einige Unterrichtsstunden mit ihnen gemeinsam hatte.
»Hat er schon versucht. Am Tor. Der soll mir den Buckel runterrutschen.«
»Und wenn die Direktorin dich zwingt?«
Lucien setzte sich und zupfte sich den dünnen Schal vom Hals. Obwohl es noch Sommer war, fand er das Teil todschick. Er hatte es von seinen Eltern zum Geburtstag bekommen, es war aus Monaco.
»Wird sie nicht. Ich war gestern schon bei ihr deswegen.«
Etienne verstaute das Buch in seinem Rucksack. »Ich dachte, du hättest geschwänzt.«
»Hab ich auch ... na ja ... eigentlich wollte ich nur Französisch schmeißen und zu Mathe wiederkommen, aber ich war kaum drin, da wurde ich schon zu ihr zitiert«, Lucien kicherte, »die Haare waren gestern rot wie ein Feuermelder. Sogar meine Maman wurde hergerufen.«
»Und sie hat dir erlaubt, die so zu lassen? Mann, meine Eltern hatten tierische Rennerei wegen meinen damals und die sind nicht mal künstlich«, Etienne schmunzelte, was ihn sehr vornehm aussehen ließ.
»Ja, hat sie.«
»Will ich wissen, wie du sie davon überzeugt hast?«
Lucien brummte gleichmütig. Er wusste, dass er es seinem besten Freund schuldig war, ihn einzuweihen. Denn er würde unmöglich für den Rest seines Lebens verhindern können, dass Etienne bemerkte, dass mit Lucien etwas nicht stimmte. Und auch seinen Tod würde er schwerlich verheimlichen können. Sein Kumpel war so sensibel, dass er beinahe in der Lage war, Luciens Gedanken zu lesen. Er würde es niemals geheimhalten können. Und das wollte der Jugendliche auch nicht. Er brauchte jemanden, mit dem er über seine Ängste reden konnte. Jemand anderen als seine Eltern, die bei jeder Gelegenheit zu weinen anfangen würden.
Doch konnte er Etienne damit belasten? War das fair von ihm, ihn dieses Geheimnis tragen zu lassen?
»Was geht in dir vor?«, drang die sanfte Stimme in Luciens Ohr und dieser lächelte leicht. Die dünne Haut Etiennes hatte ihn auch dieses Mal wieder durchschaut. Der rothaarige Junge seufzte und wandte den Blick zu seinem Freund.
»Ich will dich nicht belasten ...«
Etienne zog eine seiner hellen Augenbrauen hoch und sah besorgt aus. »Ich bin dein Freund, Lucien. Wem, wenn nicht mir, willst du denn deine Sorgen erzählen?«
Lucien nickte leicht und atmete tief durch. »Ich ... ich hab ein Glioblastom ...«, murmelte er dann.
»Das klingt nicht gut.«
Lucien schüttelte den Kopf. »Nein. Ganz und gar nicht.«
»Du weißt, mein Schwerpunkt ist Literatur, nicht Naturwissenschaften, also ... was genau ist das?«
»Ein bösartiger Hirntumor ...«
Etienne zuckte kurz und schwieg einen Moment. »Also ... wirst du operiert? Und bekommst Chemo? Hast du dir deswegen die Haare noch mal gefärbt?«
Lucien konnte nicht verhindern, dass seine Lippen zu zittern anfingen, als er erneut den Kopf schüttelte. »Nichts davon ... es ist schon zu spät ...« Er schwieg, als ihm die Stimme versagte und wandte das Gesicht ab.
»Das heißt ... du wirst ...«
»Jap«, antwortete der Junge knapp und wischte sich mit dem Schal über die Augen. »Aber hey«, zwang er sich zu einem Lächeln und einem vergnügten Ton, »noch bin ich nicht tot! Wir lassen es noch mal so richtig krachen.«
Etienne blickte auf seine schlanken Hände und seine Augen, die sonst moosgrün waren, sahen schwarz aus. Er seufzte schwer und zog die Nase hoch.
»Tut mir leid«, murmelte Lucien, doch der Andere hob den Kopf und schaute ihn überrascht an.
»Was?«
»Ich hab doch gesagt, ich will dich nicht belasten.«
»Das ist doch Unsinn. Meinst du, ich will davon überrascht werden? Eines Tages zur Schule kommen und von einem Lehrer erfahren, dass du gestorben bist? Nein! Nein, du hast Recht. Noch bist du hier und wir ... wir ... machen das Beste draus.«
»Behalt’s für dich, ja?«
»Ist doch Ehrensache. Also ... hat die Direx dich deswegen die Haare nicht umfärben lassen?«
Lucien nickte. »Ich hab drauf bestanden. Denn was will sie machen? Mich von der Schule werfen? Spielt eh keine Rolle mehr. Ich bin freiwillig hier. Keinen Bock, zuhause zu versauern.«
Etienne, der wesentlich weniger Schwierigkeiten hatte, seine Gefühle zu zeigen, zog ein elegantes Taschentuch aus seiner Hosentasche, rieb sich die Augen trocken und putzte sich die Nase.
»Ich wette, du hast stattdessen jetzt richtig Lust auf Madame L’Herbier und zwei Stunden Geschichte, hm?«
Lucien lächelte. »Ehrlich gesagt ja. Auch wenn es nichts ändert, ich fühle mich ... leichter jetzt.«
»Und ich tonnenschwer. Aber wir teilen die Last. Das haben wir doch immer getan.«
Der Rothaarige nickte. Das stimmte. Auch wenn sie sich erst seit dem Collége kannten, als Etienne zu Beginn der achten Klasse zu ihnen wechselte, hatten sie früh gemerkt, dass sie einander mochten. Er stammte aus der Nähe von Paris und seine Eltern waren damals aufs Land gezogen, wo sie noch immer lebten. Etienne besuchte seine Familie seitdem normalerweise jedes dritte oder vierte Wochenende sowie über die Ferien und wohnte unter der Woche im Internat in Biarritz. Inzwischen hatte er sich an die strengen Regeln dort gewöhnt, doch zu Beginn hatte er sehr unter der Trennung von seinem Zuhause gelitten und kam im Wohnheim nicht zurecht.
Es war Lucien, der ihm über die erste schwere Zeit hinweggeholfen hatte und diesen Gefallen würde der hochgewachsene Jugendliche jederzeit erwidern.
»Na dann lass uns lieber reingehen, damit Mathieu uns nicht aufschreibt.«
»Der wird mich heute eh noch nerven. Ich hab gestern vergessen, mir ein Entschuldigungsschreiben aus dem Sekretariat mitzunehmen und daheim unterschreiben zu lassen.«
Mit einem Grinsen im Gesicht betraten beide Jungen das Schulgebäude.